Erinnerungen an die entsetzliche Attacke: Zwei Erzieherinnen von Krippenkindern in Aschaffenburg, die gezielt von einem Messerstecher angegriffen worden waren, haben vor Gericht von den dramatischen Augenblicken berichtet. »Er war im Wahn und er war sehr schnell und er wusste, was er tut. Ich sag' immer, ich habe ein Stück Krieg gesehen«, sagte eine 59 Jahre alte Betreuerin am zweiten Tag des sogenannten Sicherungsverfahrens am Landgericht Aschaffenburg.
Bei dem Verfahren (Az.: Ks 104 Js 668/25) geht es weniger um die Bestrafung des Beschuldigten, der einem psychiatrischen Gutachten zufolge psychisch krank ist. Vielmehr versucht die Strafkammer, neben dem Tatablauf vor allem zu klären, ob der 28-Jährige aus Afghanistan bei dem Angriff vor rund neun Monaten überhaupt wusste, was er tat, oder womöglich schuldunfähig war.
»Ich habe ein Stück Krieg gesehen«
Die 59-Jährige wirkte bei ihrer Aussage sehr gefasst. Dank einer Therapie und viel Unterstützung von Polizei und Eltern gehe es ihr verhältnismäßig gut, sagte die Deutsche. An den Tattag am 22. Januar erinnerte sich die Frau sehr gut. »Es war ein ganz normaler Arbeitstag, mit relativ wenigen Kindern.« Fünf Mädchen und Jungen habe sie an dem sonnigen Mittwoch mit ihrer Kollegin betreut. Vor dem Mittag seien sie mit den Zweijährigen in den nahen Park namens Schöntal gegangen, um Vögel zu beobachten.
»Ungefähr auf der Hälfte des Weges stand der Beschuldigte«, sagte die 59-Jährige. »Wir sind an ihm vorbeigelaufen, und da merkte ich schon, dass er hinter uns herlief.« Der Afghane sei auffällig mit einer hellblauen Jacke gekleidet gewesen. »Ich habe mich sofort unwohl gefühlt. Als wir an dem kleinen Teich waren, stand er auch hinter mir. (...) Ich hab' mich nicht mehr getraut, umzudrehen. Ich habe mich bedrängt gefühlt, und ich hatte richtig Angst.«
Attacke unvermittelt
Die Erzieherinnen wollten daher nach eigenen Worten schnell den Park verlassen. »Wir sind nicht mehr weit gekommen«, sagte die andere Betreuerin, 48 Jahre alt. »Ich hab' dann nur bemerkt, wie jemand ganz schnell am Wagen vorbei wollte.« Sie habe gedacht, er wolle den Kindertransportwagen, in dem die fünf Kleinkinder angeschnallt saßen, überholen. »Aber leider war dem nicht so.«
Der 28-Jährige habe ein Messer gezückt und mehrfach auf einen Zweijährigen eingestochen. Die Frau sprach von einem Massaker. »Ich war dann so fassungslos, bis ich kapiert habe, was da passiert. (...) Das war entsetzlich.« Ihre Kollegin sagte: »Wir haben geschrien wie die Bekloppten.«
Erzieherin stellte sich Angreifer entgegen
Nach Erkenntnis der Ermittler stellte sich die 59-Jährige dann dem Angreifer entgegen, ihre Kollegin schob den Wagen mit den Kindern weg. Der Beschuldigte stieß die 59-Jährige allerdings zu Boden, sie brach sich ein Handgelenk.
Die Frauen - beide haben braune, lockige Haare - arbeiten auch dank ihrer Therapien mittlerweile wieder in der Kinderkrippe. »Wir haben es aufgearbeitet. Wir waren im Schöntal, dass da nichts offen bleibt«, sagte die 59-Jährige. Mit den Kindern gingen sie allerdings nicht mehr in den Park.
Zwei Tote
Bei dem Angriff starb neben einem zwei Jahre alten deutschen Jungen marokkanischer Herkunft auch ein 41-jähriger Deutscher, der den Kindern helfen wollte. Ein zweijähriges Mädchen aus Syrien wurde wie ein weiterer Helfer (damals 72) durch Messerstiche verletzt.
Der heute 73-Jährige kann sich anders als die Frauen nur noch bruchstückhaft an den Angriff erinnern. »Ich will nichts davon wissen«, sagte der Deutsche, der Monate nach der Tat täglich mehrere Panikattacken hatte. Eine Traumatherapie habe er nicht gemacht, auch gehe er trotz seiner nach wie vor vorhandenen Schmerzen an der Einstichstelle nicht mehr zu Ärzten. »Ich habe das soweit verdrängen können und das relativ früh.«
Der Vorsitzende Richter Karsten Krebs sagte zu dem hager wirkenden Senioren, der sich nachweislich dem Täter in den Weg gestellt hatte: »Das war regelrecht heldenhaft.« Auch an die Erzieherinnen wandte sich Krebs: »Ich denke, dass dieser Vorfall Ihr weiteres Leben mitbestimmen wird. (...) Ich bedanke mich ausdrücklich bei Ihnen und Ihrer Kollegin für Ihr mutiges Verhalten.«
Das Verfahren soll in der kommenden Woche fortgesetzt werden. Die Staatsanwaltschaft strebt eine dauerhafte Unterbringung des geständigen Beschuldigten in einer geschlossenen Psychiatrie an.
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