Kriegsende und Revolution
Die Ereignisse vor 100 Jahren und die Situation in Stadt und Bezirk – Teil II






Bei der Landtagswahl konnte die Bayerische Volkspartei (BVP) im Stadtbereich und im Bezirk Traunstein die meisten Stimmen gewinnen, in der Stadt knapp vor der SPD, im Bezirk vor dem Bayerischen Bauernbund. Eindeutig waren die Ablehnung jeglicher extremistischer Position und die Unterstützung der bürgerlichen Parteien und der gemäßigten Sozialdemokraten.
Im Vergleich zum Traunsteiner Ergebnis zeigt sich in Grassau eine Besonderheit: Die SPD errang mit 55 % die absolute Mehrheit vor dem Bauernbund (24,7 %), während die Volkspartei relativ wenig Bedeutung hatte. Trotzdem gilt auch hier die klare Entscheidung für eine parlamentarische Demokratie und damit die Ablehnung jeglicher Radikalrevolution im Sinne der Räteherrschaft. Die Wahl der Nationalversammlung am 19. Januar brachte in Stadt und Bezirk Traunstein in Übrigen keine wesentlichen Abweichungen vom Ergebnis der Landtagswahl.
Kurt Eisner war bereit, die Konsequenz aus der Wahlniederlage zu ziehen und seinen Rücktritt einzureichen. Auf dem Weg zur Parlamentseröffnung am 21. Februar 1919 wurde er ermordet. Der Attentäter Graf Arco auf Valley gab vor Gericht als Motiv seiner Tat an: »Eisner ist Bolschewist, ist Jude, ist kein Deutscher, ist ein Landesverräter. … Ich hasse den Bolschewismus! Ich hasse die Juden! Ich bin ein guter Katholik!«
Die Ermordung Eisners und das Attentat auf den Führer der Mehrheitssozialisten und Innenminister, Erhard Auer, versetzten die Stadt Traunstein erneut in helle Aufregung. Bürgermeister Vonficht bemühte sich um Aufklärung und Verständigung. Die Rote Fahne wurde am Rathaus gehisst zum Zeichen, dass keine monarchistischen und reaktionären Bestrebungen im Gange waren, und auf Plakaten wurde erneut zur Besonnenheit und Ruhe aufgerufen. Demonstrationsverbot, Standrecht und abendliche Ausgangssperre sowie der Einsatz von Sicherheitswachen traten in Kraft.
Das Traunsteiner Wochenblatt erschien an diesem Tage in drei aufeinander folgenden Ausgaben, die den jeweilig aktuellen Nachrichtenstand aus München wiedergaben. Das Blatt konstatierte eine Hochspannung wie in den bewegtesten Tagen des Krieges.
Die Zeitung richtete einen Appell an die in der Stadt stationierten Soldaten: »Ruhig Blut! Gewalt darf niemals vor Recht gehen. Darum verabscheuen wir den Meuchelmord unter allen Umständen, an Eisner ganz besonders. Wer nur sein Bild betrachtet, musste zur Überzeugung kommen, dass er kein Abenteurer war und dieses Ende nicht verdient hat. Wir sind auch unter allen Umständen gegen jeden Versuch einer Gegenrevolution. Wir hoffen, dass eine Einheitsfront in Bayern auf sozialistischer Grundlage zustande kommt. Nur jetzt keine Missverständnisse! Keine Politik auf eigene Faust! Keine Gewalttätigkeiten! Vertraut dem Arm der Gerechtigkeit! Halt vor dem Abgrund des Bürgerkrieges! Wartet ab, was der Landtag beschließt! Lasst die neue Regierung reden!«
Franz Büttner notierte am 23. Februar 1919: »In der Stadt werden alle möglichen Gerüchte über die Revolution in München verbreitet. Es sollen gegen 200 Menschen erschossen worden sein. …. Auch hier (TS) machte sich bemerkbar, dass Spartakisten ihre Arbeit verrichten. Automobile mit roten Fahnen, von Soldaten besetzt, durchfahren die Stadt. Nachmittags 2 Uhr fährt ein Auto mit ca. 10 bewaffneten Soldaten vom Stadtplatz weg. Es soll nach München gehen. In der Stadt geht weiter das Gerücht, dass für morgen, Montag, ein Putsch geplant sei. Hierzu sollen Spartakisten von Rosenheim erscheinen. Das Traunsteiner Wochenblatt hatte in der Auslage Eisners Bild ausgestellt.«
Die Gerüchteküche kochte. Die Ursachen dafür waren sowohl materieller als auch psychologischer Natur. Denn immer wieder waren die Zug- und Telefonverbindungen nach München unterbrochen. Die Münchner Zeitungen wurden zeitweise nicht nach Traunstein ausgeliefert. Die hiesigen Zeitungen unterlagen der Zensur durch extremistische Angehörige des Grenzschutzes. Die Unsicherheit über die tatsächlichen Vorgänge in München erzeugte diffuse Ängste, die noch durch Flugblätter, auf denen zur Rache für den Eisner-Mord aufgerufen wurde, weiter anstiegen. Die Reaktion der Traunsteiner Bevölkerung auf den Mord an Kurt Eisner war aus der Sicht der katholischen Kirchenvertreter, Mesner Büttner und Pfarrer Blum, eindeutig: »Alles atmet erleichtert auf. Der junge Graf Arco von Valley hatte die heldenhafte Tat gewagt.«
Allerdings teilte nicht jeder diese Haltung. Der Ruhpoldinger Bürgermeister stellte auf seinem Schreibtisch ein Foto Eisners auf und zeigte damit seine Sympathie für den Anführer der Revolution. Als der Ortspfarrer bei einem Besuch dieses Bild sah, äußerte er verschreckt: »Du bist doch wohl nicht ein Anhänger dieses Mannes?!«. Die Gegenfrage des Bürgermeisters lautete: »Soll ich etwa ein Bild des Mörders aufstellen?«
Wieder hatten sich auf die Nachricht von Eisners Ermordung hin viele Bürger auf den Straßen Traunsteins gesammelt und die Situation und ihre Folgen besprochen. Entgegen den ersten Eindrücken herrschte keineswegs Einigkeit in der Beurteilung der weiteren politischen Entwicklung. Die einen befürchteten den Ausbruch einer Gegenrevolution, die anderen eine Radikalisierung der Revolution. Waren die Schießerei im Landtag und der Angriff auf Erhard Auer nach der Ermordung Kurt Eisners die logische Fortsetzung eines antisozialistischen Putschversuches oder die Umsetzung eines Planes zur Sprengung und Entmachtung des gewählten Landtages? Rupert Berger befürchtete die Diktatur des Proletariats und den revolutionären Umsturz zum Bolschewismus und gab seiner Empörung lautstarken Ausdruck. Am 25. Februar schrieb er: »Auch den hiesigen Spartakisten beginnt der Kamm zu schwellen. Dass sie etwas vorhaben, munkelte man schon seit der Ermordung Eisners. Hoffen sie doch von Rosenheim, wohl der radikalsten Stadt Bayerns, Zuzug und Unterstützung zu erhalten, da die Spartakisten Rosenheims die ganzen Orte der Umgebung (Wasserburg, Trostberg, Teisendorf) aufsuchten und die Macht in ihre Hände brachten.«
Der Streit um Eisner kulminierte noch einmal am 26. Februar, dem Tag seines Begräbnisses, an dem in München mehr als 100 000 Menschen teilnahmen. Glockenläuten und Beflaggung waren offiziell verordnet. Pfarrer Sprengart empörte sich: »Trauer über Eisner – den Juden.« Das Erzbischöfliche Ordinariat hatte die Genehmigung zum Trauergeläut erteilt, um Ausschreitungen zu vermeiden. In mehreren Landgemeinden wurde jedoch das Geläut verweigert. Auch der Traunsteiner Stadtpfarrer Dannegger protestierte im Schreiben an den Magistrat gegen das Läuten und verließ demonstrativ frühzeitig die Stadt. Mannschaften des Grenzschutzes übernahmen das Läuten der Glocken. Die öffentlichen Gebäude waren schwarz und rot beflaggt. Laut Verordnung waren die Geschäfte während der Trauerfeier geschlossen. Zahlreiche Bürger drückten dagegen ihr Missfallen in kritischen Kommentaren oder in passiver Verweigerung aus. Die öffentliche Atmosphäre war geprägt von Bedrohung, Verdächtigung und Angst.
In einer Sitzung der städtischen Kollegien am 27. Februar erstattete Bürgermeister Vonficht Bericht über die Vorfälle der vorausgehenden Tage. Demnach war es mit Hilfe des Grenzschutzes und dem freiwilligen Einsatz ehemaliger Kriegsteilnehmer gelungen, Plünderungen und revolutionäre Aktionen wie die Erstürmung des Rathauses und Bezirksamtes, des Amtsgerichtes und Gefängnisses zu verhindern. Zum Zeichen, dass keine gegenrevolutionäre Bewegung in Gang gesetzt werde, wurden dem Arbeiter- und Soldatenrat von den städtischen Kollegien Mitwirkungsrechte zugestanden: Einsicht in die Akten, Teilnahme an den Sitzungen. Der Traunsteiner Soldatenrat verpflichtete sich schließlich seinerseits zum Schutz der Stadt und zur Neutralität gegenüber Zentralrat und Regierung.
Unterdessen wiederholte sich in den bedrohlichen Wirren dieser Tage eine Episode, wie sie sich am 7. November beim Ausbruch der Revolution ereignet hatte. Ludwig III. war damals mit einem Teil der königlichen Familie aus Furcht vor den Revolutionären nach Wildenwart, später weiter nach Anif, geflohen. Jetzt flüchtete der bayerische Prinz Georg (Neffe Ludwig III. und Cousin des Kronprinzen Rupprecht) aus München und suchte auf dem Schlossgut Major Czermaks in Ising Unterschlupf: »Die Landung auf dem Felde in der Nähe des Schlosses erfolgte glatt. Nach kurzer Zeit erschien Major Czermak, gar nicht überrascht, mich hier zu sehen, da ihm sein Sohn telephonisch eine Andeutung gemacht hatte, aus der er schloss, dass entweder Rupprecht oder ich kommen würde. Während der Apparat wieder startbereit gemacht wurde, verzog ich mich auf Czermaks Wunsch in den Wald, sodass die zahlreich zusammengelaufene Bevölkerung gar nicht merkte, dass einer der Insassen zurückblieb. Im Schloss angekommen, wurde ich von der Hausfrau auf das Herzlichste begrüßt, während der Hausherr mir mit Wäsche, Stiefeln usw. aushalf.« Der Prinz blieb bis zum 18. März in seinem Isinger Versteck.
In der Folgezeit bildeten sich in Bayern zwei rivalisierende, auf unterschiedlicher Legitimation beruhende Machtpole: einerseits der von den Anhängern eines Rätesystem gebildete und unterstützte Zentralrat unter der Führung von Ernst Niekisch (USPD) und andererseits die vom bayerischen Landtag gewählte parlamentarische Regierung unter dem Sozialdemokraten Johannes Hoffmann. Der Konflikt um Rätesystem oder Parlamentarismus blieb zunächst in der Schwebe, eskalierte aber schließlich am 7. April 1919, als in München die Räterepublik Bayern unter der Führung der Literaten Ernst Toller, Ehrich Mühsam und Gustav Landauer ausgerufen wurde und die Regierung Hoffmann sich nach Bamberg zurückzog.
Wie zuweilen lächerlich chaotisch sich das Machtvakuum in diesen Tagen darstellte, zeigt eine groteske Anekdote, die sich im Protokollbuch des Isinger Schützenvereins unter dem Titel »Schlacht zu Lambach!« findet: »In München wurde die Räterepublik ausgerufen. Herr Czermak stellte die Einwohnerwehr auf. Herr Bürgermeister Huber aus Fehling führte sie an, und der Herr Pfarrer segnete sie, nachdem sie in Ising zusammengekommen waren. Dann marschierten sie „los“. Bis Lambach! Von dort kamen sie nicht mehr los! Nach länger dauerndem Umtrunk kehrten sie unversehrt wieder heim.«
Die Lage verschärfte sich weiter, als am 14. April die erste Räterepublik in eine kommunistische Räterepublik unter Eugen Levine und Max Levien umgewandelt wurde. In Rosenheim wurde umgehend eine Räterepublik ausgerufen und der Anschluss an die Münchner Räteregierung gesucht. Zur Abwehr gegen die Spartakisten (Räteanhänger) rückten aus den Landgemeinden bewaffnete Wehren gegen Rosenheim – ohne Erfolg.
In Traunstein berief Bürgermeister Vonficht die städtischen Kollegien zu einer Dringlichkeitssitzung zusammen. Er warnte nachdrücklich vor einer Durchführung des Rätesystems in Traunstein und nannte die Rätebewegung eine Gegenrevolution, die bekämpft werden müsse. Da Gefahr bestand, dass aus Rosenheim Spartakisten anrückten, beschloss der Magistrat, an der Rosenheimer Straße Barrikaden zu errichten. Der Georgiritt wurde abgesagt.
Während Bürgermeister Vonficht, die städtischen Kollegien, der Arbeiter- und Bauernrat daraufhin eindeutige Stellung für die Regierung Hoffmann bezogen, hielt sich entgegen anders lautenden Versicherungen der Verdacht, dass aus den Reihen des Grenzschutzes unter Mithilfe Rosenheimer Soldaten ein Putsch zur Einführung des Rätesystems auch in Traunstein entstehen könnte.
Tatsächlich spielten sich innerhalb des Grenzschutz-Bataillons Traunstein Richtungskämpfe zwischen Anhängern der Münchner Räteregierung und ihren Gegnern ab, die sich in einzelnen Soldatenräten mit dem Vorsitzenden des Soldatenrates, Rupert Deschler, an der Spitze und dem Bataillonsleiter Voll personifizieren lassen. In einem späteren Rückblick auf die Geschehnisse schrieb Bürgermeister Vonficht: »Das Traunsteiner Grenzschutzbataillon wurde trotz anerkennungswerter gegenteiliger Beeinflussung durch Voll immer mehr mit kommunistischen Rätegedanken von Rosenheim herüber durchtränkt. Wiederholt war dasselbe nahe daran, die Räteregierung in Traunstein auszurufen.«
Die offizielle Haltung des Grenzschutzes war die der Neutralität. Aber allein die Versorgungsfrage band das Bataillon an die Regierung in München, mit der offensichtlich mehrfach in diesen Tagen wegen des Mangels an Geld, Kleidung, Waffen und Nahrungsmittel Verbindung aufgenommen wurde. Die Münchner Räteregierung und vor allem der Kommandant der Roten Armee, Rudolf Eglhofer, verbanden ihrerseits jegliche Zusage und Lieferung der angeforderten Mittel mit dem Druck auf das Traunsteiner Bataillon, aus der Reserve hervorzutreten und sich auf die Seite der Räteregierung zu schlagen. Die Münchner Pressionen blieben nicht ohne Widerhall in der Traunsteiner Garnison. Am 25. April brachte eine Delegation, bestehend aus den Soldatenräten Rupert Deschler (M/TS), Georg Backert (Ro), Georg Thum (Ro) und Breit , aus München neben Gewehren und Bekleidung auch einen Befehl Eglhofers mit, »im Verein mit den Arbeitern im Interesse der Räterepublik sämtliche Macht an sich zu reißen. Die Arbeiterschaft wird aufgefordert, in ihrem eigenen Interesse mit allen Mitteln und Kräften beizustehen. Die ausübende und Vollzugsmacht liegt allein in den Händen der Arbeiter und Soldaten. Jeder, der sich dem widersetzt, wird verhaftet. Mitglieder des Grenzschutzbataillons, die diesem Befehl nicht Folge leisten, sind sofort auszuschließen. Geiseln sind festzunehmen und nach München zu überbringen. Bürger sind zu entwaffnen, die Arbeiter und Soldaten sind zu bewaffnen.«
Den späteren Vernehmungsprotokollen der Straubinger Staatsanwaltschaft zufolge war Rupert Deschler die treibende Kraft hinter den Aktionen zugunsten der Räteregierung. Er kannte nach eigenem Eingeständnis den Inhalt des Eglhofer-Befehls, während Backert und Thum jegliche Kenntnis abstritten und betonten, dass sie zu keiner Zeit der Roten Garde angehört hätten. Andererseits ergaben die Vernehmungen auch, dass neben dem Schreiben Eglhofers auch Flugblätter mit Werbung für die Rote Armee nach Traunstein gelangten.
Der Kommandeur Voll leitete jedenfalls den Befehl entsprechend seiner bisherigen kooperativen Haltung gegenüber den zivilen Amtsträgern umgehend an den Bürgermeister Vonficht weiter, um damit zugleich eine Ausführung des Befehls zu verhindern.
Sofort setzte eine gegenseitige Verdächtigungskampagne zwischen Bataillonskommando und Bataillonsrat wegen reaktionärer bzw. revolutionärer Umtriebe ein. Der Grenzoffizier Alois März, der auf der Seite des Bataillonsleiters stand, sah sich veranlasst, die Außenposten in Bereitschaft zu versetzen. Von der anderen Seite wurde ein Transportzug spartakistischer Soldaten aus Rosenheim angefordert. Eine Entscheidung in dieser Auseinandersetzung stand demnach unmittelbar bevor. Sie schien sogar bereits gefallen, als am 27. April der Bataillonsleiter Voll und der Kompanieführer März vom Soldatenrat verhaftet wurden und unter der Beschuldigung reaktionärer Vergehen nach München zum Revolutionstribunal überstellt werden sollten.
In einer Verhandlung mit dem Soldatenrat am 28. April im Hotel Wispauer, dem Kommandositz des Arbeiter- und Soldatenrates, drohte Bürgermeister Vonficht mit dem gewaltsamen Widerstand der Bauern und Bürger. Gestützt wurde Vonficht durch eine einstimmige Resolution der Traunsteiner Arbeiterschaft zur Unterstützung der Regierung Hoffmann.
Vonficht konnte schließlich sowohl die telefonische Abbestellung des Rosenheimer Spartakistenzuges als auch die Zusicherung durchsetzen, dass Voll und März vorläufig nicht an das Revolutionstribunal in München überstellt würden. Seine Forderung, sich offen zur Regierung Hoffmann zu bekennen, stieß jedoch auf einhelligen Widerspruch des Soldatenrates, der lediglich sein früheres Schutzversprechen gegen Angriffe von außen erneuerte. Nach Vonfichts Darstellung hat ihn diese unsichere Haltung des Soldatenrates veranlasst, die vorher bereits in Aussicht genommenen Maßnahmen gegen den Grenzschutz nunmehr zu treffen.
Trotz der teilweisen Verhandlungserfolge des Bürgermeisters führten die Zuspitzung der Situation und die Gefährdung der eigenen Sicherheit die Mitglieder der Einwohnerwehr zum Einschreiten. In der Nacht vom 1. zum 2. Mai 1919 überwältigten und entwaffneten sie den Grenzschutz, nahmen einzelne verdächtige Spartakisten in Haft und beendeten somit am Tag der Eroberung Münchens durch Reichswehr und Freikorps die Phase der unvollendeten Revolution in Traunstein.
Schon vor dem Attentat auf Eisner hatte Bürgermeister Dr. Vonficht ehemalige Feldzugsteilnehmer zum Beitritt in eine staatliche Volkswehr aufgefordert. Anfang April stimmte der Traunsteiner Magistrat der Bildung einer örtlichen Bürgerwehr zu und gab den Auftrag zur Beschaffung von Waffen und Munition.
Der spätere Erinnerungsbericht einiger Mitglieder der Traunsteiner Einwohnerwehr erzählt von der geheimen Operation unter Führung von Sepp Schlager und Karl Weilharter, in der 500 Gewehre, 4 Maschinengewehre, 5 Pistolen mit jeweilig zugehöriger Munition und eine Kiste Handgranaten von Straubing nach Traunstein geschafft wurden: »Die Waffen wurden „in einen Waggon verladen, der plombiert als Ladung landwirtschaftliche Maschinen“ zum Bahnhof rangiert wurde. Zur Sicherung wurden uns zwei geladene Pistolen ausgehändigt. Bei unserer Ankunft auf dem Bahnhof Straubing waren bereits der Bahnhofvorsteher und der Fahrdienstleiter unterrichtet. Der Wagen wurde an den fahrplanmäßigen Personenzug Richtung Garching – Trostberg angehängt.«
In Trostberg versuchten Arbeiter der Stickstoffwerke, die gerüchteweise von dem Waffentransport gehört hatten, den Zug am Bahnhof zu stoppen. Der Bericht fährt fort: » Der Lokomotivführer und der Heizer wollten nicht mehr und vom Bahnhof her kamen schreiende Menschen. Nach einer kurzen unmissverständlichen Haltung unsererseits blieb den beiden nichts anderes übrig als weiterzufahren. Die Menschenmenge stob auseinander und wir verschwanden in der Dunkelheit. ... Alles ging dann lautlos und schnell. Der Waggon wurde abgehängt und von einer Lokomotive auf das Gleis der Kreiller Lagerhalle rangiert. Dort warteten schon unsere Freunde in der Dunkelheit. Die Waffen wurden auf einen Bauernwagen geladen und auf der Fahrt nach Haslach unauffällig gesichert. In einer Stunde war der ganze Spuk vorüber. Am nächsten Tag gingen wir wieder unserer gewohnten Arbeit nach.«
Es zeigt sich, dass die Aufstellung von Einwohnerwehren nicht unumstritten war. Während sie von der Landbevölkerung weitgehend als Ortsschutz begrüßt und unterstützt wurde, stand die Arbeiterschaft teilweise ihnen skeptisch gegenüber. Der Verdacht hielt sich, dass die Einwohnerwehren generell auch gegen die Arbeiterschaft eingesetzt werden könnten. Noch am 23. April lehnte der Traunsteiner Arbeiterrat die Aufstellung einer Wehr ab, da er keine Gefahr für die Stadt sah.
Bei einer Werbeveranstaltung für den Eintritt in die Einwohnerwehr in Grassau stürzte sich der Arbeiterrat Sebastian Noichl auf den Gauhauptmann der Einwohnerwehr Dr. Jordan mit dem Ruf: »Ist schon wieder so ein Bluthund da, der uns in den Krieg hetzen will.« In Grassau wurde ähnlich wie in Freilassing auf die Aufstellung einer Ortswehr verzichtet.
Ein vergleichbarer Vorgang spielte sich auch in Trostberg ab: In den Tagen der Räterepublik, also im April 1919, erklärte der Arbeiter- und Bauernrat für den Distrikt Trostberg seine Neutralität und lehnte jegliche Bewaffnung zum Selbstschutz ab. Andererseits forderte er von Zentralrat, im Gegenzug dafür zu sorgen, dass die Rote Garde sich von Trostberg fernhalten solle. Tatsächlich hat es in Trostberg auch keinerlei Entwaffnungsaktionen gegeben. Das Trostberger Wochenblatt berichtete lediglich von »stürmischen Tagen in unseren Nachbarstädten.«
Der Ablauf der Ereignisse Anfang Mai 1919 in Traunstein wird in einem Zeitzeugenbericht folgendermaßen geschildert:
»Am 2. Mai früh 2 Uhr versammelten wir uns im Angerbauerhof. Nachdem die bewaffneten Bauern vom Hochberg, Haslach, Vachendorf und Erlstätt zu uns gestoßen waren, legten wir den Rütlischwur ab und marschierten in geschlossener Formation Richtung Stadt. Unterwegs zweigten die einzelnen Trupps ab, während der Haupttrupp nach der Au zu weitermarschierte. Am Marktplatz unter der Laterne etablierte sich ein Arzt mit Verbandszeug und der Klebetruppe. Die Aktion wickelte sich wie am Schnürchen ab. Um 5 früh waren die Verhafteten unter Bewachung auf dem Wege nach Straubing, die Wache und das Wachhaus besetzt und der Grenzschutz im Salinengebäude entwaffnet. Der bereitstehende Arzt brauchte nur einen Schuss in den Oberschenkel eines Soldaten verbinden. Als die ersten Kirchgänger früh um 6 Uhr auf dem Wege zur Stadtpfarrkirche waren, prangten bereits die Plakate an den Hauswänden. Um dem Aufruf an die Bevölkerung den nötigen Druck zu verleihen, marschierte die Heimwehr, aufgeteilt in mehrere Trupps, durch die Straßen der Stadt.«
Tatsächlich war die erfolgreiche Entwaffnungsaktion durch den Umstand erleichtert worden, dass die Sozialdemokraten aus Traunstein und Umgebung, der Arbeiterrat und der Soldatenrat den 1. Mai festlich mit Umzügen, Fahnen, Musik und Tanz gefeiert hatten.
Der Kommentar des Traunsteiner Wochenblattes zu den nächtlichen Ereignissen endet mit einem programmatischen Bekenntnis zu einer bürgerlich demokratischen Gesellschaftsordnung: »Nun aber fort mit der Diktatur des Proletariats auch in München! Wir kennen nur noch gleichberechtigte Staatsbürger, Mitglieder der bürgerlichen demokratischen Weltordnung, oder, wenn man lieber will, freie Arbeiter der Hand und des Kopfes im freien Staat. Für Kommunisten aber ist kein Platz, soweit die deutsche Zunge klingt. Willkommen, deutscher Mai!«
Das Ende der politischen Unsicherheit wurde von der überwiegenden Mehrheit des Traunsteiner Bürgertums, aber auch der gemäßigten Arbeiterschaft begrüßt. In der Büttner-Chronik heißt es: »Alles atmet frei auf, dass die Stadt von diesen Individuen erlöst ist. Überall – mit Ausnahme der radikalen Sozialdemokraten - … sieht man freudige Gesichter.« Und Anton Miller bilanzierte kurz: »Die Diktatur der Besitzlosen war nach dreiwöchentlicher Dauer aus, Traunstein gehörte wieder den Traunsteinern.«
In den folgenden Tagen patrouillierten Einheiten der Einwohnerwehr durch die Stadt. Maschinengewehrposten waren auf dem Stadtplatz und am Bahnhof aufgestellt. Die Einwohnerwehr unter Führung von Max Binder bezog ihr Hauptquartier im Hotel Wispauer und übernahm kurzzeitig die Kommandogewalt in der Stadt. Angehörige des Grenzschutzes wurden aus dem Dienst entlassen, zahlreiche Freiwillige in die Einwohnerwehr aufgenommen. Truppen der Regierung Hoffmann zogen unter Gesang in die Stadt ein. Rosenheimer Spartakisten wurden im Landgerichtsgefängnis interniert. »Am Morgen des 5. Mai ging Binder Max zu Dr. Vonficht und zu Landrat (sic) Ufer, unterrichtete sie von der durchgeführten Aktion und gab die Amtsgeschäfte wieder an sie zurück.«
Damit war auch offiziell die Revolutionszeit in Traunstein beendet.
Zieht man einen Vergleich zwischen den Vorgängen in der Landeshauptstadt München und in Traunstein, zeigen sich bedeutende Unterschiede:
Der größte Unterschied lag sicherlich in der Tatsache, dass die Entwaffnungsaktion in Traunstein ohne Blutvergießen stattfand, während in München im Gegenzug zum sogenannten Geiselmord eine Art Rachefeldzug der Freikorps- und Reichswehreinheiten mit willkürlichem Terror und zahlreichen Erschießungen stattfand. Mehr als 1000 Menschen wurden von Standgerichten verurteilt und teilweise bestialisch (Landauer) ermordet.
Im Gegensatz zu München (und Rosenheim) wurde in Traunstein zu keiner Zeit eine Räterepublik ausgerufen. Allenfalls bestanden Tendenzen im Soldatenrat, sich der Räterepublik anzuschließen. Ebenfalls im Gegensatz zu München stand in Traunstein die Arbeiterschaft weitgehend loyal hinter der Regierung Hoffmann. Der Arbeiterrat kooperierte mit dem Stadtmagistrat.
An beiden Orten wirkten die Aktionen allerdings – aus der Sicht des konservativen Bürgertums – als Wiederherstellung von Ordnung und Sicherheit. Eine andere Sicht ergibt sich, wenn man die weiteren Entwicklungen bedenkt:
Bayern entwickelte sich unter der Regentschaft von Gustav von Kahr zur »Ordnungszelle«, einem Sammelbecken für Rechtsextreme, Antisemiten und Rassisten. München wurde nach dem gescheiterten Hitlerputsch zur Hauptstadt der Bewegung. In Rosenheim wurde die erste NSDAP-Ortsgruppe außerhalb Münchens gegründet und in Traunstein entstand Ende 1922 eine der frühesten NSDAP-Ortsgruppen.
Die Nationalsozialisten verunglimpften die Revolutionäre als »Novemberverbrecher« und unterdrückten nach der Machtergreifung jede positive Würdigung der »unvollendeten deutschen Revolution«. Eine solche Würdigung blieb auch in der Folgezeit lange aus und hat erst im Vorfeld des jetzigen Gedenkjahres nach und nach stattgefunden. Heribert Prantl kommt zu dem Schluss, dass die deutsche Demokratie sich ihrer Herkunft geniert, weil die von der Revolution geschaffene Weimarer Republik von ihren Gegnern zum Scheitern gebracht wurde und die Nazis nicht verhinderte.
Bundespräsident Steinmeier resümierte in seiner Rede am 9. November im Bundestag: »Ja, diese Revolution war auch eine Revolution mit Irrwegen und enttäuschten Hoffnungen. Aber es bleibt das große Verdienst der gemäßigten Arbeiterbewegung, dass sie – in einem Klima der Gewalt, inmitten von Not und Hunger – der parlamentarischen Demokratie den Vorrang gab.«
Gerd Evers
Teil I in den Chiemgau-Blättern Nr. 48 vom 1. Dezember 2018
49/2018