Büffeln am Sonntag gegen Verderbnis der Sitten
Feiertagsschule im 19. Jahrhundert Pflicht bis zum 18. Lebensjahr


Für heutige Eleven – und nicht minder für ihre Lehrkräfte – sicher eine grauenhafte Vorstellung: Unterricht am Sonntag, und das nicht etwa, um einen ausgefallenen Schultag aufzuholen, sondern Woche für Woche, jahrelang. In Bayern war das mit Einführung der allgemeinen Schulpflicht 1802 gut 100 Jahre Realität. Bis zum ersten Weltkrieg mussten alle Jugendlichen nach der Entlassung aus der Elementarschule bis zu ihrem 18. Geburtstag eine Sonn- bzw. Feiertagsschule besuchen.
Begründet wurde dieser Schritt mit der kurzen Regelschulzeit, die auf sechs Jahre beschränkt worden sei, um »den Eltern ihre Kinder für die notwendigen Feld- und häuslichen Arbeiten nicht zu lange zu entziehen«, wie die von Kurfürst Max IV. Joseph dazu verfügte Verordnung erklärt. Jeder vernünftige Mensch, werde ihm jedoch beipflichten, so der bayerische Landesherr »dass in einem Zeitraume von sechs Jahren nur das Notwendigste gelehrt werden könne, dass das Gelernte, wenn aller Unterricht mit dem zwölften Jahre aufhört, größtenteils wieder vergessen werde, und dass endlich besonders die moralische Ausbildung in diesen Jahren nicht vollendet werden könne.« So mancher lernunwillige Untertan und mit ihm seine Eltern dürften diese Entscheidung als lästige Schikane empfunden haben, doch vor allem die auf private Initiative entstandenen Feiertagsschulen sollten sich als tragende Eckpfeiler für den Aufbau eines modernen bayerischen Schul- und Ausbildungssystems erweisen.
Das Verdienst, 1788 die erste bayerische Feiertagsschule gegründet zu haben, gebührt einem engagierten Lehrer in Landshut: Andreas Forster, Professor am dortigen Gymnasium hatte es sich auf seine Fahnen geschrieben der »Verderbnisse der Sitten, die jetzt allenthalten beklagt« würden, entgegenzuwirken. Nur wenn dem entgegengewirkt werde, könne ein Land gedeihen, hatte Forster den damals noch freiwillig zum Unterricht erscheinenden Lehrbuben und Gesellen bei der Eröffnungsfeier erklärt: »Sie erhalten in diesem Hause Unterricht in der Religion und in den Pflichten eines Staatsbürgers. Beider Unterricht ist notwendig, keiner von dem anderen zertrennlich, weil man ohne Religion weder ein guter, noch glücklicher Staatsbürger sein kann.«
Mit dieser Haltung folgt Forster dem aufgeklärten Absolutismus, wonach jeder einzelne Untertan durch seine Arbeit dazu beitragen müsse, einen Staat vorwärts zu bringen. Wichtigste Aufgabe einer Schule sei es, der heranwachsenden Generation Fleiß und Gehorsam anzuerziehen als Grundvoraussetzung, um die staatsbürgerlichen Pflichten erfüllen zu können. Von diesem hehren Ziel waren vor allem die ländlichen Elementarschulen nicht selten jedoch meilenweit entfernt: Viele der dort eingesetzten Lehrer – oft handelte es sich um abgedankte Soldaten, für die der Staat keine Verwendung mehr hatte – konnten selbst kaum mehr als ihren Namen schreiben und hatten noch weniger Ahnung von Pädagogik. Dazu war auch ihre Bezahlung so schlecht, dass sie sich zusätzlich als Totengräber oder Mesner betätigen mussten, um nicht zu verhungern und es mangelte sowohl an vernünftigen Räumlichkeiten wie auch dem nötigen Mobiliar und Lehrmaterial.
Die Kinder wiederum hatten oft einen kilometerlangen Schulweg zu absolvieren, was auch nicht gerade dazu beitrug, die Begeisterung für den Unterricht zu fördern, vor allem wenn auch ihre Eltern keinen Sinn im Schulbesuch sahen – oder es sich schlicht und ergreifend nicht leisten konnten, auf ihren Nachwuchs als Arbeitskraft zu verzichten. Dieses Dilemma zu lösen, war mit ein Grund für die Einführung der Feiertagsschule, denn der Sonntag galt, von Erntezeiten abgesehen, gemeinhin als arbeitsfrei, weshalb Kinder und Eltern auch im Hinblick auf den sozialen Druck der Dorfgemeinschaft den Besuch des sonntäglichen Unterrichts nicht so leicht umgehen konnten. Ob die mit Defiziten aus der Elementarschule entlassenen Eleven das Versäumte im Sonntagsunterricht tatsächlich aufholten, hing jedoch nicht nur vom persönlichen Willen, sondern auch von der jeweiligen Schule ab, denn wenn sich der Lehrer aus Bequemlichkeit darauf beschränkte, seine Schützlinge den Katechismus oder das Einmaleins hinauf und hinunter leiern zu lassen, brachte das die Jugendlichen nicht wirklich weiter.
Schüler städtischer Feiertagsschulen hatten, vor allem wenn sie von Privatpersonen aus eigenem Engagement heraus ins Leben gerufen wurden, weit bessere Chancen, brauchbares Wissen und Fertigkeiten zu erlernen. Eine der beispielhaften Institutionen der damaligen Zeit war die 1793 von Franz Xaver Kefer in München gegründete Feiertagsschule. Kefer, Sohn eines Gerichtsdieners in Eggenfelden, hatte das Lehrerseminar in Landshut und dann das Lyzeum in München absolviert und war anschließend als Professor an der kurfürstlichen Militärakademie tätig.
In einem Zimmer seiner Privatwohnung in der heutigen Sendlinger Straße hatte er begonnen, interessierten Lehrbuben und Gesellen unentgeltlich Unterricht im Lesen, Schreiben und Rechnen zu geben. An den Stunden teilnehmen konnte jeder, der einen Sitzplatz ergatterte. Der Andrang war jedoch schnell so groß, dass Kefer nach nur einem halben Jahr eine größere Wohnung bezog, auf eigene Kosten einen Hilfslehrer einstellte und das Fächerangebot für fortgeschrittene Schüler erweiterte. Nach zwei Jahren nahmen die ersten von Kefers Eleven an den damals im Beisein der kurfürstlichen und städtischen Schulkommissionen öffentlich abgehaltenen Prüfungen teil und machten mit ihrem guten Abschneiden so gute Werbung, dass der Münchner Magistrat 1796 beschloss, Kefer unentgeltlich ein Gebäude der ehemaligen Seidenfabrik am Anger mit vier großen Räumen sowie Mobiliar und Unterrichtsmaterialen zur Verfügung zu stellen.
1792, ein Jahr vor Kefer hatte Hermann Mitterer, Sprössling einer Bäckerfamilie aus Altenmarkt bei Osterhofen, ebenfalls in München, die »Feiertägliche Zeichnungsschule« gegründet, nachdem er während seiner eigenen Ausbildung an der hiesigen Zeichenakademie festgestellt hatte, wie wichtig entsprechende Kenntnisse nicht nur für angehende Künstler, sondern auch für Handwerker wie Schreiner, Zimmerer oder Baumeister waren.
1798 entschlossen sich Kefer und Mitterer, ihre beiden Institute zusammenzulegen, wodurch die Schülerzahl auf einen Schlag vierstellig wurde. Mit der gesetzlichen Pflicht zum Besuch von Feiertagsschulen 1803 stieg die Zahl noch einmal auf 1400, wodurch die Räume in der Seidenfabrik dann ebenfalls zu klein waren. Kurfürst Max IV. Joseph stellte daraufhin das vormalige Hofwaisenhaus am Kreuz zur Verfügung. Mit dem größeren Gebäude stockte Hermann Mitterer – Franz Xaver Kefer war 1802 im Alter von nur 39 Jahren gestorben – auch das Kursangebot weiter auf: In der Winterzeit konnten Bauhandwerker, die in dieser Zeit in der Regel arbeitslos waren, drei- bzw. viermonatige Blockkurse absolvieren, aus denen sich später die Münchner Baugewerkschule entwickeln sollte. Zusätzlich zum Zeichnen wurde außerdem Bossieren gelehrt, sprich das Herstellen von Büsten und Formen aus Gips, Ton, Wachs oder Stein. Von diesem Angebot profitierten unter anderem die Münchner Metallgießbetriebe, die sich als führend in der damaligen Zeit profilierten und auch neue Techniken wie die Lithographie boomten durch die emsige Forschungsarbeit in den Laboratorien der Feiertagsschule.
Dem weiblichen Teil der Eleven blieben diese technischen Lehrangebote allerdings verschlossen: Anders als in den Elementarschulen, wo Buben und Mädchen gemeinsam unterrichtet wurden, sah die Schulordnung für die Feiertagsschulen getrennte Klassen sowie einen auf »weibliche Bedürfnisse« abgestimmten Lehrplan vor. Welche das waren, wurde allerdings vom ausschließlich aus Männern besetzten Schulgremium vorgegeben. Dem im 19. Jahrhundert noch stark patriarchalisch geprägten Gesellschaftsmodell zufolge hatten Mädchen aus der Bürgerschicht als gute Gattinnen und Mütter zu fungieren, während Frauen aus der Unterschicht zu fleißigen und gehorsamen Dienstboten, Mägden oder Arbeiterinnen herangezogen werden sollten.
Der Zugang zu den meisten Handwerksberufen sowie höheren Schulen oder gar Universitäten blieb dem weiblichen Teil der Bevölkerung bis Anfang des 20. Jahrhunderts dagegen verwehrt. Demzufolge brauchten Mädchen dann auch allenfalls Grundfertigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen und selbst bei der Unterweisung in praktischen Tätigkeiten – für Frauen ausschließlich Handarbeitstechniken – ging dem einen oder anderen konservativen Zeitgenossen wie dem Inspektor der Münchner Feiertagsschule, Anton Fischer, die Möglichkeit, selbst auszuwählen, noch zu weit.
Nach dem Motto »Schuster, bleib bei deinen Leisten« kritisierte Fischer in seinem Jahresbericht über den Zustand der weiblichen Feiertagsschule 1830, dass die Mädchen aus der arbeitenden Klasse sich viel zu sehr mit dem aus seiner Sicht nicht nur unnützen, sondern geradezu gefährlichen Sticken beschäftigten. Viele der Mädchen drängten sich nämlich »der unseligen Sucht zu, es dem Fräuleinstande nachzutun« und würden sich deshalb lieber mit »tändeligen Arbeiten« abgeben, anstatt den Spinnrocken in die Hand zu nehmen und das schöne deutsche Sprichwort »selbst gesponnen, selbst gemacht« aufrechtzuerhalten. Der Inspektor sah es dann auch als vordringlichste Pflicht, dem »ausschweifenden Streben nach Überstandesmäßigem« den Kampf anzusagen, in der Überzeugung, dass die künftigen Ehemänner seiner Feiertagsschülerinnen ihm dafür eines Tages »gewiss unendlich dankbar« seien, wenn ihre bessere Hälfte keine derartigen Flausen im Kopf hätte.
Wenigstens ging der gestrenge Schulinspektor aber nicht so weit, Mädchen auch noch das Recht abzusprechen, lesen und schreiben zu lernen. Fischer ermunterte im Gegenteil sogar ausdrücklich auch jene, freiwillig den Sonntagsunterricht zu besuchen, die »in ihrer Jugend nicht das Glück hatten, eine Elementarschule besuchen zu dürfen«. Er habe, so Fischer – und das macht den doch arg chauvinistischen Beamten tatsächlich wieder sympathisch, die bewegende Erfahrung gemacht, dass sich diese Frauen mit besonderem Eifer in den Unterricht stürzten, »denn sie fühlten in ihren Dienstverhältnissen nur zu oft den großen Nachteil, nicht lesen und schreiben zu können.« Es sei dann auch ein unvergessener Augenblick, wenn diese späten Semester »das erste Mal ein Gebetbuch mit in die Kirche nehmen, selbst im Evangelium lesen oder das erste Mal einen Gedanken zu Papier bringen können.«
Eine seiner Schülerinnen, so Fischer, habe unlängst den ersten Brief ihres Lebens geschrieben – mit 38 Jahren. Anlass für allgemeinen Jubel über das bayerische Bildungssystem von anno dazumal geben diese wenigen Beispiele allerdings nicht, denn die Zahl derjenigen, die entweder gar nicht oder nur rudimentär lesen und schreiben konnten, war auch Mitte des 19. Jahrhunderts nach mehr als einem halben Jahrhundert Schulpflicht in Bayern noch höher als der Teil, der diese grundlegenden Kulturtechniken beherrschte, wobei das, mit regionalen Unterschieden, insgesamt auch auf alle anderen Länder im Deutschen Reich zutraf.
Susanne Mittermaier
42/2018