Spätherbst auf der Insel. Der Trubel, der hier im Sommer herrscht, ist vorbei; auf dem Weg vom Dampfersteg zum Schloss begegnen uns nur zwei Menschen. Die Sonne steht tief, das Laub ist knöcheltief und leuchtet in allen Farben. Es ist ruhig geworden auf der 240 Hektar großen Insel. Vor dem Königsschloss, wo es im Sommer vor Menschen nur so wimmelt, stehen gerade einmal ein Dutzend Personen.
Was für ein Kontrast zur Hauptsaison: Da werden täglich bis zu 4000 Menschen durch die Prunkräume König Ludwig II. geschleust; jeweils 50 in einer Gruppe. Bis zu zehn Gruppen gleichzeitig sind in den prunkvollen Gemäuern unterwegs. Das ist die Zeit, in der neben den rund 80 fest angestellten Mitarbeitern noch rund 70 Aushilfen für alle auf der Insel anfallenden Arbeiten tätig sind.
Die kleine Tür ist kaum wahrzunehmen
Die Exklusivführung für die Leser des Traunsteiner Tagblatts beginnt. Keine Angst, liebe Leser: Wir verschonen Sie vor einer Detailbeschreibung der Räume und der Kunstschätze, die wohl fast jeder von Ihnen schon einmal selbst bewundert hat. Werfen Sie mit uns vielmehr einen Blick dorthin, wo man sonst nicht hinkommt. Zum Beispiel ins Marie-Antoinette-Kabinett. Das ist ein nur etwa zwölf Quadratmeter großer Raum, der an das private Schlafzimmer Ludwigs (das mit der blauen Kugel) angrenzt. Die Besucher nehmen die kleine Tür, die dort hineinführt, kaum wahr, weil sie perfekt in die Holzwand des Schlafzimmers integriert ist.
Da steht man nun in Schutzschuhen im geheimen Zimmer für Marie-Antoinette. Üblicherweise nennt man ein solches Kabinett neben dem Schlafgemach des Königs Mätressenzimmer. Dies ist hier bei Ludwig II. aber anders, da er diesen Raum, den es in Versailles in dieser Funktion nicht gibt, nur aus Verehrung für die Ehefrau des französischen Königs Ludwig XVI. bauen und entsprechend ausstatten hat lassen. Für den bayerischen Monarchen war sie nämlich der Inbegriff einer idealen Königin, genauso wie der Sonnenkönig Ludwig XIV. für ihn der Inbegriff des idealen absolutistischen Monarchen war, dem er die großen Staatsräume in seinem Schloss gewidmet hat. Dieses Kabinett war übrigens – wie auch das ganze Schloss – überhaupt nicht zum Bewohnen gedacht. Ludwig II. soll ja im Schloss nur ein einziges Mal im Herbst 1885 für ein paar Tage übernachtet haben – und dies ist auch nicht ganz sicher, da es hierüber keine genauen Aufzeichnungen gibt.
Zurück aber zum Marie-Antoinette-Kabinett: Links und rechts der Tür zu dem kleinen Raum, der in den Farben Rosa, Weiß und Gold gehalten ist, sind große Spiegel in die Wand eingelassen. Eine Chaiselongue und ein zerschlissener Hocker vor einem Frisiertisch mit einem Spiegel dahinter an der Wand sind die einzigen Möbel im Raum. Zur Ausstattung gehört außerdem eine in der Farbe Rosa gehaltene kunstvoll gearbeitete Standuhr.
Das Kabinett ist selbst für Minigruppen eng
Warum dieses prächtige Zimmer für die Öffentlichkeit nicht zugänglich ist, liegt auf der Hand: Wie sollte man die Menschen durch die nur 60 Zentimeter breite Tür in den nur zwölf Quadratmeter großen Raum hinein- und durch die gleiche Tür wieder hinausführen? Wie sollte man Möbel, Uhr und Wände sichern und vor Berührung durch Besucher schützen? Wie sollte man das Klima so steuern, dass die Ausstattung keinen Schaden nimmt? Weil das Kabinett selbst für eine fünfköpfige Minigruppe eng ist, wird es nicht einmal bei Sonderführungen geöffnet.
Josef Austermayer und Veronika Endlicher zeigen das Zimmer fast ehrfurchtsvoll her. Dabei gibt es noch weit Wertvolleres im Königsschloss, das jährlich mehr als 400 000 Besucher anlockt. Zum Beispiel den geheimnisvollen Prunkschrank im »Ersten Vorzimmer«. Dieser Schrank, von dem es ähnliche in Versailles gibt, hat Ludwig in der heutigen Form nicht mehr gesehen. Nach dem Tod des Königs wurde er 1893 bei der Weltausstellung in Chicago von einem Millionenpublikum bewundert. Josef Austermayer ehrfurchtsvoll: »Das ist unser schönster Schrank, dessen Corpus in der sogenannten Boulle-Technik gefertigt wurde.« So bezeichnet man die Technik, Schildkrötenpanzer zu verarbeiten und mit Einlegearbeiten aus Messing bzw. Zinn zu versehen.
Dabei ist das Möbel unvollendet geblieben, denn die Medaillons sind nicht bemalt. Das liegt daran, dass der Schrank beim Tod des Monarchen noch gar nicht fertiggestellt war. Kurioserweise handelt es sich um ein Objekt ohne konkret bekannten Verwendungszweck. Sollte es zum Aufbewahren von Instrumenten dienen? Oder vielleicht Partituren von Richard Wagner aufnehmen? Sollten darin Reliquien der von Ludwig II. so hoch verehrten Bourbonen aufbewahrt werden, wie manche Historiker angesichts der im Boden installierten Zinkwanne mutmaßen? »Alles nur Spekulation«, sagt Veronika Endlicher und sperrt die Tür des Schrankes auf, die sonst immer zu ist.
Sein Innenraum ist rundum ausgelegt mit kunstvoll gelegter und gefalteter blauer Seide – sonst nichts. An manchen Stellen ist die Seide zerschlissen und die Wattierung dahinter quillt hervor. Der Zahn der Zeit nagt unerbittlich an den kostbaren Textilien, wie wir es zuvor schon im Porzellankabinett gesehen haben. Dort ist der Bezug der Prachtcouch zerrissen. Die Restaurierung allein dieser Couch würde etwa 10 000 Euro kosten, wofür Austermayer noch auf Spenden hofft.
Es kann Jahre dauern, bis sich die Türen wieder öffnen
Obwohl der Staat in Herrenchiemsee viel Eintrittsgeld einnimmt, wird nur ein kleiner Teil davon für Restaurierungsarbeiten im Königsschloss verwendet. Schließlich gibt es allein 45 Schlösser und Burgen in Bayern, von denen die meisten nur wenige Einnahmen bringen, aber auch erhalten werden müssen.
So ist man auch auf die Hilfe von Spendern angewiesen, wie zum Beispiel den Verein der Freunde von Herrenchiemsee. Er wurde vor 50 Jahren auf Initiative des unvergessenen Grassauer Arztes Dr. Franz Zech gegründet und unterstützt alle Anliegen, das Kulturgut auf der Insel zu bewahren und instand zu halten.
Veronika Endlicher schließt die Tür zum Marie-Antoinette-Kabinett und dreht den Schlüssel zweimal um. Dann macht sie auch den Prunkschrank zu und sperrt ihn sorgfältig ab. Es kann wohl Jahre dauern, ehe sich die beiden Türen wieder einmal für einen Besucher öffnen werden. Klaus Oberkandler