Jahrgang 2018 Nummer 7

Karl Brunner - Sittenwächter im Wartestand

Er verfolgte den Plan der Gründung einer privaten Realschule als Kaderschmiede einer kommenden Elite

Eine Karikatur Karl Brunners.

Im Frühjahr 1923, als sich der Schrecken der Geldentwertung und des Zusammenbruchs der öffentlichen Ordnung in Deutschland sukzessive entfaltete, bezog ein etwa 50-jähriger Mann gemeinsam mit seiner Ehefrau und den vier Kindern das neu errichtete »Haus Seefried « in Osternach bei Prien am Chiemsee. Das idyllisch gelegene Haus verfügte über Veranstaltungsräume, fließendes Wasser und einen Telefonanschluss. Denn es sollte als Keimzelle einer Volksbewegung dienen, in deren Mittelpunkt Militarisierung und Keuschheit stehen sollten. Ein neues Sparta – geschaffen an den Gestaden des bayerischen Meeres.

Eigentümer des Hauses war der vormalige badische Gymnasialprofessor Karl Brunner (1872 bis 1944), der 1911 zum Leiter der »Zentralpolizeistelle zur Bekämpfung unzüchtiger Bilder und Schriften« in Berlin ernannt worden war. In dieser Eigenschaft hatte er eine bedeutende Rolle beim Verbot aller in Deutschland erschienenen und von Brunner als »Schund« eingestuften Bücher und Filme gespielt. Brunner positionierte sich als engagierter Kämpfer gegen Detektivromane, betonte aber auch, dass eine sittliche Jugenderziehung die Emanzipation der Jugendlichen von Alkohol und Tabak beinhalten müsse1. Zugleich müsse man den jungen Lesern eine preiswerte und interessante Alternative an Lesestoff bieten. Die Realitätsferne der Detektiv- und Abenteuerromane sah Brunner als Gefahr an2. Deren Einfluss sollte durch eine straffe vaterländische Erziehung entgegengewirkt werden. Politisch stand Brunner weit rechts und wirkte am »Jugendgeleitbuch« mit, das völkische Akteure im Verlag Theodor Weicher in Leipzig 1914 herausgaben. Hier warnte er vor der »Schundliteratur« – ein einziges schlechtes Buch könne einen jungen Menschen für sein ganzes Leben »verderben«(3). Im Ersten Weltkrieg avancierte Brunner zu einem deutschlandweit aktiven Hüter der öffentlichen Moral und behielt diese Position auch nach dem Sturz des Kaiserreiches und der Gründung der Weimarer Republik bei. Brunner spielte eine entscheidende Rolle bei der Einführung des »Lichtspielgesetzes« im Frühjahr 1920, wodurch die Literaturzensur faktisch auf die Produkte der Filmindustrie übertragen wurde. Erstes Opfer seiner Agitation wurde der Aufklärungsfilm »Anders als die Andern«. Anschließend versuchte Brunner die mit dem Kaiserreich untergegangene Theaterzensur wieder einzuführen. So wollte er 1921 die Aufführung des Stücks »Reigen« von Arthur Schnitzler verbieten lassen. Um die hierfür notwendige Stimmung zu schaffen, verbündete sich Brunner mit anderen selbst ernannten Sittlichkeitswächtern, die in Theateraufführungen Stinkbomben zündeten(4). Allerdings musste Brunner erkennen, dass seine eigenen politischen Vorgesetzten an einer Ausweitung der Zensur nicht interessiert waren und sich öffentlich von ihm distanzierten.

Gerade in dieser schwierigen Phase 1921/22 sah sich Brunner mit dem Vorwurf konfrontiert, er würde selbst »Schundliteratur« auf den Markt bringen. Tatsächlich hatte er bereits ab 1915 eine finanziell lukrative Schriftenreihe mit dem Namen »Deutsche Taten« herausgegeben, die zwar dem Genre des niveaulosen und gewaltverherrlichenden »Kriegsschundes« entsprach, jedoch von ihrem Herausgeber in seiner Eigenschaft als Zensor für unbedenklich erklärt worden war. Konfrontiert mit diesem Vorwurf, der von seinen eigenen (sozialdemokratischen) Vorgesetzten lanciert worden war, sah sich Brunner Ende 1922 genötigt, seine Versetzung in den vorzeitigen Ruhestand zu beantragen. Er glaubte erkannt zu haben, dass ein sittlicher Neuaufbau des Volkes niemals von den »sündigen« Großstädten ausgehen könnte sondern nur vom flachen und somit »gesunden« Land her. Daher verfolgte er den Plan der Gründung einer privaten Realschule als Kaderschmiede einer kommenden Elite. Parallel sollte eine im Haus Seefried organisierte »Traditionsgemeinschaft Treudeutsch« das nötige intellektuelle Umfeld garantieren. Zwar erhielt Brunner umgehend vom Bayerischen Kultusministerium 1923 die Erlaubnis zu Aufbau und Betrieb einer privaten Realschule in Prien, doch die Zusammenarbeit mit lokalen Behörden und Eltern sowie die Organisation des Schulbetriebes und die Auswahl der Lehrkräfte gestaltete sich ganz anders, als sich Brunner dies in seiner Fantasie vorgestellt hatte. Von ihm eingestellte Lehrkräfte erwiesen sich als Trunkenbolde oder pädagogisch unbedarfte Wirrköpfe. Auf Nachfragen der Eltern reagierte Brunner höchst undiplomatisch, so dass er Ende Oktober 1925 aus seinem eigenen Schulprojekt hinausgeworfen wurde. Auch der Aufbau der Traditionsgemeinschaft kam nicht voran. Im November 1929 verlor er den letzten Einfluss auf den von ihm in Prien initiierten Schulbetrieb, als er persönlich zahlungsunfähig wurde und einen unterschriebenen Wechsel in Höhe von 260 Reichsmark nicht begleichen konnte(5). Im Rahmen der nun folgenden Nachforschungen des Kultusministeriums stellte sich heraus, dass der Mittelschulverein für seine Angestellten niemals Krankenkassenbeiträge abgeführt hatte. Aufgrund des drohenden Strafverfahrens gegen alle Beteiligten, stellte die Schule im Sommer 1930 ihren Betrieb ein. Im Nachhall sah sich Brunner mit einer weiteren Forderung eines Händlers für Schuluniformen in Höhe von 250 Reichsmark konfrontiert.

Anfang September 1932 musste er den Offenbarungseid leisten. Sein Anwesen durfte er behalten und wandelte es in einen Übernachtungsbetrieb um (»Familienheim Seefried«). Er gab nun seine parteipolitische Unabhängigkeit auf und diente sich der lokalen NSDAP als Mitglied und Propagandist an – doch Hitlers lokale Schergen wollten ihn als Mitglied nicht aufnehmen(6). Erst die eingeschaltete Gauleitung genehmigte Brunners Eintritt in das braune Parteiimperium, in dem er gleichwohl keine Karriere machen sollte. Denn seine vollkommene Ablehnung frei gelebter Sexualität passte nicht ins Programm der Nationalsozialisten, die eine Entspannung der (heterosexuellen) sexualpathologischen Diskurse als Teil ihres Regierungsprogramms anstrebten. Notgedrungen verlegte sich Brunner wieder auf die Tätigkeit als Akteur der Tourismusbranche und verfasste einen patriotischen Reiseführer über den Chiemgau.(7)

Um Kosten zu sparen, wiederholte Brunner die Taktik des Mittelschulvereins und führte keine Abgaben für seine Angestellten an die Krankenkassen ab. Daraufhin wurde er Anfang 1937 vom Schöffengericht Rosenheim zu einer zweimonatigen Gefängnisstrafe verurteilt und anschließend aus der NSDAP ausgeschlossen(8). Damit schien seine Karriere endgültig vorüber zu sein und er würde sein Leben als Hausmeister in seinem eigenen Übernachtungsbetrieb beschließen. Doch im Mai 1942 schlug ihn einer seiner Söhne für die Verleihung der »Goethe Medaille für Kunst und Wissenschaft« vor – mithin die höchste Auszeichnung des Deutschen Reiches für verdiente Gelehrte. Brunner kam nun zugute, dass er in seiner Zeit als Gymnasiallehrer in Pforzheim ab 1906 einen vielversprechenden, jungen Schüler gefördert hatte, den späteren Reichsminister für Bewaffnung und Munition Fritz Todt. So erhielt der zu diesem Zeitpunkt bereits weitgehend vergessene Brunner tatsächlich die »Goethe Medaille« als einzige Ehrung. Vom Traum der Kaderschmiede künftiger Tugendbolde blieb hingegen nichts.

 

Florian G. Mildenberger

 

Literaturnachweis:

(1) Karl Brunner: Die Bekämpfung der Schundliteratur, in: Gegen die Schundliteratur. Verhandlungen und Beschlüsse der 39. Hauptversammlung der Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung am 3. und 4. Oktober 1909 in Dortmund, Berlin 1909, S. 52-91, 67.

(2) Mirjam Storim: Literatur und Sittlichkeit. Die Unterhaltungsliteraturdebatte um 1900, in: Mark Lehmstadt/Andreas Herzog (Hrsg.), Das bewegte Buch. Buchwesen und soziale, nationale und kulturelle Bewegungen um 1900, Wiesbaden 1999, S. 369-396, 375.

(3) Karl Brunner: Von der Geistesnahrung niedriger Art. Eine ernste Warnung, in: Thomas Westerich (Hrsg.), Das Jugendgeleitbuch. Gedenke, daß Du ein Deutscher bist, Leipzig 1914, S. 349-364, 350.

(4) Ludwig Marcuse: Obszön. Geschichte einer Entrüstung, München 1962, S. 230.

(5) Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, MK 21927, Mitteilung über Pfändung durch den Gerichtsvollzieher vom 15.11.1929.

(6) Bundesarchiv Berlin: PK ehemals BDC, R/936/II, Archivsignatur 123934, Akt Brunner, Gutachten der Kreisleitung Rosenheim vom 17. 4.1938.

(7) Karl Brunner: Im schönen Chiemgau. Ein Führer und Berater, Rosenheim 1935.

(8) Bundesarchiv Berlin: OPG (ehemals BDC), R/9361/II, Nr. 7940, Urteil des Gaugerichts Rosenheim vom 22.10.1937. Angaben zum Autor: Prof. Dr. phil. Florian G. Mildenberger lebt als Privatgelehrter in Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen heilkundliche, soziale und sexuelle Subkulturen im 19. und 20. Jahrhundert.

Angaben zum Autor:

Prof. Dr. phil. Florian G. Mildenberger lebt als Privatgelehrter in Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen heilkundliche, soziale und sexuelle Subkulturen im 19. und 20. Jahrhundert.

 

7/2018