Jahrgang 2023 Nummer 31

Zeitzeugen, die das Ende des 2. Weltkriegs miterlebten

Auf Spurensuche im Chiemgau – Drei Mitbürger, damals noch Kinder, schildern ihre Erlebnisse

Xaver Reiter war gelernter Huf- und Wagenschmied und erlebte das Kriegsende in Inzell.
Mit Wolfgang Bichler trieben die jungen amerikanischen Besatzungssoldaten makabre Späße.
Lore von Dobeneck lebt in Haslach und hat dort gegen Kriegsende interessante Beobachtungen gemacht.

Es gibt im Chiemgau immer noch Zeitzeugen, die das Ende des Zweiten Weltkriegs miterlebt haben. Unser Mitarbeiter Klaus Oberkandler hat vor drei Jahren damit begonnen, einige von ihnen auszusuchen und sie nach ihren Erlebnissen und Erinnerungen zu befragen. Herausgekommen sind zum Nachdenken anregende, skurrile, lustige, aber auch erschütternde Zeitzeugnisse aus jenen Wochen im April und Mai 1945, als die Amerikaner einmarschierten und der Krieg auch bei uns im Chiemgau zu Ende ging.

In der heutigen ersten Folge lassen wir drei Menschen zu Wort kommen, die sich an ganz unterschiedliche Erlebnisse aus jener Zeit erinnern :Xaver Reiter aus Inzell, der sich damals zum Meister des Organisierens mauserte, ist der erste von ihnen. Wolfgang Bichler aus Altenmarkt, den die Amerikaner immer wieder erwischten, wenn er sich unerlaubt an ihre Lebensmittelvorräte machte, schildert, wie die jungen Soldaten ihren Spaß daran hatten, den kleinen Wolfi zu »bestrafen«, was aber letztlich immer irgendwie zu seinem Vorteil ausging. Dritte im Bunde ist Lore v. Dobeneck aus Traunstein-Haslach, deren guter Beobachtungsgabe es zu verdanken ist, dass manche Begebenheit und Kuriosität aus jener Zeit der Nachwelt erhalten bleibt. Zunächst aber zu Xaver Reiter.

Er war zwölf Jahre alt, als am 2. Mai 1945 Inzell eingenommen wurde. Reiter stammte aus einer kinderreichen Familie und wusste sich damals zu helfen – ob auf legale oder illegale Art, spielt heute keine Rolle mehr. Von 1948 bis 1950 lernte er beim Schleich Josef den Beruf des Huf- und Nagelschmieds. Er machte den Wandel des Betriebs zur Spenglerei und Fertigungsstätte für Stiegen- und Balkongeländer mit. Heute genießt er seinen Lebensabend in seinem Haus in Inzell und erinnert sich gerne an jene spannende Zeit zurück, als das Dorf und die Filzn für die Kinder und Heranwachsenden ein riesiger Abenteuerspielplatz waren, und in der die nahen Berghänge noch so viel Wild beherbergten, dass man auch in der schweren Zeit nicht Hunger leiden musste, wiewohl einem das tägliche Gams- und Rehfleischessen oft recht eintönig vorkam.

Im Juni empfängt Xaver Reiter den Chronisten in seiner guten Stube. Die Wand ist gespickt mit Reh- und Gamsg'wichtln. »Warst Du Jäger?«. Das verschmitzte »Nein« vom Xaver beantwortet eigentlich alle eventuell aufkommenden Fragen zum Thema Wilderei. Man spürt förmlich, wie dem 90-Jährigen der Schalk im Nacken sitzt und erlebt schließlich, wie eine nach der anderen Anekdote aus jener aufregenden Zeit aus ihm heraussprudelt. Man hat fast das Gefühl, Inzell war das Paradies auf Erden für die Kinder damals – trotz Krieg und mancher Entbehrung. Aber wer sich zu helfen wusste, dem ging's offenbar nicht schlecht. »Am 2. Mai nachmittags um zwei sind die Franzosen von Schwarzberg her angerückt, voraus Panzerspähwagen«, erzählt der Xaver. Der Vater war zufällig daheim. Er war Straßenbauer bei der Münchner Firma Sager & Woerner, was ihn beruflich auf den Obersalzberg brachte, wo er schließlich als eine Art Hausl sein Brot verdiente.

In Inzell war für die Amerikaner zunächst Endstation

Recht viel weiter als bis Inzell ging es für die Befreier nicht, denn die Wehrmacht hatte noch am Vormittag die Gletschergartenbrücke in der Zwing gesprengt. »Alles hat sich gestaut, und am Gletschergarten gab's auch noch eine Schießerei mit zwei Toten«, erzählt Reiter. Den Deutschen haben sie gleich dort eingegraben, den Franzosen zur Beerdigung nach Inzell gebracht. Im Herbst haben sie ihn ausgegraben und in seine Heimat überführt. Er selbst habe sich beim Einmarsch in einem Kanalschacht versteckt und geglaubt, da werde ihn niemand finden.

Im alten Inzeller Salzstadel waren zu jener Zeit etwa zwei Dutzend gefangen genommene, russische Offiziere interniert. Denen brachte er Kartoffeln, welche er heimlich seiner Mutter aus der Kartoffelmiete genommen hat. Dafür bekam er aus Eisen gedrehte Ringe, aus Holz geschnitzte Pistolen, die täuschend echt aussahen und hölzerne Kreuzottern. Die meisten Offiziere konnten etwas Deutsch und er hatte ihnen erzählt, dass es eine bevorzugte Tätigkeit der Buben war, in der Filzn Unmengen der giftigen Kreuzottern zu erschlagen (»das tut mir heute leid«, fügt er an). Die Offiziere fertigten aus Holz solche Schlangen, verbanden die Gliedmaßen mit Draht, so dass man sie bewegen konnte, und brannten sogar das Kreuzmuster ein. Mehr als einmal konnte man damit Schabernack treiben und ängstliche Leute erschrecken. »Was die Russen alles konnten…«, sinniert Reiter heute noch respektvoll.

Einmal seien ihm und einem Freund zwei russische Offiziere auf der Straße begegnet und hätten ihnen eine Tafel deutscher Schokolade geschenkt, als sie erkannten, dass das die Buben waren, die sie mit Kartoffeln beliefert hatten. So respektvoll wie die Russen hat er auch die Franzosen und die Amerikaner in Erinnerung. Letztere kamen nach Inzell, als die Franzosen weiterzogen. »Uns Kindern haben die nichts getan.« Die Amerikaner zogen ab, als im Herbst der erste Schnee fiel. Langsam kehrte Normalität zurück. Mancher glühende Verfechter des Regimes versuchte sich rein zu waschen und gereinigt wurde auch manche Hausfassade, die mit propagandistischen Wandmalereien »verschönert« worden war, um sich den Nazis anzubiedern. Der Pfarrer machte auch bei der »Entnazifizierung« mit. Er war nach Angaben Reiters »ein mordstrumm Mann mit Pratzen wie Klodeckel«. Die benutzte er im Religionsunterricht zum »Entnazifizieren«. Die Watschen seien nicht von schlechten Eltern gewesen.

Wolfgang Bichler

Wolfgang Bichler hat sein Leben lang Tagebuch geführt und erinnert sich an die Zeit, als die Amerikaner zum Ende des Zweiten Weltkriegs in Altenmarkt einmarschierten. Er war damals noch keine zehn Jahre alt. Bichler, Jahrgang 1936, ging es in jener entbehrungsreichen Zeit vor allem darum, etwas zu essen zu »organisieren«. Dem kleinen Buben ist dabei so manches widerfahren, wovon er im Jahr 2022 dem Chronisten berichtete.

Sein Vater, der Fotografenmeister Georg Bichler, war noch im Krieg, und seine Mutter Luzie hatte, ebenso wie viele andere Mütter zu jener Zeit, alle Hände voll zu tun, um Nahrung aufzutreiben, damit sie und ihr Sohn nicht verhungern. Am 3. Mai rollten, von Rabenden kommend, die ersten Panzer auf Altenmarkt zu. Dem Ort kam wegen der beiden Alzübergänge große strategische Bedeutung zu, denn die Amerikaner befürchteten, die verbliebenen Nazis könnten die beiden Brücken noch im letzten Moment sprengen. Der kleine Wolfgang sah staunend zu, wie die ersten Panzer in den Ort kamen.

Er sah zum ersten Mal Menschen schwarzer Hautfarbe und andere Soldaten, von denen er in seiner kindlichen Betrachtungsweise glaubte, es seien Mexikaner. Erst nach dieser Frontlinie, so seine Erinnerung, seien dann »echte« Amerikaner gekommen. Sie hatten ihr Hauptquartier im Gasthof zur Post aufgeschlagen, sich im Reisberger- Haus einquartiert und am Marktplatz im Clemente-Haus nahe der Metzgerei Rieger und der späteren Flussmeisterstelle Lebensmittel eingelagert.

Martialische Strafe für den kleinen Dieb

Dieses Lager war eines Tages Ziel der Kinder. Es war wie im Schlaraffenland: Dosen mit Corned Beef, graue Büchsen mit Orangensaft, Weißbrot, Zucker… – alles, was das Herz begehrte. Obwohl die Amis bemerkten, dass hier kleine Diebe am Werk waren, konnten fast alle abhauen. Nur den kleinen Wolfgang entdeckten die GIs und beobachteten, wie er sich, nur mit Badehose bekleidet, in hohen Brennnesselstauden am Ufer der Alz versteckte. Als wäre das nicht Strafe genug, holten ihn die Amerikaner aus seinemVersteck, und er musste sich vor ihnen auf den Boden legen. Sie steckten ihm eine dicke Brasilzigarre in den Mund, die er rauchen musste und legten ihm eine noch dickere Ringelnatter auf den Bauch, die sie zuvor erschossen hatten. Wolfgang erinnert sich an die Folgen des Zigarrenrauchens: »Tagelang haben mir die Füße nicht mehr gepasst, solche Schwindelanfälle hatte ich.«

Nicht nur auf die Ringelnattern haben die Amerikaner geschossen. Sie suchten sich auch andere Ziele aus – aber keine Menschen. Es waren halt auch junge Leute, die übermütig und zu manchem Streich und Schabernack bereit waren. Die Loren (Rollwagerl), die im Hof der Flussmeisterstelle des damaligen Straßen-Flussbauamts, dem späteren Wasserwirtschaftsamt standen, bewahrten noch jahrzehntelang die Einschusslöcher aus jener Zeit. Die Loren taten dennoch bis weit in die 1970er Jahre ihren Dienst.

Aber auch die scharfen Waffen und deren Gebrauch durch die Besatzer hielten die Kinder nicht davon ab, weiter Lebensmittel zu organisieren. Eines Tages stand ein Fahrzeug mit Proviant unbewacht am Marktplatz. Diese Gelegenheit ließ sich die Kinderbande nicht entgehen. Der Wolfgang kraxelte auf den Wagen, schnitt Säcke auf und ließ Kaffee, Zucker und Trockenmilchpulver in die Gefäße rieseln. Als die Soldaten den Diebstahl bemerkten, gaben die Buben Fersengeld. Nur der Wolfgang kam nicht mehr rechtzeitig vom Wagen herunter. Die Amerikaner schnappten ihn und nahmen ihn nach Traunstein mit zum dortigen Kriegsgericht an der Wasserburger Straße. Mit ernster Miene verkündete der Richter dem Dreikäsehoch, er werde zu 25 Jahren Gefängnis auf Bewährung verurteilt. Später nahmen die Amerikaner ihn wieder heim nach Altenmarkt und amüsierten sich köstlich über ihren Scherz.

Standrechtliche Erschießung vorgetäuscht

Noch makabrer trieben sie es ein anderes Mal mit dem Buben. Sie hatten ihn erwischt, wie er in der Küche des Gasthofes zur Post Lebensmittel stibitzen wollte. Sie schnappten ihn und sagten, sie würden ihn jetzt standrechtlich erschießen. Durch den Hinterausgang führten sie den Kleinen hinunter zur Alz und das »Erschießungskommando« trat an. Da half es auch nichts, dass der Dreikäsehoch den Männern in Aussicht stellte, ihnen die Stallhasen zu schenken, die man heimlich zuhause hielt. Ob sie dieses Angebot überhaupt verstanden haben, weiß Wolfgang Bichler nicht mehr. »Natürlich haben sie mir kein Haar gekrümmt.« Im Gegenteil: Die Besatzer hatten Mitleid mit den immer hungrigen Kindern. Wenn sie im heutigen Biergarten des Gasthauses aßen oder Lebensmittel verteilten, dann bekamen immer auch die Kleinen etwas ab. Dort hatten die Amis ein Lagerfeuer, das Tag und Nacht brannte. Viele von ihnen sprachen ein wenig Deutsch und waren durchaus freundlich zu den Einheimischen.

Wolfgang Bichler hat sein Leben lang Tagebuch geführt und könnte stundenlang weitererzählen. Er war begeisterter Sportflieger, leidenschaftlicher Jäger und hatte eine Reihe weiterer interessanter Hobbys. Neben den Tagebüchern hat er ein umfangreiches Foto- und Filmarchiv mit Hunderten historischen Dokumenten und Aufnahmen.

Lore von Dobeneck

Lore von Dobeneck, Jahrgang 1935, hat die Angriffe auf die Traunsteiner Infrastruktur von Haslach aus erlebt. In München geboren, kam sie schon als Kleinkind jeden Sommer nach Traunstein zu den Großeltern zu Besuch und lebte seit 1940 fest hier, weil ihr Vater der Überzeugung war, hier sei die Familie sicherer als in Hannover, dem damaligen Wohnsitz. In der Broschüre »Private Zeitzeugenberichte zum Kriegsende in Traunstein«, welche 60 Jahre nach Ende des zweiten Weltkriegs erschienen ist, schildert sie bemerkenswerte Details aus jener Zeit. Im Juni 2023 konkretisierte sie in einem Gespräch mit dem Chronisten einige ihrer damaligen Aussagen. Hier Teile ihres damals veröffentlichten Berichts:

Wir wohnten damals an der Bahnstrecke Paris -Haslach, die erst in Hufschlag nach Istanbul weiterführte. Die Bahnreisenden stiegen in Haslach aus, suchten sich ein Nachtquartier, gingen am nächsten Morgen zu Fuß nach Hufschlag und fuhren von da aus weiter. Unsere Urgroßmutter Möser beherbergte damals zahllose Leute auf Matratzenlagern am Boden.

Im April 1945 zogen aus Osteuropa Trecks durch mit Deutschen aus Bessarabien, dem Banat und der Batschka. An jenem 18. April wurden einige dieser Flüchtlinge in Haslach von Tieffliegern tödlich getroffen. Die Leichen wurden in die Friedhofskapelle gebracht. Wir Kinder waren es gewohnt, beim Läuten der Totenglocke dorthin zu gehen, wo immer die uns bekannten Toten offen aufgebahrt waren und ausgesegnet (»beigesetzt«) wurden. So konnten wir uns von ihnen ganz friedlich verabschieden. Als an jenem 14. April die Totenglocke läutete, gingen wir ahnungslos auch wieder zur Friedhofskapelle. Aber beim Anblick der zerfetzten, blutigen Leiber und Gliedmaßen und der schluchzenden Angehörigen machten wir schleunigst wieder kehrt. Seitdem folgte ich (zumindest als Kind) dem Ruf der Totenglocke nicht mehr.

In den folgenden Tagen, so schildert Lore von Dobeneck weiter, versteckten sich die Menschen im Bürgerwald. Von dort aus erlebten sie den Luftangriff vom 25. April. Weiter geht ihr Bericht mit folgender Schilderung: Am 3. Mai 1945 saßen wir wieder im Keller und es hieß, die Amerikaner seien im Anmarsch. Es kam jemand und sagte, wir sollten alle weiße Fahnen heraushängen zum Zeichen der Kapitulation. Bald darauf erschien jemand im Auftrag der SS und brüllte laut herum, jeder, der eine weiße Fahne heraushängt, wird erschossen. Traunstein solle verteidigt werden. Vor diesen Leuten hatten wir mehr Angst, als vor den Amerikanern…

Zwei Rollen echtes Klopapier

Noch eine weitere Episode schildert Lore von Dobeneck von der Nacht nach dem Einmarsch der Amerikaner, welche die Aussage untermauert, weniger Angst vor ihnen zu haben als vor der SS: Nachts dann heftiges Klopfen an der Haustür, die natürlich versperrt war; Amerikaner, die bei uns übernachten wollten. Wir hatten Glück: Unsere Nachtlager… fanden nicht ihr Gefallen. So ließen sie sich mit ihren Schlafsäcken auf dem Boden im Gang, in der Badewanne (!) und vor der Badewanne nieder und ließen uns weiter schlafen. Andere Leute wurden aus ihren Betten oder auch aus ihren Häusern geworfen. Unser Klopapier gefiel ihnen auch nicht (wie damals üblich, verwendeten wir zurechtgeschnittenes Zeitungspapier). Am Morgen warfen sie uns durch das geöffnete Fenster zwei Rollen echtes Klopapier, ein Luxus damals, und dazu ein Päckchen Margarine.

Auch die Begegnung mit dem ersten Schwarzen schilderte Frau von Dobeneck: Am ersten Morgen unter amerikanischer Besatzung schickte mich meine Mutter zum Bäcker zum Brotkaufen. Ich bog aus unserem Hof um die Ecke und sah vor dem Bäckerladen einen schwarzen amerikanischen Soldaten stehen,mit der Hand an der Pistole, die von seinem Gürtel hing. Ich war zu Tode erschrocken. Noch nie hatte ich einen »Neger«, wie man damals sagte, gesehen. Ich kannte die »Schwarzen« nur aus Bilderbüchern mit Zirkusund Urwaldgeschichten. So drehte ich auf dem Absatz um und weigerte mich, meinen Auftrag auszuführen. Als wir merkten, dass auch die Amerikaner Menschen waren, und manchmal sogar freundliche, folgten wir Kinder ihnen überall hin. Ich war etwas ängstlich und folgte nur mit einigem Abstand am Ende der Dorfkinderschlange. Da warf ein Amerikaner, dem wir nachliefen, eine Orange weit hinter sich und ausgerechnet ich erwischte sie, sehr zum Ärger der frecheren Buben, die sich unmittelbar hinter dem Soldaten befanden. Die ersteOrange, an die ich mich erinnern kann!…

 

Klaus Oberkandler

 

31/2023