Jahrgang 2018 Nummer 8

Die südlichste bairisch-historische Tracht gibt's im Trentino

Bewohner der Laimbachtäler lassen die zimbrische Kultur und Tradition wieder aufleben – Teil I

Die Familie Stoffella in der historischen Tracht, im Hintergrund der Kirchturm der Erzpfarrkirche von Vallarsa/Brandtal mit typisch bayerischer Zwiebelhaube, dessen Geläute wegen des Echos der umliegenden Berge als einzigartig gilt.
Fesch »behütet«: Frauen beim Kirchenauszug.
Der Ort Lusern-Luserna, der das Zimbrische Dokumentationszentrum beherbergt. Er liegt unweit von Lavarone auf 1350 Meter Meereshöhe.

Viele Wege führen zur Tracht: Wenn man Mitglieder eines Trachtenvereins fragt, wer oder was für sie ausschlaggebend war, dass sie überzeugte Trachtenträger geworden sind und damit die traditionellen Werte hochhalten, wird man die unterschiedlichsten Antworten bekommen. Meist sind es Eltern, Großeltern oder auch ältere Geschwister, die durch ihr beispielhaftes Vorleben das Interesse der Jungen wecken. Ganz entscheidenden Anteil haben natürlich die zahlreichen, ehrenamtlich tätigen Betreuer innerhalb der Trachtenvereine, die flächendeckend in ganz Bayern eine überaus hervorragende Nachwuchsarbeit leisten.

Anderen wiederum erschließt sich der Zugang auf eher unübliche Weise. So soll es schon mal vorgekommen sein, dass kritischen Volksfestbesuchern, vornehmlich des Münchner Oktoberfests, bezüglich der doch recht auffälligen Unterschiede in der Trachtencharakteristik die Augen geöffnet wurden. Heute, als sozusagen »Geläuterte«, machen sie sich im Nachhinein über die eigene Geschmacksverirrung lustig, dass sie einst selbst zur Spezies gehört hatten, die im kunterbunten Pseudo-Dirndl und in fernostimportierter Lederhose auf den Biertischen stand.

Weitaus tiefliegendere Beweggründe lassen sich dagegen bei den Bewohnern der deutschen Sprachinseln im sogenannten Welschtirol südlich von Trient ausmachen: bei dem Volksstamm der Zimbern. Immer mehr Menschen in den einstmals unzugänglichen Hochebenen und Gebirgstälern zwischen den norditalienischen Städten Trento, Rovereto und Vicenza besinnen sich dort seit einigen Jahren in beharrlicher Weise ihrer bayerisch-alemannisch-tirolerischen Wurzeln, die weit bis ins 11. Jahrhundert zurückreichen und noch heute das Minderheitenvolk der Zimbern (Cimbern, Zimbarn) bilden.

Ihr Hauptsiedlungsgebiet umfasst sowohl die als »deutschsprachig« bezeichneten Dreizehn Gemeinden (Tredici Comuni, auch Lessinische Gemeinden genannt) wie auch die Sieben Gemeinden (Sette Comuni), die heute zu den Provinzen Verona und Vicenza gehören sowie die Gemeinde Lusern auf der Hochebene von Vielgereuth/Lafraun und die Laimbachtäler-Gemeinden am Fuße des Pasubio-Massivs in der Region Trentino Südtirol. In dem Zusammenhang muss man auch die kleineren deutschen Sprachinseln Fersental (Valle dei Mocheni) im Trentino sowie Sappada im Belluno und Sauris/Timan in der Provinz Udine einbeziehen. Auf der Suche nach traditioneller Identität und kulturellem Erbe ihrer Vorfahren entstehen mittlerweile da und dort Heimat- und Kulturvereine, werden Gebirgsschützen-Kompanien gegründet (die Deutschtiroler boten schon 1796 Napoleon auf den Höhen des Cembratals erfolgreich die Stirn), aufschlussreiche Dokumentationszentren für Geschichte, Kultur, Möbel und Trachten wie das in Luserna (Lusern) eingerichtet, zimbrische Sprachkurse (sogar für Anfänger) abgehalten und Straßenund Ortsnamen zweisprachig (italienisch und zimbrisch) bezeichnet und ausgeschildert. Erst vor kurzem lief die sechshundertste Sendung der Wochenschau »Zimbar Earde« im Trentino TV über den Bildschirm (zu sehen auf youtube).

Im Zuge dieser Bestrebungen feiern auch die alten Trachten eine erfreuliche Renaissance, nachdem sie fast in Vergessenheit geraten waren. In den Laimbachtälern (Valli del Leno) mit den Hauptorten Brandtal-Vallarsa, Laimtal-Terragnolo und Trumelays-Trambileno konnte auf Betreiben von Arthur F. Stoffella und dessen Sohn Hugo-Daniel der Kulturverein »Historische Trachten der Laimbachtäler« gegründet werden. Vorausgegangen war ein Auftrag der Gemeinde Vallarsa, Nachforschungen über die längst verschwundene Bekleidung der vergangenen Jahrhunderte anzustellen. Von 1998 an begaben sich beide Heimatforscher auf die Suche, stöberten akribisch in zahlreichen Archiven, Museen, Galerien, volkskundlichen Aufzeichnungen und unzähligen anderen Quellen.

Alte Tracht in Brasilien aufgetaucht

Wie Arthur F. Stoffella in seiner im Reimmichl-Kalender (Ausgabe Südtirol 2015) erschienenen Abhandlung schreibt, konnten sie in Innsbruck, Wien und München Berichte finden, welche die Pilger, Wanderer und Schriftsteller damals über die Gebräuche der Bewohner der Laimbachtäler notiert und dadurch der Nachwelt erhalten haben. Auch der Brandtaler Gemeindevorsteher Joseph Noriller hat, um das Jahr 1865 von einem Innsbrucker Richter und Volkskundler bestätigt, die Festtagstracht der Brandtaler folgendermaßen beschrieben: »…eine scharlachrote, kurze Jacke mit gleicher Weste, aufstehendem weißen Halskragen und Krause an der Brust, niederer schwarzer Hut mit breiten Felgen, und kurze lederne Hosen, dann eine ausgenähte Leibbinde von Leder, in welcher das Messer und Pistolen steckten… Die Tracht erinnert an die Sarner Tracht bei Bozen…«. Sensationell und hilfreich zugleich war die Entdeckung, die der Laimtaler Maurizio Stedile in Brasilien machte, als er die Nachkommen ausgewanderter Verwandter besuchte: Sie holten aus einer Truhe die über Generationen hinweg fein säuberlich aufbewahrte Brandtaler Tracht hervor, die sich überaus hilfreich für die originalgetreue Nachbildung erwies. Ein weiterer Zufall wollte es, dass in einem Antiquitätengeschäft in Wien ein Bild gefunden wurde, auf dem die Trachten der Laimbachtäler gezeichnet sind, die mit der Beschreibung in den Texten übereinstimmen. Wie im Buch »Südtirol – Land europäischer Bewährung« (Universitätsverlag Innsbruck 1955) nachzulesen steht, »…symbolisiert die rote Farbe Lebenskraft, Stärke, Freiheit und Mut. So sind auch heute viele Laimbachtaler Bürger stolz darauf, die kurzen Lederhosen und die rote Jacke zu tragen.«

Bis es jedoch soweit war, hat es manchem Einheimischen der drei Gemeinden gegenüber einige Überzeugungsarbeit gekostet, sich mit der alten bayerisch-tirolerischen Tracht anzufreunden, wie Arthur F. Stoffella zurückblickt. Zu sehr wirkten die unseligen Spuren der Irredentisten und Nationalisten aus der Zeit des Faschismus in dieser Gegend noch nach. Nachdem aber Bürgermeister Geremia Gios höchstpersönlich in die farbenprächtige Montur schlüpft, waren die Vorurteile schnell abgebaut und das Eis gebrochen. Die historische Frauen-Festtagstracht, von der es ebenfalls ein Bild, und zwar aus dem Jahr 1830, gibt, besteht im Wesentlichen aus einem schwarzen Hut mit blauem Band, einem langen dunklen Rock mit blumengeschmückter Schürze, einer weißen Bluse, einer dunklen Jacke und einem blumengeschmückten Halstuch.

So konnten die Laimbachtaler bereits ein Jahr nach der Gründung ihres Kulturvereins das Fronleichnamsfest 2013 in der Ortschaft Pleif-Parrochia mit Heiliger Messe in der dortigen Erzpfarrkirche festlich begehen, mit viel lokalpolitischer Prominenz, namhaften Kulturvertretern und den bereits bestehenden Trachtengruppen aus Zimmertal-Cembratal und den »Trombini« aus den Dreizehn zimbrischen Gemeinden von Berne-Verona.

Arthur F. Stoffella referierte in seiner Eigenschaft als Präsident über Geschichte und Bedeutung des jungen Kulturvereins sowie dessen Ziele. Im Rahmen dieses historischen Ereignisses, zu dem auch Max Bertl, Präsident des Bayerischen Trachtenverbands angereist kam, wurde die südlichste bayerische Tracht des alten deutschen Kulturraums erstmals nach 200 Jahren Abstinenz der Öffentlichkeit vorgestellt.

Noch im selben Jahr erhielten die Laimbachtaler vom damaligen Landeshauptmann Luis Durnwalder die Erlaubnis, das Wappen der autonomen Region »Trentino-Südtirol« auf allen Drucksorten zu verwenden. Mittlerweile bestehen viele freundschaftliche Beziehungen zu gleichgesinnten Vereinen in Südtirol und Bayern, wie dem Trachtenverein Bidingen im Oberen Lechgauverband.

Die Besiedelung der Zimbrischen Hochebenen

Um die Rückbesinnung auf ihre traditionellen Wurzeln besser verstehen zu können, kommt man nicht umhin, einen Blick in die bewegte, bayerisch geprägte Siedlungsgeschichte der zimbrischen Gebiete zu werfen.

Im 10. Jahrhundert reichte das Bayerische Stammesgebiet von der Naab im Norden über die Ostmark fast bis nach Preßburg (Bratislava) und im Süden bis an das Nordufer des Po's und der Adria. Dem Herzogtum Baiern wurde im Jahr 952 auf dem Reichstag zu Augsburg das langobardische Herzogtum Friaul zugeschlagen, mit den Markgrafschaften von Verona, Trient, Aquilea und Istrien. Die bayerische Sprache reichte demnach von Altbaiern, dem Bodensee über die Ostschweiz, Österreich bis nach Norditalien. Das spätere Hochstift Freising sowie das Kloster Benediktbeuern, das in Berne/ Verona Niederlassungen (z. B. Santa Maria in Organo) besaß, pflegten enge Beziehungen mit den Bistümern Trient, Vicenza und Verona.

Aus Benediktbeuern stammt mit der Carmina Burana nicht nur die größte Sammlung weltlicher und geistlicher Lieder des Mittelalters, sondern auch ein Schriftstück aus dem Jahr 1050 (heute in der Staatsbibliothek München), das belegt, dass westbairische Bauern infolge einer großen Hungersnot nach Verona auswanderten. Der Überlieferung nach stammten sie aus dem Landstrich zwischen Ammersee und Isar und verließen nicht nur einzelne Höfe, sondern ganze Dörfer. Dies widerlegt eindeutig die lang vorherrschende These, der zufolge die Zimbern als Nachfahren der aus Jütland (Dänemark) stammenden Kimbern galten. Tatsächlich waren diese die ersten Germanen, die kriegerisch in die italienische Halbinsel einfielen und das antike Rom bedrohten, jedoch vom Heer des römischen Feldherrn Gajus Marius (158 – 86 v. Chr.) vernichtend geschlagen wurden. Doch das war schon im Jahr 101 vor Christus, also gut tausend Jahre früher. Ein winziger Teil der Krieger hätte den »großen Stroach« (= Streich) überlebt und in den Bergen von Veneto Zuflucht gefunden. Historische Forschung und linguistische Analysen sind zu anderer Erkenntnis gekommen. Übrigens gilt das Wort Kimbern in römischen Schriften seit Plutarch als Synonym für Germanen generell.

Dagegen konnten sich die baierischen Einwanderer in den isolierten, weil schwer zugänglichen Hochebenen auf Dauer erfolgreich ansiedeln. Wenn es stimmt, dass sich unter ihnen hervorragende Zimmerleute befanden, ist der sprachliche Weg unter Berücksichtigung eines bairischem Tonfalls von der mittelhochdeutschen Bezeichnung »Tzimberer« zu den Zimbern nicht weit.

 

Ludwig Schick

 

Quellennachweis und Fotos:

Arthur F. und Hugo-Daniel Stoffella, Reimmichl Volkskalender 2015 Ausgabe Südtirol, Wikipedia, Berliner Zeitung

 

Teil 2 in den Chiemgau-Blättern Nr. 9 vom 3. 3. 2018

 

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