»Eigentlich hat es schon mit neun Jahren angefangen bei mir«, sagt Alfred. Seine Familie gibt ihn weg, er wächst bei fremden Leuten auf einem Bauernhof im Allgäu auf. Dort gibt es selbst gemachten Johannisbeerwein. »Wenn die Flasche leer war, habe ich angeboten, eine neue aus dem Keller zu holen.« Die Reste aus der Flasche trinkt Alfred heimlich, »um das Heimweh zu dämpfen«.
Als junger Mann konsumiert er dann Bier und Schnaps, um mutiger und selbstbewusster zu sein. »So wurden mir die Hemmungen genommen und ich traute mich, Frauen auf unseren Tanzveranstaltungen im Ort anzusprechen. Die fanden immer mittwochs und samstags statt.« In dieser Zeit entwickelt er eine geistige Abhängigkeit von Alkohol, wie er heute weiß – »wenn du trinkst, bist du mutig« brennt es sich bei ihm ein. Doch seine Sucht ist ihm nicht bewusst und er will sie auch nicht wahr haben. »Wenn mich jemand darauf angesprochen hat, dass ich einen eigenartigen Umgang mit Alkohol pflege, dann wurde ich richtig sauer.«
Mit Mitte 20 trinkt Alfred dann jeden Tag. Und das über mehr als zehn Jahre hinweg. »Ich brauchte permanent meinen Alkoholpegel. Es gab in dieser Zeit keinen Tag, an dem ich nichts trank.« Zur geistigen Abhängigkeit kommt nun die körperliche. »Ich musste nachts aufstehen und einen Obstler oder einen Whiskey trinken, damit die Krämpfe im Bauch und das Zittern aufhörten.« Seine Frau droht ihm immer wieder, ihn zu verlassen, wenn er nicht mit dem Trinken aufhöre. Passiert ist viele Jahre nichts. Doch dann steht sie plötzlich mit einem neuen Mann vor Alfred und setzt ihn vor die Tür.
Trotzdem trinkt er munter weiter. »Jetzt erst recht, keiner schimpft mehr,« denkt sich Alfred. Nun geht es immer weiter bergab mit ihm. Er verliert zum zweiten Mal seinen Führerschein wegen Alkohol am Steuer, eine weitere Partnerschaft geht in die Brüche und seine Firma droht ihm mit Entlassung. Alfred leidet in der Zeit an starken Depressionen. Irgendwann, nach einer tagelangen Sauftour, kommt die Wende. »Ich konnte nicht mehr, ich war fertig«, erinnert sich Alfred. Er beschließt, zu den Anonymen Alkoholikern (AA) zu gehen. Von einem auf den anderen Tag hört er auf zu trinken. Er fällt vier Tage in ein Entzugsdelirium. »Davon weiß ich so gut wie gar nichts mehr. Nur, dass ich immer wieder irre Dinge gesehen habe, etwa riesige Fliegen, die auf mein Bett gekrabbelt sind,« sagt Alfred rückblickend. »Ich hätte sterben können, das hat mir mein Arzt später gesagt.« Denn so ein Entzug sollte eigentlich medizinisch betreut werden.
Vor gut 30 Jahren hat Alfred zum letzten Mal Alkohol getrunken, trotzdem sucht er bis heute seine Reiseziele danach aus, ob es an dem Ort eine AA-Gruppe gibt. Denn die Sorge, dass ihn etwas aus der Bahn wirft und er wieder zur Flasche greift, ist nach wie vor groß. Dreimal die Woche besucht der 70-Jährige die AA-Treffen in Traunstein und Traunreut. »Entscheidend ist, jeden Tag wieder aufs Neue, das erste Glas stehen zu lassen.« Und so beginnt auch sein tägliches Morgenritual. Er bittet darum, stark genug zu sein, keinen Alkohol zu trinken. Und abends bedankt er sich, es geschafft zu haben.
Ein Leben ohne Alkohol hat sich auch Tanja* nicht vorstellen können. Auch sie besucht regelmäßig die AA-Treffen in Traunstein. »Es gab tausend Gründe, um zu trinken: Freude, Wut, die blöde Schwiegermutter, der doofe Chef ...«, sagt sie. Schritt für Schritt hat Tanja lernen müssen, die täglichen Schwierigkeiten ohne Wein und Whisky zu bewältigen. »Und noch etwas habe ich bei den Anonymen Alkoholiker gelernt: sich einzugestehen, dass ich an einer unheilbaren, fortschreitenden Krankheit leide, die jedoch zum Stillstand gebracht werden kann. Ich entscheide jeden Tag, ob ich leben oder sterben will«, betont Tanja.
Für die meisten AA-Mitglieder sind die regelmäßigen Meetings lebenswichtig, auch wenn sie schon Jahre trocken sind. In Traunstein treffen sich die Anonymen Alkoholiker seit 1973 – also seit 50 Jahren – um miteinander Erfahrung, Kraft und Hoffnung zu teilen. Die Zusammenkunft ist jeden Freitag von 19 bis 20.30 Uhr im Pfarrheim St. Oswald »Willkommen ist jeder, der den Wunsch hat, mit dem Trinken aufzuhören«, sagt Alfred.
Das erste Glas stehen lassen!
Das erste Glas stehen lassen – darum geht es den Anonymen Alkoholikern (AA). Die Interessengemeinschaft ist Anlaufstelle für Menschen, die mit dem Trinken aufhören wollen, aber auch für deren Angehörige. In Deutschland gibt es sie seit 70 Jahren, in Traunstein seit 50 Jahren.
Dem Suchtmediziner Markus Backmund zufolge sterben in Deutschland jährlich rund 75.000 Menschen durch Alkohol, die Hälfte davon durch Unfälle wie einen Sturz. Alkoholsucht sei eine tödliche Krankheit, stellt er klar. Anders aber als etwa Krebskranke könnten sich Alkoholsüchtige selbst dafür entscheiden, ohne die Krankheit zu leben.
Problematisch sei, dass das Trinken von Alkohol bagatellisiert werde. Mit Blick auf das Oktoberfest sagt Backmund: »Wir organisieren die größte Massenintoxikation der Welt jedes Jahr und nehmen gesundheitliche Schäden und Todesfälle in Kauf.«
Um den Schritt aus der Sucht heraus zu schaffen, seien unter anderen Freiwilligkeit wichtig und die Erkenntnis, dass man ein Problem hat. Klar definieren lasse sich Alkoholsucht nicht. Aber wenn jemand ständig ans Trinken denke, sich selbst frage, ob er zu viel trinke, die Dosis steigere, ein Verlangen nach Alkohol empfinde und gar Verpflichtungen vernachlässige, dann seien das Hinweise auf eine Abhängigkeit.
Die Anonymen Alkoholiker wurden 1935 von zwei Amerikanern gegründet. Der Börsenmakler und der Chirurg hatten festgestellt, dass ihr Zwang zu trinken schwand, sobald sie offen über ihre Krankheit, ihre Ängste, Nöte und Probleme sprachen. Die weltweite Gemeinschaft zählt in etwa 185 Ländern über zwei Millionen Mitglieder. Die Anonymen Alkoholiker sind kein Abstinenzlerverein. Sie ziehen keinen Feldzug gegen den Alkohol, sondern sie sind für die Menschen da, die erkannt haben, dass sie ein Problem mit Alkohol haben und Hilfe suchen.
Das erste AA-Treffen in Deutschland fand 1953 in München statt. 70 Jahre später soll es Ende März eine Jubiläumsveranstaltung in der Landeshauptstadt geben.
Klara Reiter
*Namen sind der Redaktion bekannt.