Jahrgang 2018 Nummer 12

Bankier der Barmherzigkeit

Zum 200. Geburtstag von Friedrich Wilhelm Raiffeisen

Friedrich Wilhelm Raiffeisen.

Solidarität und Hilfe zur Selbsthilfe: Nach diesen Prinzipien lebte Friedrich Wilhelm Raiffeisen. Am 30. März 2018 würde er – neben Hermann Schulze-Delitzsch (1808 - 1883) der große Gründervater des deutschen Genossenschaftswesens – 200 Jahre alt werden. Prinzipien, die Folgen hatten, denn heute sind mehr als 20 Millionen Menschen in Deutschland und weltweit sogar über 800 Millionen Menschen Mitglied einer Genossenschaft. »Allein diese Zahlen zeigen, Raiffeisens Ideen treffen auch heute den Nerv der Zeit, vielleicht sind sie aktueller denn je«, so Werner Böhnke, Vorsitzender der deutschen Friedrich- Wilhelm-Raiffeisen-Gesellschaft.« Doch wer war dieser Mann, dessen Name bis heute in der Bezeichnung zahlreicher Bank- und anderer Genossenschaften weiter lebt?

Geboren wurde Friedrich Wilhelm Raiffeisen am 30. März 1818 im damals preußischen Hamm an der Sieg als siebtes von neun Geschwistern. Sein Vater Gottfried (1782 - 1849) war Landwirt und Bürgermeister des Orts, musste sein Amt aber kurz nach Raiffeisens Geburt aufgrund von Krankheit aufgeben. Fortan brachte Raiffeisens Mutter Amalie (1784 - 1859), eine tiefgläubige Frau, die Familie alleine durch. Aus diesem Grund maß Raiffeisen dem christlichen Glauben zeitlebens große Bedeutung bei, legte aber wenig Wert auf konfessionelle Unterschiede. Er besuchte die Elementarschule, zusätzlich erhielt er Privatunterricht von seinem Patenonkel, dem Pfarrer Georg Wilhelm Seippel. Doch ein Studium konnte er im Anschluss nicht aufnehmen, die Familie war zu arm dafür.

So meldete er sich mit 17 Jahren freiwillig bei der 7. Artilleriebrigade in Köln. Der Militärdienst ermöglichte es ihm, drei Jahre später an der Inspektionsschule in Koblenz eine Ausbildung zum »Oberfeuerwerker«, also zum Munitionsfachkundigen, zu machen. Danach wurde er 1840 in der Eisengießerei Sayn, anschließend wieder in Köln eingesetzt. Hier machte sich erstmals auch eine Augenerkrankung bemerkbar, die später zu seiner fast völligen Erblindung führen sollte. Ein Leiden, das 1843 bereits derart fortgeschritten war, dass er den Militärdienst quittieren musste.

Stattdessen eröffnete sich für Raiffeisen bei der Regierung in Koblenz die Möglichkeit einer Weiterbildung zum Verwaltungsbeamten. Infolge seiner dabei gezeigten guten Leistungen wurde er bereits im Herbst 1843 zum kommissarischen Kreissekretär für Mayen/Eifel ernannt. Im Februar 1845 wurde Raiffeisen dann im Alter von 27 Jahren zum Bürgermeister in Weyerbusch/ Westerwald berufen, wo er im selben Jahr die Apothekertochter Emilie Storck (1827 - 1863) aus Remagen (Rheinland) heiratete. Auch hier bewährte er sich – unter anderem setzte er sich für den Bau von Schulen und einer für die Region wichtigen Straße ein – und empfahl sich so bei seinen Vorgesetzten auch für die Übernahme größerer Bürgermeistereien. Im Frühjahr 1849 wurde er daher erst als Bürgermeister in den mehr als 30 Ortschaften umfassenden Amtsbezirk Flammersfeld versetzt, bevor er dann im Herbst 1852 als Bürgermeister von Heddesdorf eingesetzt wurde.

Erste Erfahrungen mit gemeinschaftlichen Zusammenschlüssen sammelte Raiffeisen bereits in Weyerbusch. Nach der schweren Missernte von 1846, verursacht durch Vulkanausbrüche in Asien und im Pazifik und den damit einhergehenden Klimaveränderungen in Mitteleuropa, gründete er zusammen mit wohlhabenden Bürgern im Notwinter 1846/47 den »Weyerbuscher Brodverein« - anfänglich zur Verteilung von Lebensmitteln, dann für den gemeinsamen Bezug von Saatgut und Kartoffeln. Das bald darauf errichtete Gemeindebackhaus war eine erste genossenschaftsähnliche Einrichtung. Die positiven Ergebnisse ermunterten Raiffeisen, bei seinen Versetzungen nach Flammersfeld und Heddesdorf, dort rasch ebenfalls entsprechende Vereine zu gründen.

Wie in Weyerbusch, so setzte er auch beim Ende 1849 gegründeten »Flammersfelder Hilfsverein zur Unterstützung unbemittelter Landwirte« bzw. dem 1854 ins Leben gerufenen »Heddesdorfer Wohltätigkeitsverein« auf mildtätige Zuwendungen wohlhabender Einwohner. Dabei ging es dem zutiefst christlich geprägten Raiffeisen neben der Kreditvergabe aber auch um soziale Aufgaben wie die Betreuung verwahrloster Kinder oder die Vermittlung einer Arbeitsstelle für entlassene Strafgefangene. Fast zeitgleich gründete in Sachsen Hermann Schulze-Delitzsch die ersten »Rohstoffassoziationen« für Tischler und Handwerker und 1850 die ersten »Vorschussvereine« – die Vorläufer der heutigen Volksbanken.

Doch zu Beginn der 1860er Jahre musste Raiffeisen erkennen, wie vor ihm schon Hermann Schulze-Delitzsch, dass Wohltätigkeit und die von ihm immer wieder betonte christliche Nächstenliebe keine nachhaltige Grundlage für seine Vereine boten. Aus diesem Grund entschloss er sich, zunächst widerstrebend, seine Vereine auf der Basis gegenseitiger Selbsthilfe umzustrukturieren und auf das reine Kreditgeschäft zu beschränken. Zumal die Begüterten sich zunehmend aus den wohltätigen Aktivitäten, für die sie unbeschränkt hafteten (»Einer für alle und alle für einen«), zurückzogen. Mit dem »Heddesdorfer Darlehnskassen-Verein« von 1864 vollzog Raiffeisen endgültig diesen Übergang.

Privat musste Raiffeisen in dieser Zeit einige Schicksalsschläge verkraften. Seine erste Frau verschied 1863 an den Folgen eines Herzschlags. Von ihren insgesamt sieben gemeinsamen Kindern starben drei noch im Kindesalter. Auch Raiffeisen ging es gesundheitlich immer wieder sehr schlecht. Während einer Typhusepidemie in seinem Amtsbezirk hatte er sich bei seinen Krankenbesuchen mit einem Nervenfieber infiziert. Seither litt er unter wiederkehrenden nervösen Störungen, die vermutlich auch sein Augenleiden verschlimmerten und mehrfach zu einer zeitweisen Arbeitsunfähigkeit führten. Infolgedessen wurde Raiffeisen im Herbst 1865 im Alter von erst 47 Jahren pensioniert. Wegen seiner wenigen Dienstjahre als Bürgermeister fiel seine Pension mit 444 Talern im Jahr eher dürftig aus. Um seinen Lebensunterhalt zu sichern, gründete Raiffeisen daher erst eine – wenig erfolgreiche – Zigarrenfabrik und betätigte sich dann mit etwas mehr Erfolg im Weinhandel.

Daneben fand Raiffeisen nun auch wieder vermehrt Zeit, sich seinen genossenschaftlichen Ideen zu widmen. Ein wesentlicher Schritt zur weiteren Verbreitung seines Konzepts war das 1866 von ihm veröffentlichte Buch »Die Darlehnskassen-Vereine als Mittel zur Abhilfe der Noth der ländlichen Bevölkerung sowie auch der städtischen Handwerker und Arbeiter.« Darin schilderte er seine Erfahrungen beim Aufbau von Selbsthilfeorganisationen und gab Hinweise für die praktische Umsetzung. Der Ratgeber fand große Verbreitung und erschien noch zu seinen Lebzeiten in insgesamt fünf jeweils erweiterten Auflagen.

Zu weiteren wichtigen genossenschaftlichen Ideen Raiffeisens zählte auch die Gründung von Zentralkassen, die vor allem den überregionalen Geldausgleich zwischen den einzelnen Darlehnskassen übernehmen sollten. Als Spitzenverband seiner ländlichen Genossenschaften gründete Raiffeisen dabei 1877 unter Beteiligung von 24 Darlehnskassen-Vereinen in Neuwied den »Anwaltschaftsverband ländlicher Genossenschaften.« Differenzen gab es dabei mit Hermann Schulze-Delitzsch wegen praktischer Fragen zur Ausgestaltung der Vereine. Beispiel Kreditfristen: Während Schulze- Delitzsch eine Rückzahlung binnen drei Monaten anstrebte, wollte Raiffeisen auch langfristige Kredite vergeben.

Gesundheitlich inzwischen immer mehr beeinträchtigt, war er bei der täglichen Arbeit für die Verbreitung seiner Genossenschaftsideen bald stark auf die Hilfe seiner ältesten Tochter Amalie (1846 - 1897) angewiesen. Scherzhaft von ihm auch als »Geheimsekretärin« betitelt, musste sie ihm Briefe und andere Schriftstücke vorlesen und seine Korrespondenz führen. Später forderte er sogar von ihr, wegen der Bedeutung ihrer Arbeit für sein Genossenschaftswerk, auf eine geplante Ehe zu verzichten. Ein Wunsch, dem Amalie am Ende auch nachkam. Raiffeisen selbst hatte sich zwar 1868 mit der Witwe Maria Panserot ein zweites Mal verheiratet, doch die angeblich recht spirituell eingestellte Frau – mit der er auch keine weiteren Kinder hatte – war ihm bei seiner Arbeit offenbar keine Hilfe.

1886 war Raiffeisens Gesundheitszustand schließlich derart angegriffen, dass er mit Wirkung vom 1. Mai 1886 von allen seinen Ämtern zurücktrat – wenn auch nur für kurze Zeit. Denn sein Nachfolger wurde schon im August desselben Jahres krank, weshalb Raiffeisen wieder antrat. Nur wenige Monate später zog er sich jedoch eine Lungenentzündung zu, die ihm schwer zusetzte. Zwar konnte er sich davon noch mal erholen, doch viel Zeit war ihm nicht mehr vergönnt. Ein gutes Jahr später verstarb Friedrich Wilhelm Raiffeisen am Mittag des 11. März 1888 in Heddesdorf bei Neuwied. Drei Tage später wurde er auf dem dortigen Friedhof in einem Familiengrab beerdigt.

Über die Trauerfeierlichkeiten berichtete wenige Tage später das Landwirtschaftliche Genossenschaftsblatt: »Groß war die Anzahl Derer, die Vater Raiffeisen auf seinem Letzten Gang begleiteten, aber noch unendlich größer ist die Zahl Derjenigen, die seinen Tod mit uns betrauern, überall da, wo man Verständnis hat für wahre Menschenliebe. Sind doch zahllos die Nachrufe, welche ihm in der Presse aller Länder gewidmet werden.«

Und tatsächlich lebt Raiffeisens Andenken noch immer fort. So waren zum Zeitpunkt seines Todes bereits über 400 Spar- und Darlehenskassen aktiv, und sein Name wurde zum Synonym für die ländlichen Genossenschaften. Nach ihm sind zahlreiche Schulen, Straßen, Gebäude und die Raiffeisenbanken benannt. 1968 wurde eine 5-DMMünze zu seinen Ehren herausgegeben, 2016 wurde die Genossenschaftsidee in die Repräsentative Liste des Immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufgenommen.

 

Wolfgang Schweiger

 

Quellen:

Internet »Genossenschaftsgeschichte. Info«. Portal Rheinische Geschichte.

Michael Klein »Bankier der Barmherzigkeit«.

Die Gemälde von F.W. Raiffeisen und seiner Frau entstammen folgendem Buch: 50 Jahre Raiffeisen 1877-1927 (Neuwied/Rhein 1927) Seite 4.

 

12/2018