Der Beginn des Tourismus in der Glockenschmiede
Sommerfrischler in Ruhpolding in den 50er und 60er Jahren





Die ersten Sommerfrischler kamen in den 1950er-Jahren als Übernachtungsgäste in unser Haus. Wir nannten sie die »Fremden«. Aber schon bald durften wir dieses Wort nicht mehr benutzen, wir sollten »Gäste« sagen. Wir drei Kinder wurden samt unserer Habseligkeiten aus unseren Kammern ausquartiert und mussten während der »Saison«, also im Sommer, auf dem Dachboden schlafen.
Unsere Gäste reisten in eigener Regie an. Die »Touropa«-Gäste, die im Sonderzug in Massen nach Ruhpolding fuhren, blieben im fünf Kilometer entfernten Dorf. Wir holten unsere Gäste am Bahnhof ab, anfangs mit unserem 11-PS-Eicher-Bulldog mit Leiterwagen oder Anhänger, ab 1959 mit unserem Käfer mit Brezelfenster. Manche Gäste reisten bereits mit eigenem Auto oder Motorrad an.
Nach der Ankunft mussten sich die Neuangekommenen in das »Gästebuch« eintragen: Name, Adresse, Geburtsdatum und Beruf. Bei den Frauen stand zu neunzig Prozent »Hausfrau« in dieser Rubrik. Jeder nachfolgende Gast konnte die persönlichen Daten der Vorgänger nachlesen – Datenschutz war noch kein Thema. Das Gästebuch war eine begehrte Nachrichtenquelle, denn viele Stammgäste kannten sich untereinander und schauten nach, »wann wer da war«. Von manchen Stammgästen kannten wir fünf Generationen und heute noch besuchen uns Leute, die als Kind mit der Oma und den Eltern bei uns Urlaub gemacht haben und mit ihren eigenen Kindern und Enkeln noch einmal bei uns in Ferien waren.
Die Aufenthaltsdauer betrug in der Regel mindestens zwei Wochen, meistens drei oder auch vier Wochen. Fast alle Gäste schrieben nach ihrer Rückkehr einen Dankesbrief an uns. Auch persönliche Schicksale wurden einander mitgeteilt. Zu Weihnachten tauschten wir selbstverständlich Weihnachtsgrüße aus. In unserem Haus wird bis heute ein großer Karton mit Gästepost aufbewahrt. Viele dieser Weihnachtskarten zeigen liebliche Weihnachts- und Wintermotive, zum Teil mit Goldpuder verziert.
Den Gästen boten wir Übernachtung mit Frühstück an. Die Nacht kostete 2,30 DM, später 2,50 pro Person. In den Zimmern schliefen die Kinder »mit«. Da die Zimmer kein fließendes Wasser hatten, wurden Waschschüsseln und Krüge aus Porzellan zur Verfügung gestellt. Morgens brachten wir den Gästen warmes Waschwasser. Es gab ein WC für alle im Haus.
Unsere Mutter stand um 5 Uhr morgens auf und deckte den Frühstückstisch für die Gäste in unserer Stube. Dafür hatte sie schöne Tischdecken und neues Geschirr gekauft.
Sehr beliebt war das Enziangeschirr, das für die Norddeutschen bayerische Romantik verkörperte. Die Teile wurden nach und nach mit dem Geld erworben, das wir mit den Gästen verdienten. Neu waren auch die Unterteller unter den Tassen die wir selbst nur beim »guten« Geschirr an den hohen Festtagen verwendeten, ansonsten standen Kaffeehaferl ohne Unterteller auf dem Tisch.
Die Anforderungen, die das Zimmervermieten an uns stellte, führten zu einer Verfeinerung unseres Haushalts. Der Tisch wurde sorgfältig gedeckt. Auch stellten wir Vasen mit Blumen oder Latschen auf den Tisch. Es gab eine feine Zuckerdose mit Goldrand, Kaffeekannen, Milchkännchen, Glastellerchen und Glasschälchen für Butter und Marmelade.
Jeder Gast bekam zum Frühstück drei frische, weiße Semmeln. Die Butter schnitten wir morgens in dicke Portionsscheiben, die Marmelade kam in Portionsschälchen auf den Tisch. In den 1950er-Jahren wurde der Bohnenkaffee, den es nur für die Gäste gab, mit der Handmühle gemahlen und von Hand aufgebrüht. Der Duft des frisch gemahlenen Kaffees zog durch das ganze Haus. Frische Milch von unseren Kühen wurde in Halbliter-Milchbechern serviert. Plötzlich fiel nun eine Menge Geschirr zum Abwaschen von Hand an. In den Sommerferien mussten meine Schwester und ich diese ungeliebte Arbeit verrichten.
Auch fanden wir es fein, einen schönen Zigarettenaschenbecher, ebenfalls mit Enzianmuster, auf den Tisch zu stellen. Darauf waren wir stolz, denn er war nicht billig gewesen.
Die Männer bei uns rauchten früher Pfeife, meist mit langem Schaft. Zigaretten waren nicht üblich, da sie wohl zu teuer waren. In meiner Erinnerung rauchten die Frauen nicht.
Auch unsere Sprache veränderte sich. Die Gäste verstanden unser Bairisch nicht, daher wurden wir Kinder angehalten, Hochdeutsch zu sprechen – und höflich zu sein. Meine Schwester und ich unterhielten uns in »Hochdeutsch«, um es gut zu üben. Das nützte uns sehr in der Schule. Das Wort »Preißn«, wie die norddeutschen Gäste vielerorts despektierlich genannt wurden, war in unserem Haus verboten. Wir sollten die Gäste freundlich am Morgen grüßen und fragen, ob sie gut geruht hätten. Unsere Spielkameraden, deren Eltern nicht vermieteten, fanden das sehr merkwürdig und schienen uns zu bedauern: »Es miassts immer freindlich sei zu de Leit«.
Tagsüber machten die Gäste häufig Ausflüge oder Wanderungen. Ich stand ihnen als Wanderführerin auf unsere nahegelegenen Almen und Berge zur Verfügung. Bei Autoausflügen wurde ich häufig mitgenommen, daher kannte ich bald alle Sehenswürdigkeiten in der näheren Umgebung. Mein sieben Jahre älterer Bruder eignete sich als Bergführer, zum Beispiel auf den rund 2700 Meter hohen Watzmann bei Berchtesgaden. Für die daheimgebliebenen Gäste wurden mit buntem Stoff bespannte Liegestühle gekauft, damit sie es sich in der schönen Natur rund ums Haus gemütlich machen konnten.
Für das Abendbrot durften sich die Gäste in unserer Küche Tee kochen und Brote zubereiten. Dazu benutzten sie unser Geschirr. Anschließend saßen wir alle mit den Gästen in der Stube beisammen beim Spielen oder beim Erzählen. Auch eine zarte Liebschaft entwickelte sich zwischen zwei jungen Leuten aus Stammgastfamilien. Wir Kinder durften mit den Gästekindern draußen spielen, bis es dunkel wurde: Federball, Völkerball, »Fangermandl« und ähnliches.
Die Gäste halfen auch bei der Heuernte mit, bei der noch kaum Maschinen eingesetzt wurden. Vor allem, wenn ein Gewitter in Anzug war, pressierte es mit dem Heueinfahren. Der Heuwagen musste von Hand be- und abgeladen werden. Für die Gäste war das ein Spaß und für uns waren sie willkommene Helfer.
Unsere Stammgäste brachten uns fast immer »etwas mit«, zum Beispiel Souvenirs ihrer Heimatstadt oder auch Esswaren, besondere Würste oder süße Spezialitäten. Manche Gäste schickten uns auch Pakete mit hübscher gebrauchter Kleidung. Auch zu Kommunion und Firmung, später zu Verlobung und Hochzeit, erhielt ich Geschenke von den Gästen.
Ein Gästekind wurde meine besondere Freundin: Renate aus Darmstadt.
Als wir uns kennenlernten, waren wir acht Jahre alt. Wir unterhielten eine rege Brieffreundschaft. Renate wollte im Sommer immer nur nach Ruhpolding zu mir fahren und ihre Eltern samt Großfamilie beugten sich diesem Wunsch. Sie blieben für jeweils drei Wochen bei uns. Das war eine Festzeit für mich, denn ihre Familie nahm mich auf jeden Ausflug mit. Mit 17 Jahren besuchte ich meine Freundin zum ersten Mal per Zug in Darmstadt. Sogar meine Mutter reiste einmal dort hin. Umgekehrt kam Renate im Winter zu mir auf Besuch. Ich lehrte sie Skifahren und unternahm mit ihr verwegene Skitouren. Diese Freundschaft besteht immer noch – seit 60 Jahren!
Von dem Geld, das unsere Familie mit dem Vermieten verdiente, konnten wir immer etwas am Haus richten, das heißt, umbauen, verschönern, verbessern. Es wurden mit der Zeit Waschbecken mit Fließwasser in die Zimmer eingebaut, Teppichböden verlegt, neue Schlafzimmermöbel angeschafft und schöne Bettwäsche – zum Teil noch von »Hausierern« gekauft. Rund um das Haus pflanzten wir Blumen, auf dem Balkon blühten üppige Geranien in den Blumenkästen.
Mit dem Massentourismus, der sich im Ortskern von Ruhpolding abspielte, hatte unser Haus nichts zu tun. Allerdings profitierten auch wir von der Touropa-Werbung, die Ruhpolding zu einem der bekanntesten Fremdenverkehrsorte in Bayern gemacht hat. Alles in allem kann ich sagen: Durch den Fremdenverkehr veränderte und erweiterte sich unsere Sicht auf die Welt.
Tyrena Ullrich
43/2018