Jahrgang 2002 Nummer 5

»Wo, bitte, geht’s nach Irland?«

Vor 100 Jahren kam der Flugpionier Charles Lindbergh zur Welt

Charles Lindbergh (1902-1974) vor seinem Flugzeug »The Spirit of St. Louis«, mit dem er 1927 als erster Mensch im Alleinflug den

Charles Lindbergh (1902-1974) vor seinem Flugzeug »The Spirit of St. Louis«, mit dem er 1927 als erster Mensch im Alleinflug den Atlantik überquerte.
Charles Lindbergh und seine Frau Anne Morow Lindbergh: Gemeinsam mit seiner Ehefrau unternahm Lindbergh manchen Pionierflug im A

Charles Lindbergh und seine Frau Anne Morow Lindbergh: Gemeinsam mit seiner Ehefrau unternahm Lindbergh manchen Pionierflug im Auftrag neuer Luftfahrtlinien und erkundete neue Routen.
Charles Lindbergh unmittelbar nach seinem Allein-Flug über den Atlantik, auf dem Rollfeld von Le Bourget (bei Paris). Einer der

Charles Lindbergh unmittelbar nach seinem Allein-Flug über den Atlantik, auf dem Rollfeld von Le Bourget (bei Paris). Einer der ersten Gratulanten war Louis Bleriot (rechts), der 18 Jahre zuvor als erster den Ärmelkanal überflogen hatte.
Den Gesichtsausdruck der Fischer an der irischen Atlantikküste kann man sich ausmalen, als ein Flugzeug – vielleicht das erste, das sie bis dahin zu Gesicht bekommen hatten – Kurs auf sie nahm. Der Pilot steckte den Kopf aus dem Cockpit und rief hinunter zum Boot: »Wo geht »s nach Irland?« Antwort, so die Fama, habe er von den verdutzten Leuten keine bekommen.

Mag sein, dass die Anekdote erfunden ist, ein Bonmot aus jener Zeit, als Charles Lindbergh nach seinem spektakulären Alleinflug über den Atlantik zum Liebling der Medien geworden war und mit seinen Auftritten eine ordentliche Stange Geld einfuhr. Immerhin sagt die Geschichte einiges aus über die spartanische Ausrüstung, mit der sich der damals gerade 25-jährige Luft-Abenteurer am 19. Mai 1927 auf den Weg nach Europa gemacht hatte: nur mit Kompass und Landkarten. Ein Funkgerät? Unnötig, befand der Pilot, wenn man »s braucht fällt »s sowieso immer aus. Ein Sextant hätte zum Navigieren gute Dienste geleistet, aber dieses Gerät sparte Lindbergh aus Gewichtsgründen ein. Seine Maschine, ein Hochdecker mit 220 PS-Motor, wog aufgetankt beim Abflug in New York nur 2 380 Kilogramm – inklusive der 1 705 Liter Treibstoff und Öl (also drei Viertel des Gesamtgewichts). Da war nur eine Geschwindigkeit von 200 km/h möglich.

Die Orientierung ist Lindbergh übrigens erstaunlich gut gelungen: Als er die Fischer in ihrem Boot erblickte, war er bereits 27 Stunden unterwegs und den letzten Boden-Orientierungspunkt auf Neufundland hatte er fünfzehn Stunden zuvor hinter sich gelassen. Trotzdem war er nur acht Kilometer vom geplanten Kurs abgewichen und es war schließlich nicht schwierig für ihn, an der irischen und südenglischen Küste entlang und weiter über den Ärmelkanal nach Paris, auf den Landeplatz Le Bourget zu fliegen. In 33 Stunden und 39 Minuten hatte Lindbergh 5 780 Kilometer hinter sich gebracht. Fast 200 000 Menschen erwarteten ihn auf dem mit Autoscheinwerfern beleuchteten Flugfeld. In dieser Nacht wurde der Sohn schwedischer Einwanderer, der sich bis dahin ein Zubrot als Kunstflieger bei amerikanischen Volksfesten verdient hatte, zur nationalen Symbolfigur.

Es war eine gute Zeit für die Fliegerei: 1925 waren in den USA die Postrouten privatisiert worden – so schlug die Stunde für Unternehmer wie William Boeing oder die Brüder Allan und Malcolm Loughead (die den Firmennamen dann auf Lockheed änderten): klingende Namen bis heute. Damals engagierte sich auch Ford in der Flugzeugherstellung und erzeugte die in der Zwischenkriegszeit berühmte »Tin Goose« (Blechgans). Die US-Flugzeugindustrie holte in raschen Schritten ihren damaligen Rückstand gegenüber Europa auf. 1926 gab es in den USA zwölf Flugunternehmen, zwei Jahre später bereits fünfundzwanzig.

Charles August Lindbergh wurde am 4. Februar 1902 als Sohn eines Anwalts in Detroit geboren. Er begann ein technisches Studium, wechselte an eine Fliegerschule und kaufte 1923 sein erstes Flugzeug. Zuerst war er Postflieger. 1927 setzte Raymond Orteig, der als Hotelier zu Millionen gekommen war, 25 000 Dollar für die erste Atlantik-Überquerung ohne Zwischenlandung aus: ein Angebot, das so manchen Piloten reizte. Die Franzosen Charles Nungesser und Francois Coli, die von Paris aus gestartet waren, bezahlten den Versuch mit dem Leben. Sie stürzten wohl über dem Atlantik ab. Rene Fonck, ebenfalls ein französischer Pilot, versuchte es von New York aus und stürzte schon beim Start ab, ebenso der Amerikaner Richard Byrd. Auch andere Versuche schlugen fehl und kosteten Menschenleben. Das Gewicht beim Start wegen der großen Treibstoffmenge war das größte Problem damals.

Charles Lindbergh fand Financiers unter Geschäftsleuten von St. Louis, deshalb hieß sein Flugzeug auch »The Spirit of St. Louis«. Nach der fliegerischen Leistung war Lindbergh ein gemachter Mann, das Medieninteresse war enorm. Mit seiner Ehefrau Anne Spencer Morrow, die 1930 als eine der ersten Amerikanerinnen die Pilotenlizenz erwarb, machte Lindbergh weitere spektakuläre Flüge: Die beiden stellten mit 14 Stunden und 45 Minuten einen Geschwindigkeitsrekord für den Flug von Los Angeles nach New York auf. In allen fünf Kontinenten erkundete das Ehepaar Lindbergh neue Routen.

Die Entführung des zwanzig Monate alten Lindbergh-Babys brachte die Familie erneut in die Schlagzeilen. Obwohl Lindbergh die verlangten 50 000 Dollar zahlte, wurde das Kind ermordet. Einige Jahre später wurde der illegale deutsche Einwanderer Bruno Richard Hauptmann für die Tat hingerichtet – nach einem sehr umstrittenen Indizienprozess. Die Sache gab sogar Stoff für für Filme ab.

In diesen Jahren versuchten die Lindberghs der Publicity zu entkommen, lebten bis 1939 zunächst in England und dann in Frankreich. Mit einer Ingenieurleistung ist Charles Lindbergh damals auch in die Medizingeschichte eingegangen. Gemeinsam mit dem Arzt Alexis Carrel (Nobelpreisträger von 1912) baute Lindbergh einen Apparat, der es ermöglichte, Organe auch außerhalb des Körpers mit Blut und Sauerstoff zu versorgen – eine Vorform der »Herz-Lungen-Maschine«!

In den USA machte Lindbergh sich nicht nur wegen des europäischen Medien-»Exils« unbeliebt. Er nahm eine antisemitische Haltung ein, äußerte Bewunderung für Hitler und die deutsche Luftfahrtsindustrie. Das wog umso schwerer, als er seit 1939 im Dienst des amerikanischen Kriegsministeriums stand. Als er sich 1941 vor einem Ausschuss des Repräsentantenhauses gegen einen Kriegseintritt der USA aussprach, nannte Präsident Roosevelt Lindbergh einen Defätisten. Daraufhin erklärte er seinen Rücktritt, wurde er in der ultrakonservativen »America First«-Bewegung aktiv und verweigerte die Einberufung zum Kriegsdienst. Im Lauf des Kriegs änderte er jedoch seine Meinung und engagierte sich als Pilot und Ingenieur doch in der Air Force. Und doch dauerte es bis 1954, bis Lindbergh offiziell »rehabilitiert« wurde. Er war ein Unangepasster, der sich auch in seinen Unternehmungen abseits der Fliegerei nicht nach dem Mainstream richtete: Schon früh engagierte er sich im Umweltschutz. Auch seine Wortmeldungen für die Menschenrechte machten ihm in den USA nicht nur Freunde. Die Verleihung des Pulitzer-Preises 1954 war aber wohl ein Signal, dass alte Rechnungen mit ihm weitgehend beglichen waren.

Charles Lindberghs letzter Flug: Nach längerem Krebsleiden verließ er das Krankenhaus in New York, um seine letzten Tage bei der Familie im Haus auf der Insel Maui (Hawaii) zu verbringen. Charles Lindbergh starb am 26. August 1974. Seine Witwe überlebte ihn um fast ein Vierteljahrhundert, sie starb im Vorjahr. Anne Morrow Lindbergh machte sich auch als Schriftstellerin einen Namen, veröffentlichte Bücher über die gemeinsame Fliegerei mit ihrem Mann, aber auch Lyrik und Romane. Vier der insgesamt sechs Lindbergh-Kinder sind noch am Leben.

Charles Lindbergh war natürlich nicht der erste Atlantik-Überquerer. Diese Ehre gebührt John William Alcock und Arthur Witten, die sich 1919 auf die Reise machten. Bereits 91 Piloten hatten vor Lindbergh die Strecke gemeistert, aber eben nicht im Allein- bzw. Direktflug. Auch Lindberghs Streckendistanz von 5 780 Kilometern bedeutete damals einen Rekord.

Konkurrenz bekam Lindbergh bald in der wagemutigen Amelia Earhart. Sie war ein Jahr nach dem Lindbergh-Flug die erste Frau auf der Atlantik-Strecke – allerdings überließ sie damals noch den Steuerknüppel zwei männlichen Kollegen. Fünf Jahre nach Lindbergh startete Amelia Earhart dann tatsächlich zu einem Transatlantik-Soloflug, mit »leichtem Gepäck«: einer Thermoskanne mit Suppe, einer Dose Tomaten Juice und – da sie weder Kaffee noch Tee trank – Riechsalzen, die ihr halfen, wach zu bleiben. Mit dieser Unternehmung brach Amelia Erhart tatsächlich mehrere Rekorde: Sie war nicht nur als erste Frau allein über den Atlantik geflogen, sondern auch der erste Mensch, der dies zweimal getan hatte. Es war außerdem der bis dahin längste Non-stop-Flug einer Frau und die schnellste Atlantiküberquerung zur damaligen Zeit. »Kommen sie von weit her?«, fragte ein Einheimischer nach ihrer Landung auf einer Wiese in der Nähe der nordirischen Stadt Londonderry.

Amalia Earhart ging übrigens in den darauf folgenden Jahren vehement daran, Charles Lindbergh den Rang abzulaufen: Von Hawaii unternahm sie 1935 den ersten Pazifik-Alleinflug nach Kalifornien und weiter nach Washington – auf der Pazifik-Route hatten zuvor zehn Piloten ihr Leben gelassen. Schließlich ein zu ehrgeiziges Vorhaben: Beim zweiten Versuch einer Weltumrundung entlang des Äquators stürzte die junge Frau in den Pazifik.

RK



5/2002