Die Miasein auf der Roas
Ein Ausschnitt aus der 125-jährigen Geschichte des Trachtenvereins D'Miesenbacher Ruhpolding





»Unverfälschtes Brauchtum seit 1893« heißt es heuer im August, wenn der Ruhpoldinger Gebirgstrachten- Erhaltungsverein D'Miesenbacher sein 125-jähriges Bestehen feiert. Zur Vereinsgeschichte gehören auch zahlreiche Auslandsfahrten, in denen die einheimische Gebirgstracht und bayerisches Brauchtum authentisch präsentiert wurde. Immer schon war es, auch im zeitlichen Kontext betrachtet, etwas ganz Besonderes mit den Trachtlern »furt« zu fahren. Andere Möglichkeiten zu reisen gab es früher für die normale Bevölkerung kaum. Bereits 1934, zu Beginn des Dr. Degener Fremdenverkehrs, gingen die Miesenbacher auf Werbefahrt nach Berlin. Oder 1961 wurde man zum Beispiel an die italienische Riviera zum Blütenfest nach San Remo eingeladen. Die Flugreise der Musikkapelle nach Äthiopien zur Eröffnung der Fluglinie Frankfurt-Addis Abeba 1958 war zu dieser Zeit geradezu utopisch.
In den 1980er-Jahren gab es einen regelrechten Reiseboom und die Trachtler waren neben den zahlreichen Veranstaltungen und Verpflichtungen daheim ständig unterwegs. 1979/80 fand ein gravierender Generationswechsel in der Aktiven Gruppe statt. Ein ganzer Schwung 17 und 18-jähriger Burschen, die nicht in der Kinder- oder Jugendgruppe waren, traten dem Verein als »Seiteneinsteiger« bei.
Die »Älteren«, die wegen einer damals sehr dünnen Personaldecke immer wieder bei den Heimatabenden aushelfen mussten, konnten mit ruhigem Gewissen in den wohlverdienten Plattlerruhestand gehen. Die neue Generation wurde dann gleich richtig gefordert.
Im Sommer 1981 gab es die Möglichkeit für vier Buam für zweimal drei Wochen in Paris - St. Germain aufzutreten. Die »Fete des Loges« ist ein dem Münchner Oktoberfest nachempfundenes Volksfest. Die Miesenbacher Vorstandschaft war anfangs nicht begeistert. Sie hatte nicht ganz unberechtigte Bedenken, ob die Auftritte nicht zu sehr in Richtung Kitsch und »Verseppelung« gehen würden. Aber in Erinnerung an die eigene Jugend gab sie schließlich grünes Licht. Die Buam sahen das naturgemäß sowieso ganz anders und nahmen die Herausforderung an. In der »Taverne de Munich« ging's jeden Abend hoch her, die Blaskapelle »Wachauer Buam« aus Niederösterreich sorgte für beste Bierzeltstimmung und die Miesenbacher Buam unterhielten das Publikum mit Plattler, Bankerltanz, Holzhacker etc., man könnte sagen mit solider Hüttenabendgaudi. Im Nachbarzelt waren die »Falkastoana« aus Inzell in Aktion. »Le Mass« Münchner Bier kostete 30 F, »La paire de Weisswurst avec choucroute ou frites« (mit Sauerkraut oder Fritten!) 46 F, das waren umgerechnet stolze 14 bzw. 21 DM! (Beim Münchner Oktoberfest lag der Preis für eine Maß damals zwischen 4,80 DM und 5,25 DM!) Für die Buam war es auf jeden Fall eine wichtige Erfahrung, nicht zuletzt auch beim Socken waschen und Hemden bügeln.
Im selben Jahr wurde der Verein dann noch in die Türkei eingeladen. Dort wurde ein nationales Folklorefest veranstaltet und Kulturpreise an Schriftsteller und Künstler verliehen. Dazu wollte man auch einen Vertreter aus Deutschland/Bayern dabei haben. Die Fahrt war wegen der herrschenden Militärregierung nicht unumstritten, aber die Miesenbacher ließen Politik einfach Politik sein und flogen einschließlich Trachtenkapelle nach Antalya. Da die »Frankreichfahrer« zum Teil keinen Urlaub mehr hatten, wurden einige »Altgediente« reaktiviert. Die waren ohne zu zögern mit Begeisterung dabei. Antalya war noch ganz am Anfang einer touristischen Infrastruktur und so mussten erstmal ein paar Nägel als Kleiderhaken herhalten und vorher wurden die Geckos von den Wänden verscheucht.
In nachhaltiger Erinnerung blieben der Enthusiasmus und die Gastfreundschaft der einheimischen Bevölkerung, mit denen die Gäste aus Bayern empfangen wurden, die wunderbaren, einsamen Sandstrände und der verwegene Koch, der barfuß mit Badehose einen Hammel grillte. Da hat sich seitdem einiges geändert; an der gesamten türkischen Riviera gab und gibt es eine bis heute anhaltende, rasante Entwicklung hin zum Massentourismus. Der Ruhpoldinger Sportverein hatte damals eine Verbindung mit dem Badeort Viareggio in der Toskana, wohin die Ruhpoldinger Sportler einige Male ins Trainingslager fuhren. Zusammen mit der kgl. priv. Schützengesellschaft sollten die Miesenbacher einschließlich Trachtenkapelle 1983 beim »Carnevale di Viareggio« mitwirken. Drei Aktive Buam ließen sich einen Tag vor der Abfahrt beim Weiber- und Dirndlkranzl eine Glatze schneiden und fuhren kahlköpfig mit. Einer versuchte mit einer Perücke unter dem Hut das Ganze zu kaschieren, was jedoch noch komischer aussah und letztlich scheiterte. Gut, dass Fasching war. Der große Umzug am Faschingssonntag entlang der Strandpromenade fiel leider einem stürmischen Tiefdruckgebiet zum Opfer und konnte nur in kleinem Rahmen durchgeführt werden. Die berühmten Festwägen und Figuren, ähnlich wie beim rheinischen Karneval, mussten in den Hangars bleiben. Die Italiener fanden's trotzdem lustig und feierten ausgelassen mit den »amici bavarese«.
Ein Jahr später, wieder im Fasching, gab es einen kurzen, aber sehr exclusiven »Gig« mit Flug nach Berlin. Als Ruhpoldinger Gesamtpaket trat man mit der Trachtenkapelle D'Rauschberger-Zell bei der Tourismusbörse (ITB) im futuristischen InternationalCongressCentrum (ICC) auf. Diesmal war die Aufführung am Abend zuvor beim Weiber-& Dirndlkranzl eine »Dschungelhochzeit« und für ein gründliches Bad war die Zeit denkbar knapp. So waren die Buam beim Abflug noch schwarz hinter den Ohren. In Berlin gibt es keine Sperrstunde und dieser Umstand wurde nach dem Auftritt ausgiebig genutzt. Die Übernachtung im Luxushotel hätte man sich rückblickend sparen können. Einige waren vorübergehend im ausschweifenden Nachtleben der Großstadt verschollen aber am nächsten Morgen waren alle (ohne Handy!) am vereinbarten Treffpunkt und der Rückflug konnte ohne personelle Verluste angetreten werden.
Aber das war nur ein kleiner Vorgeschmack für eine Reise der Superlative im Oktober 1984 in die USA. Eine ausgewanderte Tante eines Aktiven stellte den Kontakt zum Disney World in Orlando/Florida her und prompt wurden »The miesenbacher schuhplattler group and band« für das »Disney International Festival Programm« gebucht. 18 Musikanten und sechs Aktive Paare flogen mit der »TRANS WORLD AIRLINE« (TWA) über den großen Teich. Die Auftritte fanden auf einer großen Seebühne im neu erbauten »EPCOT Center/World show case« statt. Hier stellt der Disney Konzern die kulturelle und technische Entwicklung der Menschheit sowie verschiedene Länder und Städte dar. Sehr interessant war der Blick, den die Ruhpoldinger Trachtler als employees/Mitarbeiter hinter die Kulissen werfen konnten. Unbemerkt vom Publikum läuft die perfekt organisierte Logistik des riesigen Freizeitparks größtenteils im Verborgenen ab. Es gab Wäscherei und Schneiderei, sogar die Haferlschuhe wurden gecheckt und es war nichts Besonderes, wenn man neben Mickey-Mouse und Goofy beim Mittagessen in der Kantine saß. Nebenbei wurde ein tolles Ausflugsprogramm organisiert. So besichtigte man z. B. das startbereite Spaceshuttle im Weltraumbahnhof Cape Caneveral und abends genoss man das stilechte, amerikanische Entertainment in den Saloons. Skurril war die Bierkühlung der Buam im Hotelzimmer. Sie stellten die Six-packs auf die Aircondition und schalteten auf maximale Leistung. Am nächsten Morgen waren bei 30 ˚ C Außentemperatur Eisblumen am Fenster. Energietechnisch natürlich frevelhaft aber warmes amerikanisches Bier wäre noch schlimmer gewesen. Auch finanziell war die USA-Reise ein Superlativ. Jeder Teilnehmer erhielt 300 US-Dollar Gage, was damals 900 DM entsprach. Und letztlich beruhigend war die Erkenntnis, dass auch im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, eine echte, bayerische Trachtengruppe nur sehr schwer oder gar nicht zu kopieren ist.
In den folgenden Jahren wurde es international etwas ruhiger, dafür ging's innerhalb Deutschlands, aber auch im benachbarten Österreich und in der Schweiz mindestens einbis zweimal im Jahr richtig rund. Unter anderem war man mit dem »Brun-Motorsport-Team«, das als »EuroBrun-Racing« kurzzeitig auch in der Formel-1 präsent war, einmal am Nürburgring und einmal in Luzern. Erwähnenswert ist zum Beispiel auch ein Freiluft-Auftritt in der Nürnberger Innenstadt, den die in Franken stationierte US-Army 1985 unter dem Motto »Germany is wunderbar« organisierte. Oder 1986 die »Bayerische Woche« in Wuppertal/Barmen bei der lokal durchaus prominenten »Kiez«-Größe Heiner Herling in dessen Kneipe »Pinguin«. Vor dem Festabend stand ein Messebesuch der Elektronikmesse »INTERKAMA« in Düsseldorf auf dem Programm. Dort sorgten die Miesenbacher Buam innerhalb kürzester Zeit für volksfestähnliche Zustände bis sich die Messeleitung genötigt sah, dem lustigen Treiben über den Messelautsprecher ein Ende zu bereiten. Eine große Aktion war ebenfalls 1986 ein Schützenfest in Bramsche bei Osnabrück. Wer schon mal ein niedersächsisches Schützenfest miterlebt hat, der weiß, dass dort die Schützenbrüder und -schwestern beileibe keine Kinder von Traurigkeit sind. Die Männer trafen sich mit den Buam zu Beginn des Festes zu einem feucht-fröhlichen, sogenannten Kommersabend.
Und die Frauen schmückten derweil, keineswegs abstinent, mit den Dirndln das Festzelt. Unvergessen der nächtliche Fackelzug der Männer zu den Frauen ins Festzelt. Die Miesenbacher kamen so gut an, dass sie einige Jahre später noch einmal eingeladen wurden. Leider konnten dann stimmungstechnisch die hohen Erwartungen nicht mehr ganz erfüllt werden. Es war vielleicht so wie im Kino, wenn ein zweiter Teil eines Films qualitativ nicht an den ersten Teil anknüpfen kann. 1988 war wieder Ausland angesagt. Die Tourist-Info veranstaltete mit der Ruhpoldinger Wirtegemeinschaft und dem TV-Sender RTL eine Werbefahrt nach Luxemburg. Die Betreuerin aus Luxemburg bat die Ruhpoldinger Abordnung bei Erkundungen durch die Stadt das verruchte Bahnhofsviertel möglichst zu meiden. Bis heute wird kolportiert, dass nach der Ankunft innerhalb kürzester Zeit im Bahnhofsviertel viele grüne Hüte mit weißer Feder zu beobachten waren, aber das war von vornherein klar.
1989 ließ Ehrenvorstand Lutz Hasenknopf seine Beziehungen zum Innenministerium spielen und die Miesenbacher konnten als Vertreter Deutschlands zum »Festival de folclore da europa comunitaria« nach Portugal reisen. Portugal wollte mit einer Folklore-Tournee durch verschiedene Städte Werbung für die EU machen. Neben Deutschland/ Bayern und Gastgeber Portugal waren England, Spanien, Frankreich, Italien und Griechenland mit von der Partie. Der damals 67-jährige Hasenknopf ließ es sich nicht nehmen, die Miesenbacher Abordnung auf der sehr langen Busfahrt als »chef de mission« zu begleiten. 22 Musikanten und acht Aktive Paare absolvierten ein 10-tägiges Mammutprogramm. Allein die Anreise (2700 km) dauerte fast zwei Tage. In Portugal gastierte man jeden Tag in einer anderen Stadt, darunter Porto und Coimbra. Die offiziellen Begrüßungen in den Rathäusern gestalteten sich immer sehr vornehm und exclusiv, danach folgten Umzüge und die abendlichen Auftritte. Dort herrschte immer eine ganz besondere Stimmung. Vor den Auftritten wurde zusammen musiziert, Getränke und Speisen probiert, und die Trachten getauscht. Hier war man der olympischen Grundidee mit weltoffener Gastfreundschaft und Toleranz wohl näher, als bei den Olympischen Spielen. Auch beim Lernen der Tänze der verschiedenen Länder gab es viel Spaß und die Erkenntnis, dass Schuhplatteln und Dirndldrahn mit einem Alleinstellungsmerkmal versehen sind. Zwei Zahlen verdeutlichen das Ausmaß dieses Engagements wohl am besten: Insgesamt wurden über 7000 km mit dem Bus zurückgelegt und dabei über 1000 Flaschen und Dosen Bier konsumiert.
Die Fahrt zur »Musikantenstadl«-Livesendung in Kiel 1991 war der vorläufig letzte Höhepunkt dieser turbulenten zehn Jahre. Auch hier war der Blick hinter die Kulissen dieser sehr aufwändigen ARD/ NDR Fernsehproduktion hochinteressant. Die Miesenbacher Buam zeigten den »Holzhackermarsch« und der spätere Vorstand Hermann Feil kochte in der Mitte das traditionelle »Muas«, wobei das offene Feuer im Hinblick auf die feuerpolizeilichen Bestimmungen in der Ostsee-Halle nicht unproblematisch war. Bei der »After-Show-Party« verbrüderten sich die Gebirgler dann mit den »Blauen Jungs«, dem Seemannschor der Bundesmarine. Die Verständigung zwischen Alpenrand und Waterkant klappte bestens. Letztlich sind sich die Extreme Gebirge und Meer in vielen Beziehungen doch sehr ähnlich.
Jetzt könnte man nur noch sagen: »Nein, wie die Zeit vergeht«. Plötzlich waren die »Anfänger« von 1981 die »Erfahrenen« und es stand ein weiterer Generationswechsel an. Die neuen Angebote waren »Biathlon auf Schalke« und die »Kieler Woche« mit symbolischem Anheuern als Leichtmatrosen auf der »Gorch Fock«, sowie Auftritten auf der Fregatte »Augsburg« und im Hochsicherheitsbereich der »USNavy«. Haben die Miesenbacher evtl. eine kleine, stille Sehnsucht nach der Weite der Ozeane?
Und dann gab's noch die wirklich exotische Variante nach Fernost.
In den 1990er Jahren traten die Miesenbacher in Japan in den »Kronenberg«-Freizeitparks auf. Im »doitsu no mori« (Deutscher Wald) wurde versucht, auch mit Hilfe der bayerischen Trachtler, darzustellen, dass Deutschland/Bayern mehr zu bieten hat als das Münchner Hofbräuhaus und Schloss Neuschwanstein. Zwei Anekdoten aus dieser Zeit will der Verfasser seinen Lesern zum Schluss nicht vorenthalten. Einmal mit einem ernsten Hintergrund, als die Ruhpoldinger Trachtler bei einem Ausflug nach Hiroshima genau 50 Jahre nach dem Atombomben-Abwurf die dortige »Friedensglocke« geläutet haben. Der Legende nach soll ihr Klang für die gesamte Menschheit als Mahnung zu hören sein. Am nächsten Tag wurden nachweislich in Kroatien Friedensverhandlungen aufgenommen. Wesentlich amüsanter ist die Geschichte als zwei Buam auf die glorreiche Idee kamen, auf Reisstrohmatten mit Sumo-Ranggeln ihre Kräfte zu messen. Dies ging unter dem Motto »Übermut tut selten gut« gehörig schief. Ein im Weg stehender »Ziachkoffer« sorgte für ein wunderschönes »Veilchen« und eine Platzwunde am Auge, die unbedingt fachmännisch genäht werden musste. Es folgte eine nächtliche Odyssee durchs japanische Hinterland auf der Suche nach einem Krankenhaus. Die ganze Aktion fand ein glückliches Ende auf dem Behandlungstisch eines Provinzkrankenhauses und über dem Patienten hing tatsächlich ein Kalenderbild mit Watzmann und Königssee. So ist er der »Miesenbacher«, er fährt gerne »furt«, aber wenn er seine heimatlichen Berge sieht, tränen ihm die Augen und er bekommt ganz schnell Heimweh.
Volker Schweidler
27/2018