»Ach neige, Du Schmerzenreiche ...«
Goethes »Faust« auf der Theaterbühne – zu bewundern im Deutschen Theatermuseum





Man muss kein Theater-Experte sein, um Christian Jank zu kennen. Der Landschafts-, Architektur-, Bühnen- und Dekorationsmaler war ein Lieblingskünstler des Märchenkönigs Ludwig II. In seinem Auftrag schuf er Entwürfe für Schloss Neuschwanstein und stattete Schloss Linderhof aus. Wer kennt nicht wenigstens eines der Schlösser des Bayernkönigs? Der gebürtige Münchner Christian Jank, dessen Vater Angelo als Tiermaler bekannt wurde, löste eine der wichtigsten Fragen der neueren Theatergeschichte und Theaterpraxis: Wie sind die für J. W. von Goethes »Faust«-Drama nötigen, zahlreichen und überdies rasch wechselnden Schauplätze auf der Bühne zu realisieren? Jank beantwortete die Frage mit einem »ganzheitlichen« Kulissenbau-Entwurf für das Münchner Hoftheater. Und das in seinem Sterbejahr 1888, da war er erst 55 Jahre alt.
Die schmale Treppe im Deutschen Theatermuseum am Münchner Hofgarten zweimal hinauf – und der Besucher der neuesten, großen Ausstellung »Faust-Welten« steht vor einem bezaubernden Schaubild. Das erzählträchtige Sujet bietet alles in einem: Straße, Frau Marthens Garten, Brunnen, Zwinger, »Vor Gretchens Tür«, Dom. »Zumindest von der zweiten Straßen- bis zur Dom-Szene« konnte so die »Gretchentragödie … ohne Umbaupausen durchgängig gespielt werden. Dafür hätte das Gretchen den Monolog 'Meine Ruh' ist hin …' im Fenster ihres Hauses sprechen müssen, wofür Jank im zweiten Fenster von links einen Bildhinweis gegeben hat … – was schriftlich belegt ist«.
In der umfassenden, belehrenden, Theaterblut in Wallung bringenden und erstaunlichen Schau, die den Kuratorinnen Claudia Blank und Katharina Keim gelang, galt es in erster Linie zu zeigen: Goethes zweiteiliger »Faust« ist kein »Lese- Drama«. Seit seiner Braunschweiger Uraufführung 1829 schlagen sich Intendanten, Darsteller, vor allem aber Regisseure und Ausstatter immer wieder neu mit der Frage nach einer zufriedenstellenden Bühnen-Realisierung herum. Der Theatermann Goethe selbst hatte sein Hauptwerk als »inkommensurabel« eingeschätzt.
Aus beinahe 150 Jahren deutscher Theatergeschichte stammen die 23 Bühnenbild-Modelle, die die Ausstellung, nicht zuletzt dank großzügiger Leihgaben von Wien bis Köln, bietet. Begonnen wird bei den bemalten, hintereinander an Zugstangen aufgehängten Leinwänden des Illusionisten Angelo II. Quaglio, München 1875. Staunen kann man über diverse Simultanbühneneinrichtungen – etwa die von Clemens Holzmeister für Max Reinhardts Salzburger Festspielaufführung in der Felsenreitschule 1933 errichtete »Fauststadt«. Seit 1896 gibt es allerdings fast nur noch Drehbühnen-Modelle, vom Berliner Theaterzauberer Max Reinhardt und seinem Bühnenbildner Alfred Roller (1909) bis zu Frank Castorfs so genanntem Berliner »Kolonialismus «-Faust von 2017.
Eine szenische Lösung des »Faust«-Bühnen-Problems fällt aus dem Rahmen der vielen Varianten – von der Guckkasten-Mysterienbühne über die Bühnen-Spirale bis zu verschiebbaren Kulissen-Tafeln aus der Jugendstil-Zeit – und das war 1987 eine ureigene Münchner Erfindung. Das Duo Dieter Dorn (Regie) und Jürgen Rose (Ausstattung), beide Herren höchst verdienstvolle Theaterkünstler, schuf vor gut 30 Jahren eine bis dato noch nie dagewesene Präsentations-Art des Goethe-Dramas: den »theatralen Guckkasten«. Diese »ureigene szenografische Erfindung« ist laut Theatermuseums-Chefin Claudia Blank dem Bühnenbildner Jürgen Rose zuzuschreiben. »Quietschgelb« habe er seinen Guckkasten ausgemalt. Er bildete nicht die Wirklichkeit ab, er täuschte sie vor, er abstrahierte das sich darin abspielende Geschehen. Die Wände bestanden aus Papier. Mit sparsamen Versatzstücken waren die Räume bestellt.
Eindrucksvoll wirken die »Guckkasten«-Szenen auf den heutigen Modell-Betrachter. Der Dichter gab zur »Zwinger«-Szene folgende Anweisung: »In der Mauerhöhle ein Andachtsbild der Mater Dolorosa, Blumenkrüge davor«. Diese Vorschrift missachtete Rose vollkommen. Ihm war jeder Schmuck-Gedanke, der leicht ins Süßliche hinüberwechseln hätte können, fern. Seine Figuren waren armselige Menschlein. Mephisto und sein Gefolge sah er in höllischem Rot. Überdimensional groß war seine ganz in Blau getauchte »Mater Dolorosa « aus Pappmaché, zu der die in Bedrängnis geratene Margarethe, Fausts Liebhaberin, fleht: »Hilf, rette mich von Schmach und Tod!« Zuvor wendet Gretchen sich mit einem langen Gebet an die Schmerzensmutter:
»Ach neige, / Du Schmerzenreiche, / Dein Antlitz gnädig meiner Not! // Das Schwert im Herzen, / Mit tausend Schmerzen / Blickst auf zu deines Sohnes Tod. // Zum Vater blickst du, / Und Seufzer schickst du / Hinauf um sein' und deine Not. // Wer fühlet, / Wie wühlet / Der Schmerz mir im Gebein? / Was mein armes Herz hier banget, / Was es zittert, was verlanget, / Weißt nur du, nur du allein! …«
Nicht einmal eines der sieben Schwerter durchbohrt bei Jürgen Rose Mariens Herz, wie die christliche Ikonografie das Leiden der Mutter des Gekreuzigten meist verstärkt. Ein Schwert, wie es gelegentlich zu sehen war, hätte genügt. Gretchen fasst Vertrauen zu einer mächtigen, kraftvollen Mutter, die ihre gefallene »Tochter« in ihren weiten Schutzmantel schließen sollte. Doch kehrt sie der aus Verzweiflung über ihre aussichtslose Lage Flehenden schroff den Rücken zu und durch die Fenster dringen (bei Goethe gar nicht vorgesehene) »Zuschauer« in Schwarz, die nur darauf zu warten scheinen, dass die Gestrandete ihre verdiente Strafe erhält.
Vom »Zwinger« geht es im »Faust I« unmittelbar in die »nächtliche Straße vor Gretchens Tür«, von da in den »Dom« und weiter ins wüste Treiben der »Walpurgisnacht«. Das alles muss sich im Theater quasi im Handumdrehen verändern lassen. Nicht nur die Szenenwechsel sind in Goethes zweiteiligem »Faust« rasant, auch die Fülle der mit Sprechtext reichlich versorgten Rollenträger ist geradezu irrwitzig. Beim Treppenaufstieg im Museum kann man die vielen Rollen an die Wand geschrieben lesen, die Goethe in sein Opus Magnum hineinarbeitete, so dass einem schon hier klar wird: Jede »Faust«-Inszenierung musste (und muss noch heute) zum theatralischen Abenteuer geraten. Beklemmend war das schon immer – und herausfordernd ist es auch heute noch.
»So schreitet in dem engen Bretterhaus / Den ganzen Kreis der Schöpfung aus, / Und wandert mit bedächt'ger Schnelle / Vom Himmel durch die Welt zur Hölle« – Goethes Theaterdirektor fordert mit diesen Worten sowohl Darstellende wie Zuschauende zur Beteiligung an der Faust/Mephisto/Gretchen-Tragödie auf. Die »bedächt'ge Schnelle« ist ein schönes Wort: kein Schneckengang wird empfohlen, sondern es wird zum Bedenken dessen angeregt, was sich im Drama abspielt. Die Ausstellung bannt das alles auf Tafeln, Modelle, Projektionen, Fotos, ja ganze Spielfilme. Die zunächst mit drei Filmen bestückte Liste wird erweitert. Man kann sich alte (etwa den berühmten Gründgens- Film von 1960) und neuere Verfilmungen oder Inszenierungs- Aufzeichnungen ansehen. Und stundenlang kann man sich mit dem Katalog (34,95 Euro) beschäftigen, um voll in die »Faust-Welten« einzutauchen und sich hinwegschwämmen lassen von der Tragik, Komik und Tragikomik eines der bedeutendsten dramatischen Werke überhaupt.
Geöffnet ist die Ausstellung »Faust-Welten« bis 2. September täglich außer Montag von 10 bis 16 Uhr.
Dr. Hans Gärtner
15/2018