Jahrgang 2018 Nummer 30

Gräfin und Rebellin

Zum 100. Todestag von Franziska zu Reventlow

Franziska zu Reventlow um 1903 (P/a 1254). (Repros: Marietta Heel)
Franziska zu Reventlow mit Sohn Rolf um 1912 in Ascona (FR F 33).
Kerstin Decker: Franziska zu Reventlow. Eine Biografie«. Berlin Verlag. 380 Seiten. 26 Euro.

»Im Sommer 1918 erreichte mich in Traunstein, wo ich interniert war, die Nachricht, dass Franziska zu Reventlow verstorben sei. Es war schwer, daran zu glauben. Ich grüße diese Tote mit inniger Verehrung. Sie trug, außer ihrem Namen, nichts an sich, was vom Moder der Vergangenheit benagt war. In die Zukunft gerichtet war ihr Leben, ihr Blick, ihr Denken; sie war ein Mensch, der wusste, was Freiheit bedeutet«, schrieb der Dichter Erich Mühsam, ein enger Vertrauter der Reventlow, in seinen »Unpolitischen Erinnerungen.«

Eine Freiheit, die allerdings ihren Preis hatte. Denn seit Franziska Gräfin zu Reventlow 1895 von Norddeutschland nach München gezogen war, begleiteten Krankheit, materielle Not und Liebe zu stets wechselnden Männern ihr Leben. Andererseits war sie der Stern der Münchner Bohème, eine Virtuosin der freien Liebe, Aventgardistin der Alleinerziehenden, Vorläuferin des modernen intellektuellen Prekariats, und nicht zuletzt eine bis heute unterschätzte Schriftstellerin, die mit ihrem Schlüsselroman »Herrn Dames Aufzeichnungen« (1913) dem Schwabing der Jahrhundertwende ein literarisches Denkmal gesetzt hat.

Geboren wird Franziska zu Reventlow am 18. Mai 1871 als fünftes von sechs Kindern des preußischen Landrats Ludwig Graf zu Reventlow (1824 bis 1893) und seiner Frau Emilie, geborene Gräfin zu Rantzau (1834 bis 1905), in einem Landschloss bei Husum. In ihrem autobiografischen Roman »Ellen Olestjerne« (1903) beschreibt sie ihre strenge Erziehung zur »höheren Tochter« und zum jungen »Fräulein« im Kreis der Familie und im Altenburger Magdalenenstift, von dem sie 1887, nach nur einem Jahr Schule, verwiesen wird. Denn »durch Mangel an Pflichttreue und Gewissenhaftigkeit war sie ein nachteiliges Beispiel für andere«, wie es in einem Zeugnis heißt.

1889, nach der Pensionierung des Vaters, zieht die Familie nach Lübeck um und Franziska tritt in das Lübecker Privat-Lehrerinnen- Seminar ein. Nur ein Zwischenspiel, aber in Lübeck wird sie auch Mitglied in einem geheimen Literaturclub, wo sie die Werke von Ibsen, Tolstoi und Zola kennenlernt und speziell von Nietzsches Zarathustra (»eine Offenbarung«) begeistert ist. Als die Eltern den heimlichen Liebesbriefwechsel mit ihrem Freund Emanuel Fehling entdecken, wird sie zur »Besserung« bei einer Pastorenfamilie auf dem Land, in Adelby bei Flensburg, untergebracht. Von dort flieht sie 1893 zu Bekannten nach Wandsbek und überwirft sich dadurch für immer mit ihrer Familie.

In Wandsbek lernt sie auch ihren späteren Verlobten, den Hamburger Gerichtsassessor Walter Lübke, kennen, der ihr im Sommer desselben Jahres einen Aufenthalt in München als Studentin an einer Malschule finanziert. 1894 heiraten sie, doch als sich Franziska ein Jahr später erneut nach München begibt, um ihr Malstudium fortzusetzen, zerbricht die Ehe und wird 1897 geschieden. Ab nun führt sie ein eigenständiges Leben und verdient sich ihren Unterhalt zum Teil mit literarischen Übersetzungen für den Albert Langen Verlag und kleineren Beiträgen für Zeitschriften wie den »Simplicissimus«. Am 1. September 1897 bringt sie ihren Sohn Rolf zur Welt, die Beziehung zu ihm bietet der von Depressionen und chronischer Geldnot geplagten Schriftstellerin eine seelische Heimat und fordert ihr ein Mindestmaß an Disziplin ab: »Mein Gott, mein Gott, wenn du nicht wärest Bubi, ich ließe alles zum Teufel gehen.« Den Namen des Erzeugers gibt sie jedoch nie preis, und Franziska zu Reventlow entzieht ihren Sohn auch den Institutionen des Staates. Sie unterrichtet ihn selbst und hilft dem 20-Jährigen 1917, nachdem er während eines Fronturlaubs in Deutschland desertiert war, bei seiner Flucht in die Schweiz. Ansonsten schlägt sie sich mit Gelegenheitsjobs als Prostituierte, Sekretärin, Aushilfsköchin, Versicherungsagentin, Glasmalerin u. a. durch.

1900 beginnt sie mit der Arbeit an »Ellen Olestjerne« und schließt durch Vermittlung des »Dunkelmanns der deutschen Philosophie« (»Spiegel«) Ludwig Klages Bekanntschaft mit einem obskuren Münchner Kreis, genannt die »Kosmiker«. Arbeitslose Akademiker, angehende Künstler und Lebensphilosophen mit einem Hang zu Okkultismus und Mystizismus, die von einer geistigen Revolution träumen, verknüpft mit einer Art Rückkehr zu religiösen Urzuständen. Für diese Träumer ist Franziska zu Reventlow ein Star, und sie genießt die Bewunderung, die ihr entgegengebracht wird. Man nennt sie heidnische Madonna, moderne Hetäre, Schleswig-Holsteinische Venus, Königin der Bohème, Inkarnation der erotischen Rebellin – die Liste der Zuschreibungen ist lang.

1903 gründet sie zusammen mit dem polnischen Maler Bohdan von Suchocki und dem Schriftsteller Franz Hessel (dem Jules aus Henri-Pierre Rochés Roman »Jules und Jim«) die erste Wohngemeinschaft in München, die bis 1906 besteht. 1903 erscheint auch »Ellen Olestjerne« im Verlag Julian Marchlewski. Rainer Maria Rilke schreibt in seiner Rezension, dass ihr Leben »eins von denen ist, die erzählt werden müssen, und ich glaube, dass man es vor allem jungen Menschen erzählen muss, die das Leben anfangen wollen und nicht wissen, wie«.

Doch trotz aller Bewunderung, ihre materiellen Nöte werden dadurch nicht weniger, und so folgt sie 1910 dem Rat Erich Mühsams und geht nach Ascona im Tessin. Hier, am Lago Maggiore, suchen Künstler, Schriftsteller, Wissenschaftler, Naturheiler und Esoteriker aus ganz Europa nach alternativen Lebensformen, darunter Max Weber, Hermann Hesse, W. J. Lenin, Leo Trotzki, C. G. Jung und Isadora Duncan.

Für Franziska zu Reventlow wird Ascona zum Schreibort. Hier entstehen ihre Romane, die alle im Münchner Albert Langen Verlag erscheinen: »Von Paul zu Pedro. Amouresken« (1912), der Schlüsselroman über die Schwabinger Bohème: »Herrn Dames Aufzeichnungen oder Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil« (1913), und »Der Geldkomplex« (1916). Letzterer basiert auf ihrem letzten Coup, nämlich der Scheinehe mit einem leichtlebigen baltischen Baron, dessen Vater gedroht hatte, den missratenen Sohn zu enterben, sollte er nicht eine standesgemäße Gattin präsentieren. Doch der Schwindel fliegt auf, der Baron bekommt nur seinen Pflichtteil, und Franziska entsprechend weniger. Ein einziges Mal vernünftig, legt sie das Geld bei einer Bank an. Und die macht kurz darauf Bankrott. Als Sohn Rolf ihr die Nachricht überbringt, kommentiert sie lakonisch: »Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen.« Ihr letztes Einkommen bezieht sie als »vornehm in Schwarz gehüllte Dame« am Spieltisch im Kursaal von Locarno: ein Lockvogel, der 10 Franken pro Abend bekommt.

Am 26. Juli 1918 stirbt Franziska zu Reventlow, die ihre Lebensdaten mit denen des Deutschen Reiches teilt, in einer Klinik in Locarno an den Folgen eines Fahrradsturzes. Sie wird auf dem Friedhof Santa Maria in Selvia in Locarno beigesetzt, ihr letzter Roman, »Der Selbstmordverein«, wird 1925 aus dem Nachlass veröffentlicht. Ihr Sohn Rolf, genannt »das Göttertier«, der später als Journalist arbeitet und im Spanischen Bürgerkrieg auf Seiten der Republik kämpft, stirbt am 12. Januar 1981 arm und vereinsamt in München.

In München erinnert einzig eine Bronzetafel nahe der Leopoldstraße, versteckt am seitlichen Eingang eines Geschäftshauses, an sie: »In diesem Haus über dem Café Noris von einst wohnte die Schriftstellerin Franziska zu Reventlow«. Dabei ließen sich gut zwei Dutzend Tafeln ähnlichen Inhalts über das gesamte Viertel verteilen: Innerhalb von 17 Jahren zog sie 26 Mal um, meist unfreiwillig, vertrieben von Eigentürmern, die es leid waren, sich von ihrer zahlungsunfähigen Mieterin einen weiteren Monat vertrösten zu lassen.

Ihr Nachlass, der 17 Manuskripte, über 600 Briefe und 1 Konvolut Brief-Fragmente, 29 biographische Dokumente und 16 Tagebücher sowie 47 Fotos umfasst, befindet sich im Literaturarchiv der Münchner Monacensia und kann dort auch eingesehen werden. Das zur Münchner Stadtbibliothek gehörende Archiv befindet sich im ehemaligen Haus des Bildhauers und Künstlers Adolf von Hildebrand (Maria-Theresia-Str. 23, 81675 München) und ist ein Ort der Bücher und Geschichte. Neben der umfangreichen Bibliothek findet man hier wertvolle Originalmanuskripte von Münchner Autoren, weitere Nachlässe wie zum Beispiel die von Klaus und Erika Mann sowie seltene Fotografien der Berühmtheiten. Somit fungiert die Monacensia als »literarisches Gedächtnis der Stadt«, das mit Salon, Lesegarten und Studierzimmern vielfältige Möglichkeiten bietet, Münchens literarische Schätze kennenzulernen.

Pünktlich zu Franziska zu Reventlows 100. Todestag ist auch eine neue, ungemein lesenswerte Biografie über sie erschienen, geschrieben von Kerstin Decker, einer renommierten Publizistin, die bereits einige Biografien über Frauen verfasst hat, etwa über Else Lasker-Schüler und Elisabeth Förster-Nietzsche. Fast wie ein Roman erzählt, spannend, flüssig und sehr anschaulich, leuchtet die Autorin dieses einzigartige Leben darin bis ins letzte Detail aus, belegt durch viele Zitate aus Franziska zu Reventlows Werken, Tagebüchern und Briefen. Besonderes Augenmerk finden dabei ihre Liebschaften, denn auch Liebschaften, so die Autorin, »sind Lebewesen. Sie werden geboren, reifen und sterben, aber nicht alle.« Feiner Humor und Ironie, die auch Franziska zu Reventlow eigen waren, runden das Lesevergnügen ab. »Humor ist eine Art Höflichkeit des Geistes angesichts der Unvollkommenheit der Welt. Franziska zu Reventlow besaß ihn in einem staunenswerten Maße, gepaart mit einer frappierenden Urteilskraft«.

Das Buch beinhaltet zudem ein Nachwort, Anmerkungen, welche die Fußnoten umfassen und ein Verzeichnis der verwendeten Quellen und Literatur. Nur ein Namensregister fehlt leider.

 

Wolfgang Schweiger

 

Quellen: Irma Hildebrandt »Bin halt ein zähes Luder. 15 Münchner Frauenporträts«. Gunna Wendt »Franziska zu Reventlow. Die anmutige Rebellin«. Die ZEIT 51/2011 »Lebe wild und gräflich«. Der Spiegel 15/2007 »Das Leben leuchtete und tanzte«, Wikipedia. Der Abdruck der Fotos erfolgte mit freundlicher Genehmigung der Münchner Stadtbibliothek/Monacensia.

 

30/2018