Jahrgang 2018 Nummer 31

Auf mittelalterliche Pilger warteten Räuber und Seuchen

Wallfahrer berichten in Tagebüchern über ihre Reisen ins Heilige Land

Bild einer Pilgergaleere aus der illuminierten Handschrift »Beschreibung der Reise von Konstanz nach Jerusalem« von Conrad Grünenberg, um 1486. (Repros: Mittermaier)
Mittelalterlicher Wallfahrer mit einer Jakobsmuschel am Hut, Stock und Mantel als Pilgerzeichen.
Die Grabeskirche, ebenfalls aus der Grünenberg-Schrift, wie sie auch Hans Tucher und Sebald Rieter 1479 vorfanden.

Wallfahren ist weiter in: Allein die Zahl der Pilger, die sich auf Wanderschaft nach Santiago de Compostela begeben, hat sich in den vergangenen zehn Jahren mehr als verdoppelt: Über 300000 Personen waren es im vergangenen Jahr, wobei gut 20000 davon aus Deutschland kamen, und sie folgen damit einer langen Tradition, deren Wurzeln bis mindestens ins 13. Jahrhundert zurückreichen. Während heute die schlimmsten Erlebnisse von Wallfahrern in der Regel in schmerzhaften Wasserblasen oder fehlender Kondition gipfeln, brauchten Pilger anno dazumal erst einmal eine gehörige Portion an Unerschrockenheit, um sich überhaupt in ein derartiges Unternehmen zu stürzen, sie mussten jederzeit damit rechnen, Bekanntschaft mit Straßen- und Seeräubern, Seuchen oder Seelenverkäufern zu machen. Hans Tucher und Sebald Rieter, die 1479 ins Heilige Land aufbrachen, liefern in ihren Tagebüchern einen interessanten Einblick in den Alltag damaliger Wallfahrer, den die beiden Nürnberger Patrizier auf ihrer über einjährigen Reise zum Glück ohne größere Blessuren überstanden.

Jerusalem, Jericho und Bethlehem waren schon seit dem frühen Mittelalter wichtige Pilgerstätten des Christentums und daran hatte auch die Einnahme des Heiligen Lands durch die Muslime – politisch gehörte das Gebiet seit Beginn des 14. Jahrhunderts zum ägyptischen Reich der Mameluken – nichts geändert. Die Philologin Maria Dorninger, die sich mit mittelalterlicher Reiseliteratur beschäftigt, vergleicht die Ausmaße und Strukturen damaliger Pilgerfahrten gar mit dem heutigen Massentourismus: Etwa 30 bis 50 Prozent der europäischen Bevölkerung hätten sich im ausgehenden Mittelalter zumindest einmal im Leben auf eine Wallfahrt begeben – für Santiago die Compostela nennt Dorninger eine jährliche Besucherzahl von bis zu 500000 Personen, also noch weit mehr als aktuell, wobei der überwiegende Teil hier aber, wie auch heute, von der iberischen Halbinsel selbst gekommen sein dürfte. Für bayerische Zeitgenossen waren Reisen, wie sie Rieter und Tucher unternahmen, allerdings einer kleinen Minderheit vorbehalten, denn der Durchschnittsbürger konnte sich ein derartiges Unternehmen gar nicht leisten: Um die 300 venezianischen Dukaten aufzubringen, die Tucher als Reisekosten nennt, hätte ein damaliger Handwerksmeister 15 Jahre lang schuften müssen. Für Gläubige, die unbedingt in weit entfernte Orte pilgern wollten, aber nicht den entsprechenden finanziellen Hintergrund hatten, blieb allerdings die Möglichkeit, sich als Diener zu verdingen – oder als sogenannter »Berufswallfahrer« aus der Pilgerei sogar ein Geschäft zu machen: Wollte jemand nicht selbst die Strapazen auf sich nehmen, konnte er oder sie einen bezahlten Stellvertreter losschicken, der dann für den Auftraggeber die Buße erlangte. Dieses Arrangement galt sogar in Fällen, wo ein Delinquent als Sühne für Mord oder Totschlag zu einer Wallfahrt verdonnert worden war, seine Strafe aber nicht selbst »ablatschen« wollte. Als Beweis, dass er seine Pflicht erfüllt hatte, musste der Ersatzpilger dann Pilgermarken wie die Jakobsmuschel aus Santiago, ein gekreuztes Schlüsselpaar aus Rom und eine Palme aus Jerusalem vorweisen. Allerdings waren auch hier gewiefte Betrüger unterwegs, die gefälschte Marken verhökerten, mit denen sich ein Wallfahrer schmücken konnte, ohne jemals auch nur in die Nähe der entsprechenden Orte gekommen zu sein. Hans Tucher und Sebald Rieter gehörten, dem Ton ihrer Aufzeichnungen zufolge, aber zu der Gruppe von Pilgern, die sich tatsächlich aus einem inneren Bedürfnis heraus auf den Weg machten.

Als die beiden Nürnberger am 6. Mai 1479 aufbrachen, wurden sie zunächst noch von mehreren Bediensteten begleitet, von denen am Ende aber nur einer, weil er den Weg gut kannte und als Pferdeknecht diente, bis nach Venedig mitreiste, wobei die Gruppe die Strecke von der Noris in die Lagunenstadt in erstaunlich kurzen zwölf Tagen zurücklegte. In Venedig, von wo sie mit dem Schiff weiterreisen wollten, bezogen Tucher und Rieter ein Quartier im »Fondaco dei Tedeschi«, der deutschen Handelsniederlassung. Damit entgingen sie der damals nicht seltenen Gefahr, betrügerischen Wirten in die Hände zu fallen, die unerfahrenen Opfern für Unterkunft und Verpflegung derartige Unsummen aus der Tasche zogen, dass diese schon vor der eigentlichen Wallfahrt finanziell völlig abgebrannt waren. Venezianische Gastronomen waren aber längst nicht die einzigen Halsabschneider, die Pilger zu schröpfen pflegten: Auch Besitzer und Kapitäne von Schiffen langten kräftig zu: Wer nicht vor Antritt einer Überfahrt deren Kosten und Bedingungen aushandelte – es dauerte damals etwa sechs Wochen, die Strecke an der dalmatinischen Küste entlang über Rhodos, Kreta und Zypern nach Jaffa zu absolvieren – lief Gefahr, unterwegs zu hungern und dürsten. Oft entpuppte sich die Unterkunft an Bord wie auch die Verpflegung trotz großartiger Versprechungen nämlich als so miserabel, dass die Passagiere mitunter mehr tot als lebendig in Jerusalem ankamen. Tucher, der mit seinen 51 Jahren für damalige Verhältnisse auch nicht mehr der Jüngste war, und als Patrizier sicher einen gewissen Komfort gewohnt war, empfahl, wenn möglich, auf Galeeren anstatt auf Lastschiffen zu reisen. Das sei zwar teurer, doch Transportkähne fuhren oft sehr langsam und legten auch nicht so oft an, weshalb es für die Passagiere mitunter unmöglich sei, sich unterwegs mit frischem Proviant zu versorgen. Auch wer Verköstigung an Bord gebucht habe, sollte sich trotzdem zusätzlich mit Lebensmitteln versorgen: er selbst habe während seiner ganzen Reise nie erlebt, dass jemand sich über »zu viel Zehrung« beklagt habe. Als geeigneten Proviant schlug der Nürnberger gesalzene Butter, Käse, Zwieback, getrockneten Stockfisch, Räucherschinken und Erbsen vor, und – nicht zu vergessen Wein, laut Tucher: »eines Mannes Leben auf der Reiß.« Gegen Seekrankheit und zur besseren Verdauung sollten roher Ingwer, Konfekt, kandierter Koriander und Zitronat im Reisegepäck nicht fehlen. Um im Heiligen Land nicht unnötig aufzufallen, sei es am geschicktesten, sich in Venedig als Kleidung einen schwarzen Kittel zu besorgen. Tatsächlich war es generell üblich, sich in eine für Pilger übliche, dunkle Kutten und einen breitkrempigen Hut zu gewanden, denn das hielt zumindest den einen oder anderen Schurken vor Übergriffen ab. Als Reisegepäck schlug Tucher eine große Truhe vor, in der man nicht nur all seine Habseligkeiten, sondern zur Not auch sich selbst in der Nacht unterbringen konnte, wenn das Ungeziefer in den Herbergen oder auf dem Schiff gar zu lästig werde. Dass das Leben an Bord alles andere als ein Zuckerschlecken war, bestätigen die Schilderungen eines Pilgers, der drei Jahre vor Tucher und Rieter im Gefolge von Herzog Albrecht von Sachsen ebenfalls nach Jerusalem unterwegs war: Im Sommer leide man bei der Überfahrt »gar große Hitze« und darüber hinaus »sein dermaßen viele große Ratzen da, die einem des nachts über die Mäuler laufen.« Dazu die ständige Gefahr, dass jemand sorglos mit seinem offenen Licht umging und »wenn Feuer auskeme«, dieses nicht zu löschen sei. Mit der Nachtruhe war es aber auch aus anderen Gründen nicht weit her: man werde ständig vom Schlafen abgehalten von rücksichtslosen Mitpassagieren, die sängen und grölten, mitunter noch extra laut, nur um andere zu ärgern. Doch das war noch lange nicht alles an Unbill, was mittelalterliche Schiffspassagiere erwartete: Von wochenlanger Flaute über tosende Stürme, bedrohten auch tückische Seuchen oder geldgierige Piraten das leibliche Wohl. Wer als Christ muslimischen Seeräubern in die Hände fiel, musste damit rechnen, entweder auf dem Sklavenmarkt zu landen, oder, wenn es sich um ein betuchtes Opfer handelte, in irgendeinem finsteren Loch schmachten zu müssen, bis sich jemand fand, der ein entsprechendes Lösegeld bezahlte. Dass es sich bei derartigen Geschichten keineswegs um aufgebauschtes Seemannsgarn handelte, belegen Tuchers Aufzeichnungen: Bei ihrer Anfahrt auf Modon, heute Methoni im Süden der Peloponnes, die damals unter venezianischer Herrschaft stand und ein wichtiger Stützpunkt für den Schiffsverkehr im östlichen Mittelmeer war, habe ein katalonisches Raubschiff außerhalb des Hafens auf Beute gelauert, worauf der Kapitän von Tuchers Galeere lieber auf offenem Meer vor Anker gegangen und erst einen Tag später in den Hafen von Modon eingelaufen sei, als das Piratenschiff »vor uns hinweg gefahren«. Und beim nächsten geplanten Halt in Candia drohte schon wieder Gefahr, diesmal allerdings nicht durch Seeräuber, sondern wegen »des großen Sterbens«, sprich einer Seuche, die damals in der Küstenstadt wütete und die Mannschaft dazu veranlasste gleich bis Rhodos weiter zu segeln.

Als das Schiff dann nach sechs Wochen auf See endlich am Zielort Jaffa angelangt war, konnten sich die Pilger zwar freuen, denn sobald sie ihre Füße auf den Boden des Heiligen Lands gesetzt hatten, waren ihnen – die ehrliche Bereitschaft zur Buße vorausgesetzt – von der katholischen Kirche sämtliche Sünden vergeben. Doch die Hoffnung, sich nun endlich von den Reisestrapazen erholen zu können, wurde den Ankömmlingen sofort genommen: Anstatt in einer ruhigen Herberge fanden sich Tucher und Rieter mit den anderen Passagieren zusammengepfercht in einer finsteren Höhle wieder, in die sie, direkt vom Schiff weg, von den örtlichen Zöllnern verschleppt worden waren und drei Tage lang eingesperrt ausharren mussten, bis sich ihre Entführer mit dem Kapitän über die Höhe des »Einreisegeldes« geeinigt hatten. Essen und Trinken hätten sie während ihrer Gefangenschaft nur von barmherzigen, christlichen Einheimischen erhalten. Endlich in Freiheit, mussten sich die Reisenden auf ihrem Weg zu den Pilgerstätten dann auch noch von der einheimischen, muslimischen Bevölkerung beschimpfen und mit Steinen bewerfen lassen, während die eigentlich für ihre Bewachung zuständigen Militärs tatenlos zusahen. Und als sie schließlich ihr lang ersehntes Ziel Jerusalem erreicht hatten, durften sie auch nicht schnurstracks zu den Sehenswürdigkeiten gehen, sondern mussten erst dem Gouverneur der Stadt »eine beträchtliche Summe« überreichen, um eine Erlaubnis zur Besichtigung unter anderem der Grabeskirche zu erhalten. Dort erhielten Tucher und Rieter, zusammen mit etlichen anderen Standesherren den Ritterschlag des Ordens zum Heiligen Grab, eine vom Heiligen Stuhl in Rom abgesegnete Zeremonie, mit der Adelige für ihre Pilgerfahrt belohnt wurden. Nachdem die frischgebackenen Ritter aus Nürnberg auch die übrigen Stätten des frühen Christentums in und um Jerusalem besucht hatten – unter anderem das Wohn- und Sterbehaus der Gottesmutter und das Kloster am Monte Sion – zogen sie in einer kleineren Reisegruppe weiter nach Gaza, zum Katharinenkloster im Sinai und von dort nach Kairo und Alexandria, von wo sie die Rückreise antraten. Als sie nach mehr als einem Jahr in der Ferne, im April 1480 wieder wohlbehalten in der Heimat ankamen, wurden sie vor den Toren Nürnbergs von einer jubelnden Menge empfangen und in die Stadt geleitet. Tuchers Aufzeichnungen enden, nach all den Mühen und Gefahren, denen er während des vorangegangenen Jahres ausgesetzt war, sicher aus tiefstem Herzen kommend mit den Worten: »Gott sey gelobt und geehret allwegen. Amen.«

Susanne Mittermaier

31/2018