Jahrgang 2018 Nummer 19

Älteste Flaschenpost der Welt stammt von einem Bayern

Georg von Neumayer wollte vor 132 Jahren Meeresströmung erforschen

Georg von Neumayer 1902, ein Jahr vor seiner Pensionierung. (Repros: Mittermaier)
Die nach 132 Jahren gefundene älteste Flaschenpost stammt aus einem Projekt Neumayers. (Foto: dpa/Illmann)
Das Schiff »Gauss« im Packeis während der ersten deutschen Südpolexpedition 1901.

Eigentlich wollte Tonya Illmann im vergangenen Januar nur ein wenig von dem herumliegenden Müll entsorgen, über den sie auf einem Spaziergang an der Küste nördlich von Perth gestolpert war. Doch dann entdeckt die Australierin eine auffällig geformte Glasflasche, halb vom Sand verdeckt. Die würde sich gut als Blickfang in ihrem Bücherregal machen, findet sie und steckt ihren Fund ein. Was die Fotografin nicht ahnt: Sie hat gerade die älteste Flaschenpost der Welt gefunden, im Juni 1886 westlich von Australien vom deutschen Forschungsschiff »Paula« ins Wasser geworfen. Veranlasst hat die Aktion der pfalz-bayerische Wissenschaftler Georg von Neumayer, der mit im Lauf der Jahre insgesamt 6500 verschickten Flaschen die Meeresströmung erforschen wollte. Die Mitarbeiter des Bundesamts für Seeschifffahrt und Hydrographie in Hamburg, das aus der von Neumayer gegründeten Deutschen Seewarte hervorgegangen ist, staunten jetzt nicht schlecht, als sie von Illmanns Fund erfuhren. Mit genau 131 Jahren und 223 Tagen vom Einwerfen bis zum Auffinden handelt es sich bei der Ginflasche mit dem vergilbten Zettel im Innern um die weltweit am längsten unterwegs gewesene Flaschenpost.

Bisher unerforschten Metiers ihr Geheimnis zu entlocken, stand schon in jungen Jahren ganz oben auf der Wunschliste von Georg von Neumayer, der 1826 – noch ohne das »von«, das wird er erst 1903 von Prinzregent Luitpold für seine Verdienste erhalten – im pfälzischen Kirchheimbolanden zur Welt kam. Sein Wissensdurst, gepaart mit einem Faible fürs Abenteuer sollte von Neumayer zu einem der führenden Geophysiker und Hydrographen seiner Zeit machen. Schon während seines Studiums an der Münchner Universität stellt der Pfälzer fest, dass ihm all das theoretische Wissen, das er dort paukt, nicht viel helfen wird, wenn er nicht entsprechend praktische Erfahrung sammeln kann. Er bewirbt sich deshalb bei der deutschen Marine, wird aber nicht genommen. Dann probiert er es bei der österreichischen Flotte, wird aber auch dort abgewiesen.

Doch von Neumayer gibt nicht auf: Wenn es beim Militär nicht klappt, muss er es eben in der zivilen Schifffahrt versuchen. An der Hamburger Navigationsschule erwirbt er ein Patent als Steuermann, und nachdem er dann auch sein Studium erfolgreich mit dem Doktortitel abgeschlossen hat, heuert er als Seemann auf der »Reihersteg« an. Die gerade vom Stapel gelaufene Brigg soll im Linienverkehr Passagiere und Waren zwischen Deutschland und Australien befördern, und der erst wenige Jahrzehnte zuvor von James Cook entdeckte Kontinent ist genau der Ort, an den es den frischgebackenen Akademiker zieht.

Als die »Reihersteg« im April 1852 den Hamburger Hafen verlässt, ahnt Georg von Neumayer allerdings nicht, dass er sich mit seinen Forschungen am anderen Ende ein bis heute erhaltenes Vermächtnis erschaffen wird. Als die »Reihersteg« im August 1852 nach viermonatiger Fahrt im Hafen von Sidney anlegt, wird der 26-Jährige Augenzeuge eines merkwürdigen Vorfalls: All die anderen Matrosen machen sich in Windeseile mit Sack und Pack von dannen, und von Neumayer bleibt als einziger der Mannschaft an Bord zurück. Die Ursache für die Massendesertation waren Goldfunde in der Region nördlich von Sidney, die ein Jahr zuvor auf der ganzen Welt für Schlagzeilen gesorgt hatten und seitdem strömten ganze Heerscharen – darunter auch die Seemänner der »Reihersteg« – ins australische Hinterland, um ihr Glück zu versuchen.

Von Neumayer wird sich zwar auch als Schürfer versuchen, doch erst ein halbes Jahr später, nachdem er in Melbourne ordnungsgemäß abgemustert hat. Wirklich ergiebig ist seine Suche nach Edelmetall allerdings nicht, und so wendet sich der Wissenschaftler, der sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hält, dem zu, was ihn eigentlich nach Australien geführt: Er misst Winde, Strömungen und magnetische Werte, notiert und vergleicht, um mit all den Daten neue, idealere Seerouten zu ermitteln. Nach zwei Jahren Forschungsarbeit bricht er seine Zelte in »Down Under« wieder ab und kehrt in die Heimat zurück. Dort will er Geldgeber für den Bau eines geophysikalischen Observatoriums in Australien auftun, das er bräuchte, um seine Forschungen auszuweiten.

Auf Fürsprache des Präsidenten der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Justus von Liebig, gewinnt von Neumayer schließlich einen Gönner allerhöchsten Rangs: Der bayerische König Max II. gewährt ihm eine Finanzspritze mit der Begründung, es sei zwar vielleicht merkwürdig, dass ausgerechnet der Herrscher eines binnenländischen Staates die ozeanische Forschung unterstütze, er sei jedoch überzeugt, »dass die Ermittlung der Verhältnisse, die zur Sicherung und Beschleunigung der Seeverkehrswege die Grundbedingungen bieten, auch wesentlich zur Beförderung und Hebung des Handels dienen, nicht nur für Deutschland, sondern für die ganze Kulturwelt.«

Dankbar für die Weitsicht seines Königs und mit entsprechenden Mitteln ausgestattet, bricht von Neumayer 1856 erneut nach Australien auf, um eine bereits vorhandene Beobachtungsstation in Melbourne für seine Bedürfnisse auszubauen. Ein Jahr nach seiner Ankunft geht das Flagstaff Observatory in Betrieb. Nachdem die örtlichen Kolonialbehörden in Bezug auf das Projekt zunächst sehr zugeknöpft reagiert hatten, stellten sie schnell fest, dass auch die britische Seefahrt von Neumayers Forschungen profitieren kann, worauf sie sich bereit erklären, zukünftig die Kosten für den Betrieb des Observatoriums zu tragen, das bis heute besteht.

Sieben Jahre lang wird Georg von Neumayer als Direktor eigenhändig Daten sammeln, wozu er insgesamt 11000 Meilen, umgerechnet knapp 18000 Kilometer zu Fuß oder per Pferd, zurücklegt. Doch die Vermessung Australiens ist nur ein Zwischenschritt für ein noch viel ehrgeizigeres Projekt, das ihm schon seit Jahren im Kopf spukt: Der Pfälzer ist fasziniert von der Idee, das südliche Polarmeer zu erforschen. Georg von Neumayer ist fest davon überzeugt, dass die deutsche Seefahrt von einer Expedition ins Ewige Eis enorm profitieren könnte. Wie beim Observatorium in Melbourne muss er aber auch jetzt jahrelange Überzeugungsarbeit leisten, bis er die Admiralität der deutschen Marine schließlich an Bord hat.

Am 21. Juni 1874 bricht das Forschungsschiff »Gazelle« mit 336 Mann Besatzung und sechs zivilen Wissenschaftlern mit Ziel arktisches Meer auf. Georg von Neumayer selbst ist allerdings nicht mit von der Partie: Ob er wegen gesundheitlicher Probleme auf eine Teilnahme verzichtete oder inzwischen seine Abenteuerlust gestillt war, ist nicht bekannt. Möglicherweise wollte er aber auch seine Arbeit als Direktor der von ihm selbst 1868 ins Leben gerufenen Norddeutschen Seewarte, die 1875 in der Deutschen Seewarte aufgehen sollte, nicht im Stich lassen. In dieser Funktion wird Georg von Neumayer dann auch das Projekt Flaschenpost lancieren, wobei immerhin von jeder zehnten ausgesetzten Flasche eine Rückantwort kommt.

Auch die Expedition der »Gazelle« verlief erfolgreich: Nach viermonatiger Fahrt war das Schiff auf den Kerguelen gelandet, einer Inselgruppe am Rande der Antarktis. Obwohl es sich um ein wahrlich »trostloses Fleckchen Erde« handelte, wie einer der Forschungsteilnehmer in seinem Tagebuch notiert, war die deutsche Crew damals nicht allein vor Ort: Auch eine amerikanische und eine britische Gruppe hatte es auf die unwirtlichen Eilande verschlagen, um von dort ein seltenes astronomisches Ereignis mitzuerleben, nämlich den Vorübergang der Venus vor der Sonne. Von der Beobachtung des Phänomens, das davor zuletzt 1769 stattgefunden hatte, erhofften sich die Wissenschaftler neue Erkenntnisse zur Berechnung des Abstands von der Erde zur Sonne. Aus Sicht der deutschen Admiralität war die Anwesenheit einer deutschen Forschergruppe neben Briten und Amerikanern eine prestigeträchtige Angelegenheit, denn im allgemeinen Wettrennen um die Vormachtstellung auf den Weltmeeren war Deutschland im Vergleich zu anderen Seefahrtnationen doch eher im Hintertreffen. Die Publicity, die die Polarexpedition einbrachte, war deshalb Wasser auf den Mühlen nationalistisch gesinnter Militärs und Politiker, und Georg von Neumayer konnte dies nur recht sein, denn so kam er leichter an Gelder für die Wissenschaft.

Nach einem mehrmonatigen Aufenthalt, während dem die Forscher in eisigster Kälte in primitiven Unterkünften und einer provisorischen Messstation tapfer ihre Messreihen absolvieren, setzt die »Gazelle« wieder Segel und kehrt, nachdem sie auch noch schnell die Welt umsegelt hat, im April 1876 nach Deutschland zurück.

Aus Georg von Neumayers Sicht sollte diese Expedition aber nur ein Anfang sein: In den folgenden Jahrzehnten wird der Meereskundler unzählige Denkschriften veröffentlichen und vor Kommissionen und auf Tagungen dafür eintreten, die Erforschung des Südpols in Angriff zu nehmen.

1901 bricht noch einmal eine deutsche Delegation auf, die über die Kerguelen am Rand der Antarktis hinaus in Richtung Süden vordringen wird. Es ist eine neue Generation von Wissenschaftlern, die das fortsetzt, was Georg von Neumayer ein halbes Jahrhundert zuvor begonnen hat, nämlich die Erforschung fremder Welten im Dienst der deutschen Seefahrt.

Für den verdienten Gelehrten geht das Leben dagegen langsam zu Ende: 1903 legt er mit 77 Jahren das Amt als Direktor der Seewarte nieder und kehrt in die pfälzische Heimat zurück. Über sein Privatleben ist nicht viel bekannt; Georg von Neumayer hat nie geheiratet und wird die Jahre nach der Pensionierung bei seiner Schwester in Neustadt an der Weinstraße verbringen, wo er im Mai 1909 im Alter von 83 Jahren stirbt. Die Erinnerung an ihn lebt nicht nur in Melbourne fort, auch in der Antarktis wurde ihm im ewigen Eis ein Denkmal gesetzt: Die 1981 errichtete, erste dauerhafte deutsche Antarktisstation trägt seinen Namen, nach mehrfachen Umbauten inzwischen mit dem Zusatz »III« versehen.

 

Susanne Mittermaier

 

19/2018