Jahrgang 2018 Nummer 20

Der Prager Fenstersturz

Vor 400 Jahren begann der Dreißigjährige Krieg

Kupferstich Prager Fenstersturz.
Prager Burg.
Hinrichtung der böhmischen Rebellen.

Es war am frühen Morgen des 23. Mai 1618, als eine knapp zweihundert Mann umfassende Delegation unzufriedener protestantischer Adeliger auf die Prager Burg zog – nicht ahnend, dass sie wenige Minuten später eine epochale Katastrophe auslösen würde, die in den folgenden 30 Jahren unsägliches Leid und Millionen von Menschen den Tod bringen sollte. Der Anlass dazu waren die zunehmenden Spannungen zwischen Protestanten und Katholiken in Böhmen, nachdem 1612 der in Böhmen durchaus geschätzte Habsburger Kaiser Rudolf II. gestorben war. Dessen Nachfolger (und jüngerer Bruder) Matthias scherte sich nämlich wenig um die von Rudolf gegebenen Versprechen und verletzte wiederholt die von Rudolf garantierte Glaubensfreiheit in den Böhmischen Ländern.

Unter anderem wurden Protestanten aus Staatsämtern entlassen und zwei neugebaute evangelische Kirchen, die auf Ländereien der katholischen Kirche standen, kurzerhand niedergerissen, so dass der Einfluss der Katholiken ebenso zunahm wie der Missmut der Protestanten. Diesen drückten sie zunächst in einem Protestschreiben an Kaiser Matthias aus. Als dieser nicht reagierte und dazu noch weitere Versammlungen der Protestanten verbot, war das Fass voll. Nach langen Diskussionen beschlossen am 21. Mai 1618 protestantische Adelige, eine radikale Aktion gegen die unbeliebten kaiserlich-katholischen Statthalter auf der Prager Burg durchzuführen.

In der Ratskanzlei trafen sie auf zwei katholische Statthalter, die als Drahtzieher der Angriffe auf die Religionsfreiheit galten: Jaroslav von Martinitz und Wilhelm Slavata. Die zwei wiesen sämtliche Vorwürfe zwar zurück, allerdings mit wenig Erfolg. Nach einem improvisierten Gerichtsverfahren beschlossen die Protestierenden, dass mit den beiden »schon Recht verfahren werden« solle. Wenige Augenblick später landeten die beiden Männer im Burggraben, gefolgt von dem ebenfalls anwesenden Kammersekretär Philipp Fabricius, der später von Kaiser Matthias geadelt wurde und den treffenden Titel »von Hohenfall« erhielt. Denn entgegen aller Erwartung überlebten alle drei Männer den Sturz aus etwa 17 Metern Höhe und erlitten dabei nicht einmal größere Blessuren.

Zu verdanken war dieser glimpfliche Ausgang angeblich einem Misthaufen, der sich im Burggraben unter den Fenstern befunden haben soll. Vermutlich nur eine anekdotische Erfindung späterer Zeiten, vielleicht aber auch eine mit tieferen Sinn, über den noch zu sprechen sein wird. Viel wahrscheinlicher für das gute Ende dürften die damalige Mode und das kühle Wetter verantwortlich gewesen sein. Alle Beteiligten trugen weite, schwere Mäntel, die den Fall stark dämpften. Hinzu kommt, dass die Fenster, aus denen die drei geworfen wurden, relativ klein waren und sie somit nicht mit Schwung nach draußen befördert werden konnten. Außerdem haben sich alle drei gewehrt, und Martinitz hielt sich noch am Sims fest, als er bereits draußen hing. Zudem ist die Wand unterhalb der Fenster nicht gerade, sondern nach außen angeschrägt, so dass die drei wohl mehr hinunter schlitterten als fielen.

Die protestantischen Aufrührer waren jedenfalls verblüfft darüber, dass die drei den Sturz so folgenlos überstanden hatten und gaben noch hastig einige Schüsse auf sie ab, die jedoch allesamt ihr Ziel verfehlten, da die Schützen durch das Gedränge an den Fenstern am sauberen Zielen gehindert wurden. Die zwei Statthalter, die überzeugt davon waren, ihr Überleben dem wundersamen Eingreifen von Engeln und der Jungfrau Maria zu verdanken, fanden anschließend Unterschlupf und Schutz bei der katholischen Adeligen Polyxena von Lobkowicz.

Bleibt die Frage, wieso die Angreifer, die mit Degen und Pistolen ausgerüstet waren, nicht gleich von ihren Waffen Gebrauch gemacht haben? Dazu muss man wissen, dass der Prager Fenstersturz vom 23. Mai 1618 nur den bekanntesten, weil folgenreichsten Vorfall dieser Art darstellt. Tatsächlich hatte diese Strafmaßnahme in Prag bereits eine lange lokale Tradition. So warfen schon 1419 aufgebrachte Anhänger des Reformators Jan Hus etwa 14 Personen, darunter den Bürgermeister und vier Ratsherren, aus dem Fenster des Neustädter Rathauses auf den heutigen Karlsplatz. Die Opfer stürzten dabei direkt in die aufgepflanzten Lanzen und Spieße der auf dem Platz versammelten Menschenmenge, und wer dann noch atmete, wurde am Boden erschlagen. Ein Ereignis, das die sogenannten Hussitenkriege auslöste, die das Land anschließend zwei Jahrzehnte lang erschütterten.

Im Jahr 1483 dann griffen radikale Hussiten die Rathäuser von Altund Neustadt an, um einer geplanten Verschwörung katholischer Stadträte entgegenzuwirken. Diesmal erschlug die Meute ihre Opfer, insgesamt wohl acht, gleich an Ort und Stelle und warf sodann die Leichen aus dem Fenster. Der jüngste Fenstersturz stammt aus der Neuzeit, aus dem Jahr 1948. Da fiel in den Morgenstunden des 10. März der tschechoslowakische Chefdiplomat und designierte Außenminister Jan Masaryk aus einem Fenster seiner Dienstwohnung im zweiten Stock des Prager Palais Czernin. Masaryk war der Sohn des Republikgründers Thomas G. Masaryk und wäre der einzige Nichtkommunist in der neuen Regierung gewesen, die just am 10. März im Parlament vorgestellt wurde. Obwohl sein Tod offiziell als Selbstmord dargestellt wurde, erschien es vielen äußerst merkwürdig, dass der letzte hochkarätige Systemgegner seiner Zeit ausgerechnet durch einen Fenstersturz ums Leben kam.

Doch woher rührt diese Tradition, seine Gegner aus dem Fenster zu werfen und sich dabei von »heroischem, adligem Impetus« leiten zu lassen, wie es die Aufständischen von 1618 in ihrer an den Kaiser gesandten Rechtfertigung formulierten? Der 1984 in Tel Aviv geborene und heute in den USA lehrende Historiker Daniel Jütte hat dazu eine höchst interessante wissenschaftliche Studie verfasst, in der er auf die Bibel als Quelle verweist und schreibt: »Im Zweiten Buch der Könige findet sich die Geschichte von Isebel, der mächtigsten Königin des Nordreichs Israel, die den Obersten und späteren König Jehu vom Fenster aus verhöhnte. Daraufhin befahl Jehu den Palastdienern, Isebel aus dem Fenster zu stürzen: ‘Er sprach: Stürzt sie hinab! Und sie stürzten Isebel hinab, sodass die Wand und die Rosse mit ihrem Blut besprengt wurden; und sie wurde zertreten.’«

Da Isebel, nebst anderen Untaten, vor allem versucht hatte, Israel vom rechten Glauben abzubringen und an dessen Stelle Götzenkulte zu etablieren, erhielt die Geschichte in der von Konfessionsstreitigkeiten geprägten Frühen Neuzeit ungeahnte Aktualität. Jütte verweist dabei auf die Große Apologie von 1619 – einem weiteren Rechtfertigungsschreiben der Protestanten, in der es explizit hieß, man habe an den kaiserlichen Statthaltern ein Exempel statuieren wollen, ganz so wie das »Exempel an der Verfolgerin deß Volcks Gottes, Königin Jesabel.« Fensterstürze waren also keine spontanen Lynchmorde, sondern meist bewusst in Szene gesetzte Aktionen, legitimiert durch den biblischen Präzedenzfall.

Zuletzt kommt Jütte auf besagten Misthaufen zu sprechen, der den Opfern angeblich zur Rettung wurde. Denn auch hier, so der Historiker, scheine man einen Bezug zur Bibel forciert zu haben. Schließlich berichtet die Bibel, Isebels Leichnam habe »wie Mist auf dem Felde« gelegen. Ein würdeloses Ende, das im Namen der Königin vorweggenommen sei, weil auf Hebräisch der Name »Isebel« auch als »i-zevel« gelesen werden kann, was so viel wie »Frau aus Mist« bedeutet.

Wie dem auch sei, Tatsache ist, dass der böhmische Aufstand binnen weniger Jahre zum bis dahin verheerendsten Krieg der deutschen Geschichte eskalierte, wobei Kaiser Matthias’ Nachfolger (und Cousin) Ferdinand II. eine besonders unrühmliche Rolle spielte. Denn nach Ansicht der Historiker vergab er etliche Male die Chance zum Frieden, getreu seiner Devise: »Ich will lieber über eine Wüste herrschen, als die Ketzerei zu dulden.«

 

Wolfgang Schweiger

 

Quellen: Daniel Jütte »Defenestration as Ritual Punishment: Windows, Power, and Political Culture in Early Modern Europe.«/»Er sprach: Stürzt sie hinab! Und sie stürzten Isebel hinab.« FAZ vom 17. Mai 2017. Wikipedia.

 

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