»Mi Vater dä het gschwunge gar mängisch obenus«
Schwingen – der Nationalsport der Eidgenossen zählt zu den Gürtelringarten





Schon im frühesten Altertum übte der Ringkampf Mann gegen Mann auf die Menschen eine unwiderstehliche Faszination aus. Zahlreiche Darstellungen auf Wandmalereien, Steinreliefs, Roll- und Siegelbildern, nicht nur aus dem gesamten Alten Orient, bestätigen den hohen Stellenwert, den diese archaische Form der Auseinandersetzung ohne jegliche Waffen seit jeher genoss. Perser, Sumerer, Hethiter, Ägypter, Griechen, Römer – es ließe sich noch eine Reihe bedeutender Hochkulturen aufzählen, in deren gesellschaftlichem Leben der Ringkampf fest verankert war. Auch schriftliche Zeugnisse weisen darauf hin. Von direkten Kampfschilderungen berichtet das Gilgamesch-Epos aus altbabylonischer Zeit (2025 - 1595 vor Christus), wo sich Gottmensch Gilgamesch mit seinem Widersacher und späteren Freund Enkidu vor dem Tempel in Uruk einen unentschiedenen Kampf liefern.
Ringen im Alten Testament
Das Alte Testament erwähnt die Errichtung eines Gymnasiums mit Ringerschule in Jerusalem zur Zeit des Hohepriesters Jason (174 v. Chr.), ein Beispiel dafür, wie intensiv die Ringer-Eleven schon damals in der gesamten Levante zum Zwecke der (meist militärischen) Nahkampfausbildung geschult wurden.
Obwohl es bisher nur das klassisch bezeichnete Ringen mit den beiden Disziplinen Griechisch-Römisch und Freistil in die Riege der Olympischen Spiele geschafft hat, gibt es weltweit unzählige andere, traditionelle Ringarten. Sie sind zumeist nur auf ein Land oder eine Region bezogen, erfreuen sich aber aufgrund ihrer lokalen Eigenheit und unterschiedlichen Regeln nach wie vor großer Beliebtheit. Da sich ihr Ursprung weitestgehend im Dunkel der Geschichte verliert und nur durch Sagen erklärt wird, haftet an ihnen etwas Mystisches, ja Archaisches, das bis in die Neuzeit herüberschwingt.
Erste Darstellung in der Kathedrale zu Lausanne
Nicht anders verhält er sich beim Schwingen, dem Schweizer Nationalsport. Hier erzählt die Sage, »…es hätten vor langen Zeiten zwei Sennen auf der Lüderalp miteinander geschwungen. Sie kämpften den ganz langen Tag, doch keiner konnte den anderen besiegen, der Ausgang blieb schließlich unentschieden. Also nahmen sie einander beim Wort, übers Jahr am gleichen Sonntag wieder auf der Alp zusammenzukommen, um auszuschwingen, wer der Bessere sei.«
Ein ähnlicher Erklärungsversuch hält sich im Volksgut als Parallele zum Ranggeln, wo es auf dem Hundstein im Pinzgau fast genauso zugegangen sein soll.
Ausgerechnet in einem Gotteshaus, der Kathedrale in Lausanne begegnet man der ersten authentischen Darstellung des Schwingens. Sie stammt aus dem 13. Jahrhundert und zeigt zwei Kämpfer in der typischen Grifffassung bei Kampfbeginn. Diese äußere Form rückt das Schwingen in die Nähe vergleichbarer Gürtelringarten, wie sie schon im alten Ägypten bekannt waren und heute noch in der Mongolei (Boke), in Japan (Sumo), China und anderen Ländern betrieben werden.
Nachweislich kann man die Bergtäler des Oberlandes, das Emmenthal, Entlebuch und die Innerschweiz als Ursprungsgegenden bezeichnen. Was lag den Sennen auch näher, als in der Bergeinsamkeit ihre Kräfte zu messen. Von hier aus breitete sich das Schwingen, früher auch »Hosenlupf« genannt, in fast alle Kantone aus, selbst bis ins Unterland hinein. Seit Jahrhunderten zählte es zum festen Bestandteil im bäuerlichen Jahresablauf. An zahlreichen Alp- und Wirtshausfesten wurde um ein Stück Hosentuch, ein Schaf oder um andere Naturalien geschwungen. Die Kampftechnik vererbte sich von Generation zu Generation, und die Jungen (Buebe) verfeinerten ihrerseits Technik und Finten im Laufe ihres Schwingerlebens.
Darauf weist eine Strophe in einem bekannten Lied hin: »Mi Vater dä het gschwunge gar mängisch obenus, Aer lehrt mi’s o am Abe u Morge vorem Hus.«
Beide Hände gehören an das Gstöss
Ende des 19. Jahrhunderts sorgte die aufkommende Turnund Gymnastikbewegung für neue Impulse. So wurde aus dem ursprünglichen Spiel der Hirten und Bauern ein Nationalsport, der alle gesellschaftlichen Schichten umfasst. Nach Angaben des 1895 gegründeten Eidgenössischen Schwingerverbands gibt es derzeit jeweils 3000 Aktivund 3000 Jungschwinger. Zur Unterscheidung erkennt man die Turnerschwinger an der weißen Kleidung (weiße Hose, weißes Ärmelleibchen) während die Sennschwinger in dunkler Hose und farbigem Hemd antreten. Darüber tragen die Duellanten eine kurze Schwingerhose aus grobem Drillich (Leinen, Rupfern). Durch die Grifffassung mit beiden Händen ergibt sich im Kampfverlauf das typische »Schwingen« mit schnellen Hebeund Drehbewegungen, eben ein lupenreines Gürtelringen, wobei mindestens eine Hand immer am sogenannten Gstöss sein muss.
Hauptschwünge sind Kurz, Hüfter, Bur, Übersprung und der Brienzer, dessen Name auf den Herkunftsort Brienz am See verweist sowie mittlerweile an die 100 Schwünge und Finten, die im Schwinger-Lehrbuch beschrieben sind.
Unspunnen-Schwinget stärkt nationales Selbstbewusstsein
Zu einem der traditionsreichsten Wettkämpfe, dem Unspunnen- Schwinget, strömen die Massen (20000 Zuschauer sind keine Seltenheit) alle sechs Jahre auf die Höhematte von Interlaken. Im vergangenen Jahr fiel es wieder mit dem Unspunnen-Fest zusammen, das seit 1805 nur alle zwölf Jahre durchgeführt wird und als eine Art eidgenössisches Heiligtum in die Geschichte eingegangen ist. Schon deshalb, weil die Anfänge in die schwierige Zeit französischer Fremdherrschaft fielen. Mit dem Aufleben der alten Volksbräuche wollte man alle Demütigung abstreifen und das nationale Selbstbewusstsein wiedererlangen. Sogar ausländische Gesandte und Fürstlichkeiten, berühmte Dichter und Künstler wurden dazu eingeladen. Vielleicht ist auch das brachiale Stoßen des Unspunnen-Steins, einem 83,5 Kilo schweren unbehauenen Gletscherfindling, ein symbolischer Ausdruck dafür, sich der belastenden politischen Umstände von damals zu entledigen. Der Weitenrekord steht derzeit auf unvorstellbaren 4,11 Meter.
Alphörner, Jodler-Gruppen und Chöre pflegen dabei die typisch helvetische Volksmusik, Fahnenschwinger und ein Festzug geben ein farbenprächtiges Bild ab. Bei diesem Alphirtenfest messen die Schwinger Kraft und Geschicklichkeit aufgrund der großen Teilnehmerzahl auf fünf mit Sägemehl belegten Kampfplätzen.
Noch mehr Publikum zieht das Eidgenössische Schwing- und Älplerfest an, das nur alle drei Jahre abgehalten wird. Vor zwei Jahren füllten an beiden Wettkampftagen an die 60000 Zuschauer das Stadion in Estavayer, und auf dem gesamten Festgelände tummelten sich 300000 Besucher. Und das alles ohne Security. Unvorstellbar bei uns…
Wie bei allen größeren Schwingfesten wird der stolze Gewinner nicht nur mit einem Eichenlaubkranz gekrönt, sondern darf auch einen stattlichen Vierbeiner sein eigen nennen. Der Siegerstier »Mazot de Cremo«, den der amtierende Schwingerkönig Matthias Glarner vom Schwingklub Meiringen durch die Arena führen konnte, brachte immerhin 900 Kilogramm auf die Waage.
Schwingverbote in der Vergangenheit
Ähnlich wie beim Ranggeln betrachtete die Obrigkeit in den vergangenen Jahrhunderten das als unsittlich bezeichnete Treiben mit größtem Argwohn. Die strenge Sittengesetzgebung des 16. und 17. Jahrhunderts führte zwangsläufig zu Schwingverboten, da es die jungen Burschen mit der Sonntagsheiligung nicht so genau nahmen und sich an Kirchweihtagen (Kilbinen genannt) und Fasnachten lieber mit »gross tenz und allerlei spils« die Zeit vertrieben. 1592 taucht erstmals die Bezeichnung »sennen kilbinen« auf, zu dem »…schwingen, stein stoßen, singen, schießen, keiglen und mengerlei sünden…« gehörten. Im Schwarzenburgerland traf man sich seltsamerweise am Weihnachtsabend zum Schwingen. Manche Geschichtsforscher kamen auf den Gedanken, diesen Anlass mit nordisch-kultischen Bräuchen in Verbindung zu bringen. Der Berner Obrigkeit jedenfalls stieß 1611 diese Freveltat dermaßen sauer auf, dass es zu drastischen Strafen kam, weil durch »…die wynachtlichen Schwyngeten viel ungradt entstaht und zu sölcher Heiligen zytt dergleichen mutvvillen….«. Auch der Schultheiss und Rat der Stadt Bern sahen sich zu einem Verbot veranlasst, um der »großen und schädlichen berderbnus (Verderbnis) mit stäten zächen und füllereien« einen Riegel vorzuschieben, die mit dem Schwingen einherging.
Glücklicherweise hat die Aufklärung des 19. Jahrhunderts auch bei unseren südwestlichen Nachbarn ganze Arbeit geleistet. Aus dem ursprünglichen Hirtenkraftspiel der Sennen ist in der Neuzeit ein ernstzunehmender Sport geworden, der sich trotz allen Einflüssen und Medienpräsenz seine urigen und bodenständigen Wurzeln bewahrt hat: ein überzeugendes Kraftspiel der Älpler.
Ludwig Schick
Quellennachweis: Eidgenössischer Schwingerverband ESV
34/2018