Jahrgang 2018 Nummer 47

»Die Märchenbaronin« ist bis heute unvergessen

Elsa Sophia von Kamphoevener – berühmte Erzählerin türkischer Märchen

Die Dichterin Elsa Sophia von Kamphoevener. (Fotos/Repros: Giesen)
Elsa Sophia von Kamphoevener als junge Frau.
Der Kulturförderer und Buchhändler Werner Mengedoht.
Das Grab von Elsa Sophia von Kamphoevener in Marquartstein.

Eine berühmte Persönlichkeit, die bis heute nichts von ihrer Faszination eingebüßt hat, verbrachte die letzten Jahre ihres Lebens in Marquartstein, wo sie ihr »Hoamatl« gefunden hatte, wie sie es nannte. Elsa Sophia von Kamphoevener hätte in diesem Sommer ihren 140. Geburtstag gefeiert; zudem war ihr 55. Todestag. Am 27. Juli 1963 starb die Dichterin und Märchenerzählerin im Alter von 85 Jahren in Marquartstein, wo sie die letzten zwölf Jahre ihres ungewöhnlichen Lebens verbracht hatte. Ganz zum diesjährigen Jubiläum von »100 Jahre Frauenwahlrecht« passend, gehörte sie auch zu einer der – obwohl im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts geborenen – tatsächlich emanzipierten Frauen, die sich zeitlebens von keinem Mann abhängig machte. Noch heute werden ihre zahlreichen Bücher gut verkauft und in namhaften Verlagen neu verlegt. Auf dem Friedhof der katholischen Pfarrkirche in Marquartstein liegt Elsa Sophia von Kamphoevener begraben, wo der Lionsclub Marquartstein-Achental ihr Grab bis heute pflegt.

Wie die berühmte Erzählerin türkischer Märchen schon zu ihren Lebzeiten überall verbreitete, lebte sie 40 Jahre lang in der Türkei, wo sie (angeblich!) zu Pferde und als Jüngling verkleidet, von treuen Dienern begleitet, an den nächtlichen Feuern der Karawanen die türkischen Märchen sammelte, die dort erzählt wurden. Im Laufe vieler Jahre habe sie diese aufgeschrieben und so eine einmalige Sammlung wunderbarer Märchen für die Nachwelt erhalten. Es sind keine Märchen für Kinder, sondern ursprünglich Märchen für Männer, von Männern erzählt und erfunden – so weit die Legende.

Ein Teil dieser Geschichte ist selbst ein Märchen. Denn der Lebensweg der Dichterin sah etwas anders aus: Elsa Sophia Kamphoevener wurde am 14. Juni 1878 als Tochter des später zum Marschall berufenen Louis von Kamphoevener-Pascha und seiner Ehefrau Anna in Hameln geboren. Im Alter von vier Jahren folgte sie zusammen mit ihrer Mutter dem Vater in die Türkei, wo er als Reorganisator der türkischen Armee berufen worden war. Elsa Sophias Ausbildung war sehr vielseitig. Sie lernte nicht nur neun Sprachen, sondern war auch eine ausgezeichnete Schwimmerin und Reiterin. Auf dem Pferderücken war sie oft monatelang unterwegs und lernte Land und Leute kennen, besonders Anatolien. Wie sie zu erzählen pflegte: ihre eigene kleine Karawane rastete oft mit anderen an den »Nachtfeuern der Karawanserei«, so auch der Titel ihres berühmten dreiteiligen Werks mit türkischen Nomadenmärchen. An diesen Nachtfeuern hatten Märchenerzähler die Aufgabe, ununterbrochen einen Teil der Wache habenden Männer wach zu unterhalten, da man räuberische Überfälle befürchtete und sie keinesfalls einschlafen sollten. Nach ihrer Erzählung traf Elsa Sophia hier auch mit dem berühmtesten Märchenerzähler der Zeit, Fehim Fey, zusammen, der sie später – stets in der Rolle eines Mannes – in die Gilde der Märchenerzähler seiner Familie aufgenommen habe.

Märchen als Zeitung

Märchen hatten zu der Zeit in der Türkei auch die Aufgabe, als eine Art Zeitung Neuigkeiten zu verbreiten. Der Märchenerzähler war zudem der Einzige, der ungestraft Kritik an bestehenden Missständen üben durfte. Er offenbarte – verkleidet in der Form von Märchen – Sultane und andere reiche Mächtige mit allen ihren Schwächen und Fehlern und verriet so, was das Volk dachte. Daher waren die Märchenerzähler (ähnlich wie der »Hofnarr« an den europäischen Höfen oder der Kabarettist von heute) von den Machthabern gefürchtet. Bei Unruhen steckte man sie so manches Mal in abgesperrte Lager, bis wieder Frieden eingekehrt war.

Märchen für Männer

Die Erzählungen waren ursprünglich alle von Männern für Männer. Das heißt nicht, dass sie »anstößige Dinge« behandelten, wie es häufig in arabischen Märchen der Fall ist, sondern nur, dass es in einer Welt, in der es scheinbar keine Frauen gab, auch die Märchen allein für Männer bestimmt waren. Daher betrachtete es die Dichterin selbst als »ausgesuchte, feine Rache« – wie sie im Vorwort zu einem ihrer Bücher schrieb – dass eine Frau in Männerkleidern die Märchen hören durfte. Wie sie schreibt, erzählte sie sie deshalb später auch besonders gerne befreundeten türkischen Frauen.

Die tatsächlich weniger romantische, wenn auch immer noch ungewöhnliche Geschichte von Elsa Sophias Jugend hat die Germanistin Helga Möricke 1995 mit ihrer Dissertation an der Freien Universität Berlin über »Leben und Werk der Elsa Sophia von Kamphoevener« bekannt gemacht. 1996 veröffentlichte sie die Biografie »Die Märchenbaronin« in der edition ebersbach im eFeF-Verlag. »Geboren in der Rattenfängerstadt Hameln« beginnt eines der Kapitel. Helga Moericke recherchierte (auch in Marquartstein und im Achental), dass Elsa Sophia in Obhut ihrer Mutter, umgeben von griechischem, türkischem und armenischem Personal aufwuchs und mit den Familien preußischer und osmanischer Militärs, Kaufleuten und Diplomaten verkehrte. Dabei eignete sie sich ihren ungewöhnlichen Sprachenschatz an. Wahrscheinlich kam sie durch die vielen Bediensteten ihrer Familie erstmals in Berührung mit türkischen Märchen. Ihren Aufenthalt in der Türkei musste sie als 12-Jährige für mehrere Jahre unterbrechen, da sie auf ein Internat nach Hildesheim geschickt wurde. Mit 16 Jahren kehrte sie in die Türkei zurück und widmete sich intensiv dem gesellschaftlichen Leben. Aus Briefen und den Lebenserinnerungen ihres Vaters weiß man, dass Elsa Sophia ihre Zeit gerne auf den Basaren Konstantinopels (heute Istanbuls) verbrachte. Dort festigte und erweiterte sie ihre Sprachkenntnisse, indem sie den Erzählungen und Märchen von Händlern und Handwerkern lauschte.

Im Jahr 1900 wurde die Familie Kamphoevener in den Adelsstand erhoben. Im gleichen Jahr heiratete Elsa Sophia zum ersten Mal, nämlich den Privatdozenten für Bergbau Adolph von Elterlein, der über Vermittlung ihres Vaters ein Amt im osmanischen Reich erhalten hatte. Ein Sohn, Uttman von Elterlein (1901 bis 1945) ging aus dieser Ehe hervor. Kurz vor Kriegsende starb er als hoher Offizier. 1906 aber verließ Elsa Sophia die Türkei für immer, ohne ihr Kind, und heiratete kurz nach der Scheidung 1908 den Arzt Ernst Marquardsen. Beide zogen nach Bad Kissingen, wo Marquardsen ein Sanatorium besaß. Als Else Marquardsen-Kamphoevener veröffentlichte sie zwischen 1915 und 1939 viele Artikel in Zeitungen und Zeitschriften, schrieb 18 Romane, eine Komödie und ein Sachbuch.

Ihr Liebes- und Eheleben blieb jedoch weiterhin recht bunt und abwechslungsreich. 1919 gründete sie ihren eigenen Verlag, 1920 gab sie eine eigene Zeitschrift heraus, die sie aber nach dem Tod ihres Mannes 1921 wieder aufgab.

1925 schloss sie eine dritte Ehe mit Alfred Balte, die jedoch nur ein Jahr hielt. 1927 heiratete sie den Bad Meinberger Kurdirektor Franz Kaub. 1933 trennte sie sich von ihm und zog allein nach Berlin. Geschieden wurde die Ehe erst 1939.

In Deutschland war Elsa Sophia von Kamphoevener als Schriftstellerin, Dramaturgin bei der Ufa, der Tobis und beim Rundfunk tätig. Sie sprach immer frei und hielt zahllose Vorträge, zum Beispiel über den Islam und das orientalische Leben im Allgemeinen. Selbst der Rundfunk verlangte kein Manuskript von ihr. Als freie Schriftstellerin schrieb sie für die Voss und andere Zeitungen. Obwohl sie in Berlin einmal kurz der NSDAP angehört hatte, sparte sie später nicht mit Kritik am sogenannten »Dritten Reich«, wenn es ihr nötig erschien.

Märchen als allgemeine Menschlichkeitssprache

1942 meldete sich Elsa Sophia von Kamphoevener als Freiwillige an die Front, um den Soldaten als »Kamerad Märchen« ihre orientalischen Märchen zu erzählen. Anfangs traf sie dabei oft auf spöttische und abwehrende Bemerkungen. Nach wenigen Minuten des Zuhörens aber wurde ihr Publikum ganz still. Bewusst ließ sich Kamphoevener im Krieg immer zu solch einsamen, abgelegenen Posten schicken, zu denen sonst niemand gerne hinging. Die Bezeichnung »Kamerad Märchen« für ihre Person machte sie glücklich. Um das »Phänomen Märchen« mit ihren Worten zu erklären, hier ein Zitat: » … und es zeigte sich wieder einmal, dass Tiefstes überall gleich ist und dass es eine allgemeine Menschlichkeitssprache gibt, die – fast der Musik ähnlich – überall verstanden wird.«

Leben nach dem Krieg

1944 wurde ihr Berliner Wohnhaus total ausgebombt und ihr gesamter Besitz zerstört. Im März 1945 floh die Kamphoevener deshalb aus Berlin nach Süddeutschland, wo sie an mehreren Orten versuchte, sich eine neue Existenz aufzubauen. Oft war sie in Geldnot und musste hart ums Überleben kämpfen. Nach Marquartstein, ihrer letzten Heimat, kam sie 1950 durch den Marquartsteiner »Kulturkreis«, dessen Vorsitzender, Paul Lohmann, sie eingeladen hatte. Hier erzählte sie den älteren Schülern des (heute Staatlichen) Landschulheims, das damals noch auf der Burg Marquartstein war, ihre Märchen. 1952 zog sie zu ihrer engen Freundin Ilse Wilbrandt (1897 bis 1978) in Marquartstein, mit der sie bis zum Ende ihres Lebens zusammen lebte. Kurz vor ihrem 85. Geburtstag starb Elsa Sophia von Kamphoevener in Marquartstein.

1951 entdeckte sie der Süddeutsche Rundfunk als Märchenerzählerin. Zahlreiche Märchensendungen wurden von da an auch in vielen anderen deutschen Rundfunkanstalten ausgestrahlt. So begründete sie ihren Ruf als einmalige Erzählerin orientalischer Märchen, die sie ab 1956 auch in Form von Büchern zum Beispiel bei Rowohlt herausgab. Einige dieser Radiobeiträge gelangten auch auf Sprechplatten des »literarischen Archivs«, das Ernst Ginsberg bei der Deutschen Grammophon gegründet hatte. 2008 erschienen die gesammelten Radioaufnahmen aus den 50er Jahren erstmals vollständig auf MP 3-CDs, so dass ihre originale Stimme auch heute noch gehört werden kann.

Fast alle ihrer Märchenbücher leitet die gleiche Widmung ein: »Gewidmet / dem Gedenken / an die alte Türkei / in Ehrfurcht und Liebe / vor dem großen Reichtum / ihres uralten Besitzes / an Geist, Witz und / tiefer Weisheit in Allah.«

Die Kamphoevener trifft Werner Mengedoht

Einer, der Frau von Kamphoevener in Marquartstein noch gut gekannt hatte, war der Anfang 2009 verstorbene Werner Mengedoht. In seiner Buchhandlung – wo noch heute der alte Hocker aufbewahrt wird, auf dem sie saß – hielt die berühmte Dichterin Anfang der 50er Jahre zahlreiche Lesungen. Wie Werner Mengedoht mir selbst 1993 noch anschaulich schilderte – zwei Jahre also, bevor die kritische Biografie von Helga Moericke erschien – , legte die Kamphoevener Wert auf vollständige Konzentration ihrer Zuhörer, wenn sie erzählte. Schon ein Huster konnte sie aus der Fassung bringen, so dass sie unter Umständen eine Lesung unwillig abbrach. Vom Wesen her habe sie zu der Zeit sehr energisch und tatkräftig gewirkt und habe nie einen Widerspruch zu ihrer Meinung zugelassen, so Werner Mengedoht. Viele hätten sie damals als herrisch und sogar streitsüchtig empfunden.

Ilse Wilbrandt erklärte diesen Wesenszug ihrer Freundin mit einer tiefen Scheu. Sie habe andere lieber gleich heftig vor den Kopf gestoßen, um ihnen ja nicht zu nahe zu kommen und danach vielleicht wieder enttäuscht zu werden.

Nicht endender Nachruhm

Unter Märchenerzählern und Märchenkennern hat Elsa Sophia von Kamphoevener noch heute einen hervorragenden Ruf. Viele der von ihr aufgeschriebenen Märchen gehören zum festen Repertoire der deutschen Märchenerzähler. Der berühmte deutsche Erzähler Erich Kästner (1899 bis 1974) bezeichnete ihre Märchen als eine Bereicherung zu denen aus Tausendundeiner Nacht. Wörtlich schrieb er: »Wir sind mit einer Nachernte beschenkt. Das aber heißt, dass zu dem Köstlichsten der Weltliteratur ein unerwarteter Zuwachs hinzukam. So etwas passiert nicht in jedem Jahrzehnt. Was mich betrifft, ich bin sicher, dieses Buch wird in hundert oder in zweihundert Jahren so berühmt sein wie der 'Robinson' oder der 'Gulliver' oder eben ein Band aus 'Tausendundeine Nacht'«. Diesen Berühmtheitsgrad hat die Kamphoevener bis heute noch nicht erreicht und wird es vielleicht auch nicht tun, ihre Märchen zu lesen oder gar ihnen zu lauschen, ist zweifellos bis heute ein Erlebnis.

 

Christiane Giesen

 

47/2018