Jahrgang 2018 Nummer 33

Der Mietenkamer Halt

Ein heute schon völlig vergessener Bahnhaltepunkt

Mietenkam vor 120 Jahren.
Mietenkamer Halt im Jahre 1900.
Mietenkamer Halt mit Bahnhofsrestauration 1920.
Vorbereitung der Sprengung im Steinbruch Stauchdach, circa 1919.
Zementwerk in Staudach circa 1920.
Bahnhofswirtschaft in Mietenkam, 1900.
Franz Schranzhofer nach seinem Unfall mit der Bahn 1926.
Bahnhof Staudach-Grassau mit Schienenbus, 1963.

Auf der Staatsstraße von Grabenstätt kommend an Übersee vorbei passiert man den östlichen Rand von Mietenkam und der Au bei der Ausfahrt des Erlenwegs fast auf der Höhe der gegenüberliegenden Einfahrt zum bisherigen Wertstoffhof und dem Bauhof der Marktgemeinde Grassau an der Tiroler Ache.

Die Staatsstraße wird von Norden kommend beidseitig von jeweils einem Haus begrenzt, dem ehemaligen Bahnhofsgebäude am Mietenkamer Halt und westlich der ehemaligen Bahnhofsgaststätte. Da heute weder die Gleise existieren, noch die Gebäude an einen Bahnhof erinnern, ist dieser wichtige Bahnhaltepunkt fast völlig vergessen und nur noch in der Erinnerung der älteren Bewohner des Achentals lebendig.

Die Idee zum Bau einer Eisenbahnlinie im Tal der Tiroler Ache geht auf das Jahr 1877 zurück. Die betroffenen Gemeinden von Unterwössen über Staudach bis Grassau erhofften sich durch den Bau einer Anbindung an das Eisenbahnnetz einen wirtschaftlichen Aufschwung insbesondere für die bestehenden Sägewerke und Steinbrüche. Es war sogar daran gedacht, die Linie bis nach Reit im Winkl weiterzuführen.

Wegen der problematischen topografischen und geologischen Verhältnisse zwischen Loitzhausen (damals zu Grassau gehörend, heute Gemeinde Marquartstein) und Unterwössen sowie den teils auftretenden Hochwässern der Tiroler Ache bei der Schneeschmelze, zeigte man sich letztendlich aber auch zufrieden mit der Anbindung bis Loitzhausen. Mit Unterstützung einiger privater Firmenbesitzer und der Forstverwaltung beantragten die Gemeinden Reit im Winkl, Oberund Unterwössen, Schleching und Egerndach auf ihre Kosten die Projektierung einer Bahnlinie. Es dauerte aber bis zum 21. April 1884, bis das Projekt wirklich auf den Weg gebracht wurde. An diesem Tag wurde in der Kammer der Reichsräte und der Kammer der Abgeordneten über das »Gesetz, die Herstellung von Bahnen lokaler Bedeutung betreffend« positiv entschieden. So ist dort in Artikel 1 zu lesen:

»…. Der aus Steuermittel zu entnehmende Bedarf für die Herstellung nachstehend aufgeführter Bahnen lokaler Bedeutung wird festgesetzt:

1) Für eine Lokalbahn von Übersee nach Marquartstein auf den Betrag von 319000 M ...«

Über den Bahnbau enthält sie »Nachweisungen über den Bahnbetrieb der Königlich-Bayerischen Verkehrs-Anstalten für das Etatjahr 1885« folgenden Eintrag: »Übersee - Marquartstein, … Die Bahn verursachte, indem dieselbe ganz in der Talsohle der Ache verläuft, nur geringe Erdarbeiten. Der Gesamtauftrag der Bahn betrug 14100 cbm. Eigentliche Kunstbauten kommen nicht vor. Die vorhandenen Durchlässe sind mit Ausnahme eines für die Durchführung der Soleleitung Traunstein-Rosenheim in Mauerwerk hergestellten Durchlasses sämtlich aus Zementröhren hergestellt. Der Unterbau wurde mit 2,5 m Kronenbreite aus Kies, welcher vorzugsweise der Ache entnommen werden konnte, ausgeführt.

Die Hochbauten in den Stationen sowie die Stationseinrichtungen sind dem Bedürfnis angemessen in einfachster Weise hergestellt. Die eigentlichen Bauarbeiten wurden im Juli 1885 begonnen, es waren zeitweilig 105 Arbeiter beschäftigt. Am 10. August 1885 wurde die Bahn dem öffentlichen Verkehr übergeben, nachdem schon vorher die Materialzüge zur Verfrachtung von Zement benützt worden waren.«

Damit war auch Mietenkam an das Eisenbahnnetz angeschlossen. Die kleine Haltestelle bestand nur aus einer Plattform oder Perron, die parallel und mit geringem Abstand zu dem Eisenbahngleis angelegt war, um bei den Zügen das Ein- und Aussteigen zu erleichtern. Mietenkam, ein Ortsteil von Grassau mit circa 200 Einwohnern, 20 Bauern, einem großen Sägewerk, einer Gastwirtschaft mit Brauerei und einer Dampfsäge sowie einem Laden. Dazu gab es eine Kirche und auch eine kleine Feuerwehr. Der eigentliche Mittelpunkt des Ortes war circa einen Kilometer vom Bahnhof entfernt und über den heutigen Erlenweg erreichbar. Dazwischen und südlich davon erstreckte sich der kleine Mietenkamer Ortsteil In der Au mit sieben mehr oder minder großen Bauern.

Die eigentliche Bedeutung der Haltestelle in Mietenkam war nicht die Personenbeförderung, sondern man erhoffte sich, dort Torf und Zement verladen zu können. Deshalb wurde die zweiseitig an das Streckengleis angebundene Ladestelle nach der Streckeneröffnung vorrangig vom Zement- und Kalkwerk Egerndach, Besitzer Georg Pfann, genutzt. Zum Antransport des Putzkalks diente eine etwa 1,6 Kilometer lange Materialseilbahn, die von der Zementmühle in Kitzbichl über die Egerndacher Filzn und die Tiroler Ache bis zur Verladestation führte. Die beiden Steinbrüche und Zementmühlen waren zur Jahrhundertwende und auch den folgenden Jahren die größten Arbeitgeber des Achentals und beschäftigten mehr als 100 Arbeiter. Sie lieferten ihr feuchtempfindliches Fertigprodukt in gedeckten Wagen in alle Teile Deutschlands aus. Der Zement war schnellbindend und zeichnete sich durch Wasserbeständigkeit und äußerste Härte aus. So wurde die Fassade der Akademie der Bildenden Künste in München mit dem »Egerndacher Roman« gefertigt, aber auch das Donaukraftwerk Jochenstein südlich von Passau mit 3500 Tonnen Wetterkalk »Gepeka« erstellt. Der andere Steinbruch, das Staudacher- Zementwerk von Adolph Kroher, war hingegen bekannt als Erfinder der Dacheindeckung mit Betondachziegeln. Er verlud seine Produkte am Bahnhof in Grassau.

Am 17. Dezember 1890 erwarb Martin Scheicher drei Grundstücke von 0,239 Hektar in Mietenkam, darunter auch die Haltestelle. Im darauffolgenden Jahr wurde dort eine Ladehalle der Zementfabrik und ein Kohlemagazin zur Drahtseilbahn gebaut, sodass der Abtransport des Zements problemlos erfolgen konnte. Die Produkte wurden dann in ganz Deutschland und teilweise auch in Österreich verkauft. Leider gibt es keine Bilder der Seilbahn, aber einige ältere Mitbürger erinnern sich noch daran, dass sie in den offenen Transportbehältern gespielt und die Tiroler Ache überquert haben. Zwar war dies verboten, aber die Kinder des Ortes missachteten diese Verbote weitgehend und Kontrollen gab es kaum.

In den 30er Jahren wurde in dem Gebäude auch eine Wohnung ausgebaut. Am 8. April 1948 geht die Verladehalle in den Besitz des Zementund Kalkwerks in Staudach-Egerndach über.

Gegenüber dem Mietenkamer Halt am Beginn des heutigen Erlenweges wurde 1892 von Maria Kirchhölzler, Neuhäuslerstochter von Guxhausen, ein Wohnhaus mit Fremdenzimmern und Waschhaus erbaut. Das Grundstück mit 690 Quadratmeter hatte sie im Jahr davor von Matthias Unterhöller, dem Auinger aus der Au, für 480 Mark gekauft. Am 11. Februar 1896 heiratete der 33 Jahre alte Wirt Johann Berginz aus Ternova in Istrien die 43-jährige Maria Kirchhölzler. 1903 wurde eine Stallung mit Eiskeller angebaut. Der Bau des Eiskellers deutet bereits darauf hin, dass der eingeheiratete Wirt auch eine Wirtschaft betrieb. In einer Postkarte von 1900 wurde es bereits als Bahnhofsrestauration bezeichnet.

Seit der Eröffnung war die Gastwirtschaft recht beliebt bei den Landwirten und einigen Handwerkern der Umgebung, da sie recht abgelegen lag. So konnte man sich ungestört dem Bier hingeben. In der Zeit um die Jahrhundertwende wurde sie auch als Holzschuhwirtschaft bezeichnet, da sie gerne von den Bauern aus Almau und auch aus Mietenkam besucht wurde. Diese stellten ihre Holzschuhe dann vor der Eingangstür ab. Dies verleitete so einige Burschen aus der Au dazu, die Schuhe am Boden festzunageln. Als die Zecher abends dann nach Hause eilen wollten, schlüpften sie in ihre Schuhe, versuchten loszulaufen, aber fielen dann auf ihre Nasen.

In der Folgezeit wechselten die Eigentümer des Hauses sehr häufig, sowohl durch Verkauf, als auch durch Versteigerung oder Erbschaft. So ging das Haus noch 1903 an die Wirtin Elise Erb, welche 1904 den Gastwirt Willibald Fischbacher heiratete, im Juli 1904 durch Tausch an Josef und Therese Aufinger, im Oktober 1904 durch Tausch an Franz und Maria Kendlinger, im April 1906 durch Tausch an Ottilia Offinger, bis es dann 1907 Anton und Therese Hogger um 16500 Mark kauften. 1909 ersteigerte es dann Tobias Valzacchi aus Fridolfing für 14590 Mark, der es dann 1911 an Georg Denk um 16000 Mark verkaufte. Dieser verkaufte es wiederum 1912 an den Restaurateur Franz Ertl aus Palling und Ottilia Gassner aus Traunstein. Durch Zwangsversteigerung um das Meistgebot von 10902 Mark ging es in den Besitz von Franz Xaver Mayer, der es 1918 an Therese Auer in Rosenheim verkaufte. Diese gab das Haus nur wenige Monate später für 25000 Mark weiter an Ludwig und Maria Binder, welche es im Januar 1919 an Johann Anziger für 25000 verkauften.

Am 19. Mai 1919 wurde es dann von Johann und Maria Hofmann für 30000 Mark verkauft. In den folgenden Jahren wurde dann in dem Haus die Gastwirtschaft ausgebaut. Daneben wurden auch fünf Gästezimmer eingerichtet.

Eine bedeutsame Entscheidung wurde am 5. Mai 1933 getroffen. Der Gemeinderat in Grassau übertrug der Gastwirtschaft und ihrem Betreiber Johann Hoffman aus der Au das alleinige Recht, bei der 1000-Jahrfeier in Grassau am Festspielplatz einen Wirtschaftsbetrieb zu errichten. Es wurde dabei festgelegt, dass er sein eigenes Bier ausschenken kann. Falls Weizenbier zum Ausschank kommen sollte, musste es am Ort bezogen werden, die Wurstwaren wechselweise von Hilger und Sperrer und die Limonaden von dem Limonadenfabrikanten Stöttner.

1926 kam es am Bahnübergang in Mietenkam zu einem schweren Verkehrsunfall, von dem auch die Achentaler Zeitung berichtete. Franz Schranzhofer aus Mietenkam wurde dabei mit seinem Fahrrad von der Lokomotive erfasst und mitgeschleift. Das Fahrrad wurde schwer beschädigt und Herr Schranzhofer ins Krankenhaus eingeliefert.

1929 nach der Entwicklung und Einführung des Portlandzements stellte die Staudacher Zementfabrik ihre Produktion ein, während der Egerndacher Produzent sich dem Markt anpassen wollte.

Nach Beendigung des II. Weltkriegs sah er dann beim Wiederaufbau und der verstärkten Nachfrage an Bau- und Heizmaterial seine Chance. Am 20. März 1948 erreichte die Meldung den Ort, dass die Torfindustrie Egerndach, deren Torffelder sich in Avenhausen befanden, einen Teil ihres Betriebs zum Bahnhof in Mietenkam verlagerte. Zu diesem Zweck sollte eine Gleisanlage vom Torfstich über die Ache zur Bahnlinie bei Mietenkam gebaut werden. Dazu wäre eine massive Brücke über die Ache erforderlich. Somit hätte der Torf unmittelbar in die Eisenbahnwaggons verladen werden können.

Zu dieser Zeit waren bei der Firma in Mietenkam schon 25 Arbeiter beschäftigt. Die Beschäftigtenzahl sollte auf 80 gesteigert werden. Dabei sollten vorrangig ledige und auswärtige Arbeiter Beschäftigung finden und keine Familienzuzüge erfolgen. Eine Werksküche war ebenfalls geplant.

Doch schon kurze Zeit nach dieser Meldung zeigte sich, dass diese Planungen nicht verwirklicht werden konnten und so auch keine neuen Arbeitsplätze in Mietenkam entstehen würden. Da auch die Seilbahn über die Tiroler Ache nicht mehr wiederbelebt wurde, verlor der kleine Bahnhof in Mietenkam nach Schließung der Zementproduktion in Egerndach Ende der 50er Jahre vollkommen seine Bedeutung als Verladebahnhof. Er war aber weiterhin wichtig als Zustiegsmöglichkeit für Pendler und Schüler auf dem Weg nach Marquartstein oder über Übersee nach Traunstein. Am 25. Mai 1968 wurde dann der Reisezugbetrieb eingestellt und durch eine Buslinie ersetzt. Am 1. Mai 1970 wurde dann auch die Stückgutabfertigung auf den Bahnhöfen Staudach-Grassau und Marquartstein beendet. Es verblieb lediglich noch der Gütertransport insbesondere von Material aus dem Steinbruch in Lanzing in Marquartstein sowie der Gepäck- und Expressgutverkehr. Der »Mietenkamer Halt« jedoch war seit 1968 ohne Bedeutung.

Am 27. März 1992 wurde dann der letzte Zug in Marquartstein verabschiedet und der Betrieb am 1. April 1992 offiziell eingestellt.

Nur kurze Zeit später begann der Abbau der Gleisanlagen und auch der Bahnhofsgebäude. Lediglich das Verladegebäude in Mietenkam blieb erhalten und ist jetzt ein Wohngebäude. Gegenüber erinnert am Beginn des Erlenwegs ein anderes Wohngebäude an die ehemalige Bahnhofsrestauration. Zwar bestand nach Schließung der Bahnstrecke die Hoffnung, dass auf dieser Trasse ein Radweg entstehen könnte, doch diente diese gerade zwischen dem Bahnhof Staudach-Grassau und Mietenkam der Verbreiterung der Staatsstraße und lässt sich nur noch erahnen.

 

Olaf Gruß

 

33/2018