»Die meisten Menschen möchten in ihrem Zuhause, in ihrer Heimat sterben. Für Menschen mit Behinderung ist das nicht selten eine stationäre Einrichtung oder eine Wohngruppe«, erzählt Donata Beckers, Gründerin des Stiftungsfonds Heilwig. Heilwig, das ist die verstorbene Schwester von Beckers und Namensgeberin der Stiftung.
»Meine Schwester wurde mit dem Downsyndrom geboren und lebte in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung im Berchtesgadener Land«, erzählt Beckers. »Sie war ein echter Feger, hatte eine positive Lebenseinstellung. Sie erkrankte mit 46 Jahren an Demenz, was bei Menschen mit Downsyndrom leider oft schon in diesem Alter auftritt. Dazu kamen noch Epilepsie und zuletzt eine Bronchitis. Als klar war, dass sie sterben würde, behielt sie trotzdem ihre Tapferkeit. ›Das mache ich schon!‹, waren die letzten zusammenhängenden Worte, die sie vier Wochen vor ihrem Tod zu mir sagte. Diese Zuversicht, die aus ihrer seelischen Tiefe kam, ermutigte mich einmal mehr, ihre letzte Lebensphase geborgen, möglichst schmerzfrei und würdevoll zu gestalten.«
In diesem Ansinnen ging Beckers schon frühzeitig einen ungewöhnlichen Schritt. »Mir war klar, dass die Diagnose Demenz Heilwigs Lebenszeit begrenzen würde. Deshalb habe ich als ihre gesetzliche Betreuerin bereits ein Jahr vor ihrem Tod eine sehr ausführliche Patientenverfügung verfasst, die ihr unter anderem ein Sterben im vertrauten Umfeld ermöglichen sollte.«
Damit alle beteiligten Personen und Professionen diese Patientenverfügung mittragen konnten, legte sie den Gestaltungsprozess für alle offen und bezog die Mitarbeiter der Einrichtung und den Hausarzt mit ein. Außerdem holte sie für sich und die anderen fachlichen Rat ein beim Netzwerk Hospiz, das in den Landkreisen Berchtesgadener Land und Traunstein schwerst kranke und sterbende Menschen ambulant palliativ versorgt.
Denn wenn das Lebensende naht, endet nicht der Anspruch auf Behandlung. Es wandelt sich vielmehr das Therapieziel: Nicht mehr die Heilung der zugrunde liegenden Erkrankung, sondern ein größtmöglicher Erhalt der Lebensqualität rücke in den Fokus. Die Gesamtheit der dazu geeigneten Maßnahmen bezeichnet man als palliative Versorgung.
Ambulante Maßnahmen
»Um optimale palliative Versorgung zu erhalten, muss man nicht zwangsläufig ins Krankenhaus«, erklärt Beckers. »Man kann diese Maßnahmen auch ambulant in Anspruch nehmen, von zu Hause aus. Dieses Zuhause kann auch eine stationäre Einrichtung sein, wie zum Beispiel ein Pflegeheim für Senioren oder die Behinderteneinrichtung meiner Schwester. Das Angebot ist für die Patienten kostenlos. Vielen Menschen ist diese Möglichkeit gar nicht bewusst.«
Als der Tod von Heilwig bevorstand, verzichtete die Einrichtung deshalb auf eine Krankenhauseinweisung und ging aufgrund der vorausschauenden Planung von Beckers diesen ungewohnten Weg mit – entgegen der bisherigen Praxis.
Hier seien der Hausarzt und das Netzwerk Hospiz mit einem multiprofessionellen Team aus speziell ausgebildeten Ärzten, Pflegekräften, Sozialarbeitern und Seelsorgern wichtige Stützen, indem sie über die natürlichen Prozesse am Lebensende aufklären und die Begleitbeschwerden von Heilwig lindern würden.
Auch Heilwigs Mitbewohner, allesamt selbst Menschen mit Behinderung, wurden in den Sterbeprozess eingebunden. Heilwig war nicht einfach weg – ihre Tür blieb offen, die Mitbewohner kamen, neugierig, zum Gucken, Handhalten, Begreifen, Verabschieden.
»Indem Heilwigs Sterben sichtbar war, bekam es eine Natürlichkeit, wurde irgendwie ein Teil des Lebens. Ich kam regelmäßig mit meiner Hündin Momo vorbei, einmal gab es Pizza für alle«, erinnert sich Beckers. »Als Heilwig starb, malte eine Mitbewohnerin ein Aquarell dieser Erfahrung. Heilwigs Leichnam wurde drei Tage lang in der Einrichtung aufgebahrt, in einem extra dafür eingerichteten Raum. Die Sichtbarkeit und Normalität von Heilwigs Tod half uns allen bei der Verarbeitung ihres Verlusts. Und Heilwig konnte in Frieden gehen, optimal versorgt, umgeben von lieben Menschen, in ihrem vertrauten Umfeld.«
Fonds gegründet
Getragen von dieser Erinnerung gründet Donata Beckers, selbst Sozialarbeiterin und Palliative-Care-Fachkraft, im Jahr 2019 den Stiftungsfonds Heilwig, im Gedenken an ihre Schwester. »Der geborgene Abschied, den Heilwig erleben durfte, soll auch in anderen Einrichtungen für Menschen mit Behinderung möglich werden«, erklärt Beckers das Ziel ihres Engagements. »Dazu will der Stiftungsfonds Heilwig die nötige Aufklärung leisten.«
Um diese Informationsarbeit voranzutreiben, hat Beckers in Kooperation mit dem Netzwerk Hospiz eine Stelle geschaffen: Seit Oktober 2019 unterstützt Andrea Mitterhuber die Stiftung als Koordinatorin. Mitterhuber, die selbst als Heilerziehungspflegerin im Schwerbehindertenbereich tätig ist, verstehe die Berührungsängste der Mitarbeiter aus eigener Erfahrung und könne ihnen somit gut begegnen. Der Auftakt für die persönliche Zusammenarbeit vor Ort fand in den ersten Einrichtungen bereits statt, wurde aber im Frühjahr 2020 durch die Corona-Pandemie jäh unterbrochen.
»Die Implementierung und der Ausbau von Palliative- Care für Menschen mit Behinderung liegen uns aber weiterhin sehr am Herzen«, berichtet Mitterhuber. »Da weitere Treffen bis auf Weiteres nicht möglich sind, wollen wir vorerst auf anderem Wege versuchen, mit interessierten Einrichtungen und Personen in Verbindung zu bleiben. Über ein regelmäßiges Infoschreiben werden wir uns einzelnen Themen widmen und auch Weiterbildungen und Schulungen bekannt machen.«
Für 2021 setzt der Stiftungsfonds außerdem einen besonderen Anreiz: Um die Behinderteneinrichtungen zum Thema Hospiz- und Palliativversorgung zu stärken, übernimmt er die Kursgebühr zur Palliative-Care-Weiterbildung für eine Pflegekraft. Voraussetzung dafür ist die abgeschlossene Ausbildung in einem Pflegeberuf.
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