Jahrgang 2018 Nummer 50

In finsteren Winternächten blüht der weihnachtliche Aberglaube

Neben der Angst vor der »Wilden Jagd« trieb die Menschen früher auch ihr zukünftiges Schicksal um

In den Raunächten war die »Wilde Jagd« gefürchtet, hier ein Kupferstich von 1882. (Repros: Mittermaier)
Ein geworfener Pantoffel sollte verraten, ob man im nächsten Jahr im Haus blieb oder wegzog
An den langen Winterabenden der Weihnachtszeit erzählten die Alten den Jungen besonders gern von abergläubischen Bräuchen.

Moden und Geschmäcker mögen sich ändern, doch viele weihnachtliche Traditionen sind inzwischen Jahrhunderte alt, angefangen vom Christbaum übers Kripperl bis hin zu kalorienreichen Keksen. Weitgehend aus dem Alltag verschwunden ist dagegen eine ganze Reihe abergläubischer Bräuche, die im Glaubenskanon vergangener Generationen einen ähnlich festen Platz hatten wie der kirchliche Katechismus, mitunter sogar noch tiefer verhaftet waren, was zum Teil fatale Folgen hatte, glaubt man den überlieferten Erzählungen.

Zwar haben aufgeklärte Zeitgenossen schon vor über 200 Jahren versucht, den »albernen und lächerlichen Handlungen«, einen Riegel vorzuschieben. Das sicher gut gemeinte Unterfangen, »Unwissende zu belehren« und »Furchtsame zu beruhigen«, wie es sich zum Beispiel der Verfasser der »Darstellungen aus dem Gebiet des Aberglaubens« 1801 auf die Fahnen geschrieben hatte, dürfte aber nicht allzu viel Erfolg erzielt haben, denn die Gruppe, in der abergläubische Praktiken am stärksten verhaftet waren, nämlich die einfache Landbevölkerung, bekam derartige Schriften erst gar nicht zu Gesicht, und wenn doch, hätte der Großteil kaum genügend Kenntnisse besessen, um sie überhaupt lesen zu können.

Das Wissen über Brauchtum und Tradition wurde dagegen mündlich weitergegeben, was mit ein Grund war, warum abergläubische Praktiken in Literatur fernen Gesellschaftsschichten besonders fest verwurzelt waren, wobei auch die Lebensumstände insgesamt eine entsprechende Rolle spielten: Wer die finsteren Winternächte auf einem Einödhof in der Pampa zubrachte und dabei von klein auf schauerliche Geschichten von Geistern oder Teufeln serviert bekam, war sicher empfänglicher dafür als der Stadtbewohner in der bürgerlichen Etagenwohnung, der auch keine knarzenden Bäume um sich herum hat und bei flackernden Lichtern vor dem Fenster sofort weiß, dass es sich nicht um übersinnlichen Spuk, sondern wahrscheinlich um eine defekte Straßenlaterne handelt. Dass Unerklärliches Angst macht, ist einer der Gründe, warum Aberglaube wahrscheinlich schon seit Urzeiten Bestandteil der menschlichen Lebenswelt war und im deutschen Sprachraum trotz der starken Verhaftung zur christlichen Lehre bis weit ins 19. Jahrhundert so präsent war: So lange das Wissen über das Zustandekommen beispielsweise von Wetterkapriolen oder ansteckenden Krankheiten fehlte, lag es nah, übersinnliche Kräfte dafür verantwortlich zu machen, vor denen der Mensch sich dann mit, nach heutigem Verständnis, abergläubischen Ritualen schützen wollte. Neben der Abwehr vermeintlicher

Gefahren gab es aber auch speziell in der Weihnachtszeit etliche Bräuche, mit denen dem persönlichen Schicksal auf die Sprünge geholfen werden sollte. In Oberfranken aß zum Beispiel »jede Familie von guten alten Sitten am Weihnachtsabend Linsen, denn Linsen bedeuten Geld«, wie im 1863 erschienenen Buch »Volksmedizin und Aberglaube im Frankenwalde« zu lesen ist. Auch das Schöpfen von Wasser aus einem Fluss oder Bach in der Weihnachtsnacht verhieß demnach Gutes. Dazu mussten drei Löffel Wasser in ein Gefäß gegeben und heim getragen werden. »Hat man dann, zu Hause gemessen, mehr, so wird man reich und hat Glück. Wer dagegen unterwegs Wasser verschüttete, dem drohte Pech. Ebenfalls mit Wasser hängt der folgende, im Bilder-Conversations-Lexikon von 1841 genannte, Aberglaube zusammen, wonach in der Christnacht geschöpftes Wasser besonders lange hält und zudem die Schönheit befördert, wenn man sich damit wäscht. Wollten die so ganz ohne Botox und Skalpell aufgehübschten, jungen Damen dann auch gleich noch erfahren, ob sich die Mühe der Verschönerung demnächst bezahlt machte in Gestalt eines potenziellen Ehemanns, hatte der abergläubische Ratgeber folgendes Spielchen auf Lager: Eine Gans, der man die Augen verbunden hatte, wurde am Weihnachtsabend in der Stube ausgesetzt: »Auf wen die Gans zuerst zugeht, wen sie als erstes angackert, der heiratet als nächstes.« Wer wissen wollte, ob er sein Heim im kommenden Jahr womöglich verlassen würde, konnte ebenfalls in der Christnacht, einen Pantoffel in die Luft werfen: »Kommt er im Niederfallen gerade nach vorwärts, in der Richtung des Fußes zu liegen, so bleibt man im Haus oder Dorf, umgekehrt muss man fort.« Diese Praxis dürfte vor allem fürs Gesinde von Interesse gewesen sein, denn sie waren in der ländlichen Bevölkerung die Gruppe, die am mobilsten war, und der übliche Termin, an dem man seinen Dienst aufkündigen und weiterziehen konnte, freiwillig oder unfreiwillig, war am 2. Februar zu Lichtmess, was von Weihnachten ja nicht allzu weit weg war.

Ebenfalls mit dem zukünftigen Geschick hängt der heute noch beliebte Brauch des Bleigießens zusammen, wobei wegen der gesundheitlichen Gefährdung seit diesem Jahr ja keine bleihaltigen Gießsets mehr verkauft werden dürfen. Wer trotzdem nicht auf den Spaß verzichten will, anhand der meist bizarr gestalteten Formen in die Zukunft zu schauen, muss jetzt stattdessen zu Wachsmasse greifen. Die Anfänge dieser Tradition sollen übrigens bis in die Antike zurückreichen, wobei so manches Histörchen, das dazu im Umlauf ist, das wohl selbst eher ins Reich der Phantasie gehören dürfte: »Wir finden diese Sitte schon im heidnischen Germanentum. Man pflegte damals leicht lösbare Metallstückchen von Harnisch oder vom Schild zu schmelzen und dieselben im flüssigen Zustande in den Metbecher zu werfen. Nachdem man denselben zur Hälfte gelehrt hatte, fischte man das erkaltete Klümpchen heraus und trug es als Talisman bei sich«, berichtet die böhmische Tageszeitung »Aussiger Anzeiger « 1877 über die Geschichte des Bleigießens. Was der Autor dieser Zeilen offenbar nicht bedacht hat: Während Blei bereits bei etwas über 300 Grad Celsius schmilzt, braucht man für Eisen, woraus die Kampfausrüstungen ja in der Regel gemacht waren, mindestens 1500 Grad, um es zum Schmelzen zu bringen. Dass das Lagerfeuer, an dem die Germanen ihre abendlichen Metpartien abhielten, eine derartige Temperatur erzeugen konnte, ist doch sehr unwahrscheinlich. Auch die Behauptung, wonach im Mittelalter hauptsächlich Frauen Blei gegossen hätten, mit der Erklärung: »Das Weib frönte der Neugierde und der Mann dem Kriegsglück«, ist wohl eher mit einem Augenzwinkern zu verstehen. Im Gegensatz zu heute wurde das Bleigießen im 19. Jahrhundert sowohl neben Silvester auch in der Thomasnacht am 21. sowie am Weihnachtsabend praktiziert. Die Thomasnacht spielt auch im Aberglauben über die Raunächte eine wichtige Rolle. In der Zeit zwischen dem 21. Dezember und dem 6. Januar – mancherorts gelten auch andere Daten und weniger als zwölf Tage als Raunächte – ist dem Volksglauben nach die »Wilde Jagd« unterwegs, unheilvolle Geister, die in dieser Zeit sozusagen Ausgang haben und durch die Lüfte fahren. Wer sich in den Raunächten nach draußen begibt und nicht aufpasst, kann von den Spukgestalten mitgerissen werden. Ebenfalls als Vorsichtsmaßnahme gegen die wilden Jäger durfte zwischen Weihnachten und Heilig-Drei-König auch keine Wäsche gewaschen und draußen zum Trocknen aufgehängt werden, weil sich die umherschwirrende Gespensterschar womöglich darin verfangen könnte. Als Schutz gegen den bösen Einfluss von Wiedergängern wurden Haus und Stall in dieser Zeit auch geräuchert.

Ein weiteres Ritual in der Christnacht war das Schlafen auf der Erde, harten Bänken oder in Betten ohne Federbetten, weil man dann angeblich ein ganzes Jahr vor Zahnschmerzen bewahrt blieb. In der Christnacht geschüttelte Obstbäume sollten im kommenden Jahr vor Raupen und anderem Ungeziefer schützen. In der Rheinpfalz umwickelten die Bauern entweder in der Christnacht oder am 31. Dezember in der Stunde von elf Uhr bis Mitternacht alle Obstbäume mit Stricken mit dem Spruch: Ich wünsche euch das Neujahr an, dass ihr gute Früchte tragen sollt. Die Stricke blieben anschließend so lange um den Stamm, bis sie von selbst abfielen. Während diese Bräuche in ihrer unmittelbaren Wirkung auf den Praktizierenden harmlos waren, gab es an den Feiertagen auch Gepflogenheiten, die, glaubt man den Überlieferungen, mitunter fatale Folgen nach sich zogen.

Der Aufklärer und Publizist Lorenz Hübner empörte sich 1792 zutiefst über folgende Sitte: Es sei ja üblich, »dass man in der Weihnachtsnacht in Gesellschaften vor jede Person einen Salzhaufen auf den Tisch setze, um aus dem Einfallen oder Stehenbleiben dieser Salzhaufen Leben oder Tod vorhersehen zu können«, wobei das Einfallen derselben als Beweis galt, dass der oder die Person im folgenden Jahr sterben würde. »Wie oft hat dabei schon ein unschuldiger Salzhaufen den Betroffenen in die tiefste Melancholie gestürzt, woraus dann tatsächlich Krankheiten und der Tod entstanden seien«, wetterte Hübner und schickte als Warnung noch eine – angeblich – reale Geschichte hinterher: Demnach sei eine junge, gesunde und starke Dienstmagd an einem Weihnachtsabend vom anderen Gesinde überredet worden, in der Mitternachtsstunde in ein Ofenloch zu schauen, weil sie darin das Gesicht ihres zukünftigen Bräutigams erblicken könne. »Als die Stunde kam, schlich sie unvermerkt aus der Stube, und weil sie die Sache für unschuldig hielt, so sah sie in den Ofen hinein. Man wusste damals nicht, was ihr wiederfahren ist; allein, sie kam so blass als eine Leiche in die Stube zurück und war ganz außer sich. Von diesem Tage an war sie bleich, mager und elend. Ihr Gemüt wurde mehr und mehr niedergeschlagen, sie ward schließlich tödlich krank, und offenbarte ihrem Beichtvater, dass sie im Ofen etwas gesehen, das einem Totenkopfe mit einem grünen Kranze um den Scheitel geglichen hätte. Bald darauf starb sie als ein Opfer des Aberglaubens«, warnte Hübner Nachahmer abergläubischer Späße.

An Geister oder Wahrsagerei dürften heute nur noch die wenigsten glauben, dafür ist ein seit dem Mittelalter gepflogener Brauch auch heute für viele noch unerlässlich, nämlich das Schießen an Silvester, wobei früher nicht der Spaß an der Knallerei im Vordergrund stand, sondern die Überzeugung, mit dem Krach böse Geister zu vertreiben. Deshalb war es früher, wegen der Raunächte, üblich, nicht nur zum Jahresende, sondern schon in der Thomasnacht, an Weihnachten und über Silvester hinaus auch an Heilig Dreikönig zu schießen. Allerdings gab es im Lauf der Zeit immer wieder Versuche von Seiten der Obrigkeit, der Knallerei ein Ende zu setzen, wie zum Beispiel mit einem 1674 durch Kurfürst Ferdinand Maria eingeführten Mandat, das das Schießen an Feiertagen verbot. Im 18. Jahrhundert wurden Böller an Silvester offenbar wieder weitgehend toleriert, denn erst in den 1830er Jahren finden sich dann wieder Verordnungen, um »dem Unfug des Schießens in der Neujahrsnacht« einen Riegel vorzuschieben. In Augsburg zum Beispiel drohte Personen, die Böller oder sonstige Kracher abfeuerten und dabei erwischt wurden gemäß einer Anordnung des Magistrats von 1829 eine Strafe von fünf Gulden oder, wenn die Summe nicht aufgebracht werden konnte, Arrest.

 

Susanne Mittermaier

 

50/2018