Bei seinem auf zwei Stunden monatlich beschränkten Umgangsrecht hielt der Vater heuer im Juli dem amtlicherseits angeordneten Umgangsbegleiter ein Messer entgegen, entwendete dessen Handy, schnappte sich die Kinder, verschwand Richtung Wald und übernachtete mit ihnen auf einem Jägerstand. Erst am nächsten Tag brachte er sie zu seinen Großeltern. Gestern stand der psychisch angeknackste 30-Jährige vor der Zweiten Strafkammer am Landgericht Traunstein mit Vorsitzendem Richter Erich Fuchs. Das Ergebnis: Eineinhalb Jahre Freiheitsstrafe, unter Auflagen ausgesetzt auf drei Jahre zur Bewährung.
Misstrauisch, zurückgezogen, verschlossen – so umriss der psychiatrische Sachverständige, Dr. Stefan Gerl vom Bezirksklinikum in Gabersee, den aus Kasachstan stammenden, 1995 mit den Großeltern nach Deutschland eingereisten Angeklagten. Genauso gab sich der 30-Jährige gestern. Mit sehr leiser Stimme gab er karge Antworten, hatte häufig »keine Ahnung«, verweigerte auf konkrete Fragen die Aussage.
Gutachter diagnostizierte eine Persönlichkeitsstörung
Der Gutachter attestierte dem Mann, der schon zweimal in stationärer Behandlung war und über Jahre unter gesetzlicher Betreuung stand, »schwere Auffälligkeiten über Jahre hinweg«. Unter anderem wurde er mehrmals gegenüber den Großeltern, die ihn im Alter von 13 Jahren adoptiert hatten, handgreiflich. Seine Ehefrau stellte einen Antrag nach dem Gewaltschutzgesetz, weil sie sich verfolgt und bedroht fühlte. Dr. Gerls Diagnose lautete auf »eine kombinierte Persönlichkeitsstörung mit überwiegend schizoiden, paranoiden und dissozialen Zügen«. Die Schuldfähigkeit des 30-Jährigen sei erheblich eingeschränkt, aber nicht aufgehoben gewesen.
Beim Thema Alkohol – der Angeklagte hatte behauptet, vorher eine 0,7-Liter-Wodka-Flasche fast geleert zu haben – sprach der Sachverständige von höchstens enthemmender Wirkung. Dr. Gerl regte ambulante nervenärztliche Konsultationen im Fall einer Strafe mit Bewährung an, dazu medikamentöse Behandlung und Anbindung an einen sozialpädagogischen Dienst. Wichtig sei eine Tagesstrukturierung. Der Hintergrund: In vier Jahren hat der Angeklagte insgesamt nur vier Monate gearbeitet, in der übrigen Zeit angeblich »Arbeit gesucht«. Seine Frau, er und die Töchter lebten von Sozialhilfe.
Der Angeklagte ließ gestern oft seine Verteidigerin, Petra Behnisch aus Traunreut, reden. Sowohl ihr Mandant als auch die Großeltern hätten die Mädchen geliebt. Die Oma habe am 20. Juli nicht zum Spielplatz mitgehen können. Deshalb habe der 30-Jährige kurzfristig beschlossen, die Kinder zu den Großeltern zu bringen. Der Umgangsbegleiter habe ihn am Spielplatz mit den Mädchen allein gelassen, sich auf eine Bank gesetzt. Der Angeklagte habe sich beim Aufsammeln von Glasscherben verletzt. Danach habe er »eine Erinnerungslücke« beziehungsweise wolle er dazu nichts sagen – so die Anwältin. Die Kinder seien freiwillig mitgegangen. Die Nacht auf dem Hochstand hätten die Kinder als »Abenteuer« betrachtet. Keinesfalls habe er die Kinder dauerhaft entziehen wollen. Der 30-Jährige bedauerte: »Ich war betrunken, ich wollte niemand was tun.«
Beide Mädchen haben große Angst gehabt
Eine Jugendamtsvertreterin betonte, die Kinder hätten sich seit der Unterbringung in Pflegefamilien positiv entwickelt, seien aber noch immer traumatisiert. Grund für die früheren Missstände seien die »phlegmatische Mutter« und der psychisch auffällige Vater. Beide hätten gesagt: »Der Kindergarten muss was tun.« Der aktuellen Pflegemutter erzählten die Mädchen, sie hätten sich vom Vater losreißen wollen, es aber nicht geschafft. Sie hätten »in einer kleinen Hütte mit Leiter« und frierend ohne Decken auf dem Boden geschlafen. Beide hätten »große Angst« gehabt.
Ein Mädchen fürchte sich vor Messern und »dass der echte Papa ihr was antut«, schilderte die Pflegemutter. Unter den Zeugen war der Umgangsbegleiter, der nach seinen Worten damals »eine Scheißangst« hatte. Er verneinte einen direkten Angriff mit dem Messer. Unter dem Strich habe er alles gut verarbeitet, sei aber noch »ziemlich nervös«. Er sei wieder als Umgangsbegleiter tätig, gehe jedoch »nicht mehr auf diesen Spielplatz«.
In Sachen »Kinderentziehung« waren sich alle Prozessbeteiligten einig. Staatsanwalt Dr. Martin Freudling verwies auf »die extremen Vorbereitungshandlungen« des Angeklagten, beispielsweise durch Kauf des Messers, eines Zelts und eines Kinderanhängers. Der 30-Jährige sei außerdem der schweren räuberischen Erpressung schuldig. Eine Gesamthaftstrafe von vier Jahren sei angemessen. Im Falle einer Strafe von unter zwei Jahren sei Bewährung »unvorstellbar«.
Verteidigerin Petra Behnisch verneinte »einen großartigen Plan«. Der Vater habe nur seine Kinder sehen wollen. Sie plädierte hinsichtlich des Umgangsbegleiters auf gefährliche Körperverletzung und insgesamt neun Monate Strafe mit Bewährung unter entsprechenden Auflagen. Das Gericht gelangte zu zweifacher Kinderentziehung und Nötigung des Umgangsbegleiters. Den 30-Jährigen unterstellte die Kammer einem Bewährungshelfer. Der Täter muss sich außerdem unverzüglich in nervenärztliche Behandlung begeben, seine Medikamente nehmen und einen örtlichen Sozialdienst aufsuchen.
Der Vorsitzende Richter hob heraus, Kinder und Umgangsbegleiter seien massiv geschädigt worden. Zum Nachteil für den Angeklagten hätten vor allem die erheblichen Folgen bei den Kindern gereicht. Das Gericht entließ den 30-Jährigen aus der Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft prüft, ob sie Revision einlegt. kd