Jahrgang 2018 Nummer 6

Seelenhirte mit scharfem Blick für Not und Elend

Wilhelm Löhe Wegbereiter der kirchlichen Sozialarbeit

Wilhelm Löhe wurde zum Motor der evangelischen Sozialarbeit in Bayern. (Repros: Mittermaier)
Die Diakonie in Neuendettelsau um 1905
In Neuendettelsau bekamen junge Frauen die Möglichkeit, einen Beruf auszuüben. Abbildung einer Diakonisse um 1865.

»Es ist der schwerste fluch- und segenvollste Beruf, der Beruf des evangelischen Seelenhirten«, schreibt Wilhelm Löhe 1828 als Theologiestudent. Sensibel im Kontakt mit anderen und mit zuweilen erdrückenden Ansprüchen an sich selbst, hadert der gebürtige Fürther lange, ob er den Aufgaben in seinem von Kindheit angestrebten Amt als Pfarrer gewachsen ist. Dabei waren seine Bedenken, wie er »als Mensch ohne Flügel zum hohen Thron Christi gelangen« könne, mehr als unbegründet: Mit einem scharfen Blick für gesellschaftliche Missstände und unermüdlicher Tatkraft wurde er zum personifizierten Seelsorger nicht nur seiner kleinen Pfarrgemeinde. 1854 gründete der gebürtige Fürther im mittelfränkischen Neuendettelsau die erste Diakonissenanstalt Bayerns und wurde damit zum Pionier der organisierten kirchlichen Sozialarbeit im 19. Jahrhundert, die bis heute im Diakonischen Werk fortbesteht.

Johann Konrad Wilhelm Löhe, genannt Wilhelm, kam am 21. Februar 1808 zur Welt. Vater Johann, von Beruf Kaufmann, entstammte einer seit Generationen in der Stadt ansässigen Gastwirtsfamilie, in deren Wirtshaus »Zum Grünen Baum« einst sogar Schwedenkönig Gustav Adolf gewohnt haben soll, wie Wilhelm Löhe in autobiographischen Notizen über seine Kindheit vermerkt hat. Mutter Maria Barbara war die Tochter des Fürther Handelsmanns und Bürgermeisters Adam Christoph Walthelm. Johann Löhe war zuerst mit ihrer älteren Schwester Maria Klara verheiratet, die aber schon im ersten Kindbett starb, worauf der Witwer 1789 Maria Barbara ehelichte, die neben Wilhelm noch zwölf Kinder zur Welt bringen sollte, wovon jedoch sieben früh starben. Die bei ihrer Hochzeit 19-Jährige ist tiefreligiös und erzieht ihre Kinder streng, aber warmherzig im Sinne der christlichen Lehre. Besonders Wilhelm ist von klein auf fasziniert von den kirchlichen Ritualen, und wie viele Buben der damaligen Zeit schlüpft er im Spiel nur zu gern in die Rolle des Pfarrers, der, mit seinen Schwestern als Publikum, Messen und Beerdigungen abhält. Weniger begeistert ist er jedoch von der Schule und noch weniger von den Lehrern: »Ich war erbärmlich schüchtern und zitterte vor fremder Strafe«, schreibt er später. Doch es ist nicht nur die Angst, gerügt und, den Sitten der damaligen Zeit gemäß, gezüchtigt zu werden, die ihm den Unterricht verleiden. »Ich litt von Kind auf an den Schuleinrichtungen, die für mich nicht passten. Eine freiere, auf eigentümliche Begabungen angepasste Behandlung hätte mir gewiss eine harmonischere Entwicklung ermöglicht«, kritisiert Löhe die rigiden Lehrmethoden, die damals hauptsächlich aus Vorsagen und Nachplappern des jeweiligen Stoffs bestanden.

Auch im Umgang mit Altersgenossen tut er sich sichtlich schwer: Dünn und von schwächlicher Konstitution, hasst der Pennäler nichts mehr, als mit anderen Buben herumzutoben oder sich mit ihnen im Sport messen zu müssen, was ihm die Kameraden mit dem Spitznamen »der schwindsüchtige Löhe« vergelten. Mit zehn Jahren wechselt er von der Volks- in die Lateinische Schule und bekommt nebenbei noch Privatunterricht in Fremdsprachen, Geometrie und Geige – woran er genauso wenig Gefallen findet, wie an körperlicher Bewegung.

Seine ganze Leidenschaft gilt schon damals der Religion: Täglich besucht er den Gottesdienst und ist dabei wie gefangen von den Ritualen und der feierlichen Stimmung und schon als kleiner Bub hat er nur einen brennenden Wunsch, nämlich Pfarrer zu werden. Bestärkt wird er in diesem Vorhaben durch das Leid, das er im unmittelbaren Umkreis erlebt. 1816 muss er miterleben, wie sein Vater von fürchterlichen Zahnschmerzen gequält wird, die aufs Ohr übergreifen und schließlich mit tödlichem »Hirnbrand« enden. Nach heutiger Lesart litt Johann Löhe wahrscheinlich an vereiterten Zähnen, aus denen eine bakterielle Hirnhautentzündung entstand, für die es vor der Erfindung von Antibiotikum keine Heilung gab.

Für den damals achtjährigen Buben ist es nicht das erste Mal, dass er mit schweren Krankheiten und Tod konfrontiert ist, denn vor dem Vater sind schon zwei seiner Geschwister gestorben und seine 17 Jahre ältere Schwester Anna laboriert Zeit ihres Lebens an schweren epileptischen Anfällen, bei denen Wilhelm schon als Bub helfend zur Seite stehen muss, wenn die junge Frau wieder einmal krampfend zu Boden geht und sich dort mitunter stundenlang windet, bis die Episode endlich abklingt. Dieses Leid, das er von klein auf hautnah miterlebt, wird Wilhelms Lebensweg ähnlich stark prägen wie seine Verbundenheit zum christlichen Glauben.

1821 kommt Wilhelm zu Verwandten nach Nürnberg, um das dortige Gymnasium zu besuchen, das er 1826 mit dem Abitur verlässt. Noch im gleichen Jahr beginnt er ein Theologiestudium in Erlangen, das er 1830 mit dem erfolgreichen Examen beendet. Ein Jahr später folgt die Ordination zum evangelischen Pfarrer. Der frischgebackene Seelenhirte musste nun allerdings erfahren, dass auch in Kirchenkreisen nicht immer die christlichen Werte vorherrschen, die Geistliche ihren Schäfchen gegenüber zu predigen pflegen. Obwohl er ein gern gehörter Prediger ist, den die Gläubigen als aufmerksamen Ratgeber bei ihren Sorgen und Nöte schätzen, wird er von seinen Vorgesetzten bei der Auswahl für eine ordentliche Stelle regelmäßig übergangen. In seiner Verzweiflung bittet er seinen Schwager, der einer Pfarrgemeinde in Fürth steht, um eine Stelle als Aushilfsvikar. Der greise Geistliche stimmt dem zwar zu, entpuppt sich aber schnell als eifersüchtelnder Zeitgenosse, dem das gute Einvernehmen seiner Pfarrmitglieder mit dem jungen Schwager gehörig gegen den Strich geht, was dazu führt, dass er Löhe sogar ungerechtfertigt beim Dekanat anschwärzt. 1837 erhält Wilhelm dann endlich seine langersehnte, eigene Pfarrei in Neuendettelsau, wo er bis zu seinem Lebensende bleiben sollte und die »für die Entwicklung seiner Gaben und für die Entfaltung seiner großartigen Tätigkeit« gerade der rechte Platz war«, wie es ein zeitgenössischer Biograph treffend beschreibt. Die Pfarrgemeinde ist zwar größen- und aufgabenmäßig nicht das, was sich Löhe insgeheim gewünscht hatte, doch das sollte er bald selbst ändern.

Seit Jahren schon beschäftigte sich der inzwischen mit der Frankfurter Kaufmannstochter Helene Andreae verheiratete Seelsorger mit den gesellschaftlich-politischen Verhältnissen seiner Zeit, die geprägt war von dem, was heute unter dem etwas schwammigen Begriff »Soziale Frage« zusammengefasst wird. Dahinter verbirgt sich eine ganze Reihe von Problemfeldern, die als Folge der industriellen Revolution zur Verelendung ganzer Bevölkerungsgruppen geführt haben. Staatliche Maßnahmen für Menschen in Not gab es speziell in Bayern zwar schon seit der Armengesetzgebung 1816, doch die damit verbundene Hilfe ist nicht mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein, ebenso wie auch die kirchlich organisierten Armenspeisungen und Sammelaktionen. Was damals neben finanziellen Mitteln vor allem fehlte, waren Fachkräfte, die den Menschen in einer immer komplexeren Lebenswelt im Notfall zur Seite standen sowie entsprechende Institutionen wie Krankenhäuser, Altenheime, Einrichtungen für psychisch Kranke und Behinderte sowie Schulen und Waisenhäuser.

Wilhelm Löhe schwebte vor diesem Hintergrund ein Verein vor, in dem speziell junge Frauen »für den Dienst der leidenden Menschheit« mit den Kenntnissen ausgestattet wurden, die sie für eine Tätigkeit in derartigen Einrichtungen qualifizierten, und wer keinen Beruf anstrebte, der sollte sein Wissen in der eigenen Familie und Gemeinde anwenden oder anderen Frauen vermitteln. 1854 gründete Wilhelm Löhe den »Lutherischen Verein für weibliche Diakonie in Bayern« sowie die erste bayerische Diakonissenanstalt mit Sitz in Neuendettelsau. Als Vorbilder dienten ihm seine beiden Kollegen Johann Hinrich Wichern und Theodor Fliedner und die von ihnen ins Leben gerufenen Institutionen. Wichern hatte 1833 in Hamburg das »Rauhe Haus« gegründet, eine Einrichtung, in der verwahrloste und verwaiste Kinder aus den Elendsvierteln der Stadt ein Zuhause fanden und das zum Vorbild für entsprechende Projekte in ganz Deutschland wurde. Mit der Gründung der Hilfsorganisation »Innere Mission« 1848 schuf Wichern später noch einen Dachverband, in dem diverse karitative und soziale Projekte der evangelischen Kirche koordiniert wurden. Auf Theodor Fliedners Initiative war 1836 im Düsseldorfer Stadtteil Kaiserwerth die erste Diakonissenanstalt der Welt aus der Taufe gehoben worden, die als Ausbildungsstätte für Krankenpflege und Kindererziehung bald europaweit zum Vorreiter wurde. Bis dahin hatten sich in Kranken-, Armen- und Waisenhäusern oft nur Wärter und Wärterinnen ohne jegliche Qualifikation um ihre Klientel gekümmert, was vor allem im Bereich der Krankenpflege im wahrsten Sinn des Wortes fatale Folgen hatte, denn trotz der Fortschritte zum Beispiel in der Chirurgie starben auch Mitte des 19. Jahrhunderts noch unzählige Patienten in Hospitälern und Lazaretten an Seuchen wie Cholera und Typhus, Wundbrand oder Kindbettfieber.

Die Bedeutung von Hygiene in Einrichtungen, in denen Menschen auf engstem Raum zusammenlebten, war zwar erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts umfassend bekannt, doch dass Patienten auf schnellere Heilung hoffen konnten, wenn sie von ausgebildeten Krankenschwestern betreut wurden, war auch damals schon bekannt. Darüber hinaus galten Frauen nach damaliger Auffassung der Gesellschaft als besonders geeignet für eine derartige Tätigkeit, da ihrem Geschlecht die Barmherzigkeit und Sorge für ihre Mitmenschen angeboren war. Allerdings gab es, was heute durchaus seltsam erscheinen mag, bis dahin keine Ausbildungsstätten für Krankenschwestern oder andere soziale Bereiche, was Theodor Fliedner und Wilhelm Löhe veranlasste, entsprechende Institutionen ins Leben zu rufen.

Löhe hatte zunächst gar nicht beabsichtigt, mit seiner Diakonissenanstalt eine klosterähnliche Einrichtung zu schaffen, doch es stellte sich schnell heraus, dass die Frauen nur durch eine offizielle Zugehörigkeit zu einem Mutterhaus auch den notwendigen Rechtsstatus bekamen, um in ihrer Tätigkeit außerhalb von Neuendettelsau sozial akzeptiert zu werden. Allein und nicht verheiratet, womöglich noch in fremder Umgebung zu leben und zu arbeiten, war nach den damaligen Ansichten der Gesellschaft für »anständige« Frauen nicht möglich. Als Angehörige einer Schwesternschaft waren sie dagegen vom Geruch der Unmoral befreit, wobei das Tragen einer Tracht – blaues oder schwarzes Kleid mit weißer Haube – ihre Seriosität zusätzlich unterstreichen sollte.

Der erste Jahrgang, der sich 1854 in Neuendettelsau einfand, um sich zur Krankenschwester ausbilden zu lassen, bestand aus 14 Elevinnen, von denen sechs Diakonissinnen werden und die übrigen acht nach dem Abschluss im familiären Umfeld wirken wollten. Erste Vorsteherin wurde die Memmingerin Caroline Rheineck, die in Kaiserwerth ausgebildet worden war. Neben der Lehranstalt entstanden in Neuendettelsau bald verschiedene Einrichtungen, in denen die Absolventinnen der Lehranstalt ihr Können gleich praktisch anwenden konnten. Neben mehreren Krankenhäusern gründete Löhe eine nach damaligem Sprachgebrauch »Anstalt für Blöde«, ein Magdalenen-Haus für »gefallene Mädchen«, sprich ledige Mütter, die ihren Weg zurück in die Gesellschaft finden sollten, eine Industrieschule sowie ein Rettungshaus, in dem verwahrloste Buben und Mädchen aufgenommen wurden.

35 Jahre lang sollte Wilhelm Löhe in Neuendettelsau wirken und dabei der Krankenpflege wie auch der Sozialarbeit kaum zu überschätzende Impulse geben. Der hochverehrte Seelsorger starb am 2. Januar 1872 im Alter von 64 Jahren in Neuendettelsau und ist auf dem dortigen St. Nikolai-Friedhof begraben.

 

Susanne Mittermaier

 

6/2018