Wie ein Ruf aus der Vergangenheit
Ein Foto erinnert an Menschen in meiner Kindheit

Kürzlich kam beim Durchblättern einiger alter Briefe ein Bild zum Vorschein, das ich schon seit langer Zeit vergeblich gesucht hatte. Es ist ein kleines, unscheinbares Foto und eher zu dunkel für die heutige Zeit. Doch imAnbetracht dessen, dass zur damaligen Zeit auf dem Land so ein Fotoapparat eine Seltenheit gewesen ist und es dennoch Fotos aus dem alltäglichen Leben gibt, sind diese oft eine Kostbarkeit. Meine Tante Thea erzählte mir einmal, es sei dortmals an einem Nachmittag ein »Hausierer « zu uns auf den Hof gekommen. Neben einigen kleineren Sachen wie Gummizug und Hosenknöpfe, kaufte sie sich einen schönen Blusenstoff. Als Dank für das gute Geschäft, zog er aus seinem alten, ledernen Koffer einen uralten Fotoapparat heraus und überredete meinen Großvater, sich doch fotografieren zu lassen. So ist damals an einem Nachmittag im Sommer dieses Foto entstanden.
Ja, ich erinnere mich wieder, wie meine Mutter mich auf den Arm nimmt und ich misstrauisch und scheu zu dem Mann mit dem komischen, schwarzen Etwas da vorne schaue. Lange betrachte ich das alte Bild in der Hand, meinen Großvater wie er groß und aufrechtmit seiner Werktagshose und dem aufgekrempelten Hemd dasteht. Nachdenklich schaue ich das mir bis heute immer noch vertraute Gesicht, das ernst und nachdenklich wirkt, an. Für mich jedoch ging davon so unbeschreiblich viel Liebe und Geborgenheit aus. Ganz nahe neben ihm steht meine Großmutter, um ein Gutes kleiner und fast schmächtig wirkt sie neben meinem Großvater. Ein langes, dunkles Schürzl, bei dem nur die Ärmel und der Kragen einer hellen Bluse zu sehen sind, hat sie sich umgebunden. Ihre dunklen Haare über dem fast mager wirkenden Gesicht, sind in der Mitte sorgfältig gescheitelt und vor den Zöpfen hat sie das schwarze Samtband gebunden. Zusammen mit Sofie meiner nur um neun Jahre älteren Tante, hat sie drinnen in der Küche gerade den »Untern«, die Nachmittagsbrotzeit, hergerichtet. Sie hat sich neben meine Großmutter gestellt. Ich wollte auch gerne so lange, blonde Zöpfe wie sie, doch auf diesem Foto ist es vor allem die Schürze, die sie über ein helles Sommerkleid umgebunden hat, auf der mein Blick lange haften bleibt. Ich erinneremich noch genau, sie war hellblau mit kleinen, weißen Blumen drauf.
Hinter Sofie hat sich nun meine Mutter, die diese damals fast einen Kopf überragte, mitmir auf demArm dazu gestellt. So um die drei Jahre bin ich alt gewesen und meine kleinen Löckchen hat meine Mutter oben immer mit einem Schleifchen zusammengebunden. Meine nackten Füße baumeln herunter, denn wie immer bin ich barfuß gelaufen. Ja und neben mir steht meine Tante Thea, sie war es, die sich kurz zuvor den schönen Blusenstoff gekauft hat. Immer lustig und frohgemut ist sie gewesen und meinen Schatz an vielen alten Liedern und Weisen verdanke ich ihr, denn das Singen war ihr angeboren.
Gleich neben Thea steht meine Tante Marie, auch sie hat wie meine Mutter und Thea ihre Haare nach hinten zu einem kleinen Knoten gekämmt. Ich mochte sie gerne, außerdem ließ sie sich das Haarekämmen von mir immer am längsten gefallen.
Mein Blick schweift weiter und bleibt lange und nachdenklich an der männlichen Gestallt neben meinem Großvater haften. Es ist unser »sogenannter Gefangener«, unser Franzose Andree. Für uns war er der »Andrä« und beileibe kein Gefangener, als der er wie viele französische Soldaten in unserer Gegend, einem Bauern zur Arbeit zugewiesen wurde. Er gehörte zur Familie, alle mochten ihn gerne und hofften, dass es Schorschl und Peter, meinen Onkeln, irgendwo in der Ferne ebenso gut ging. Thea hat mir einmal erzählt, dass mein Großvater darauf bestand, dass »Andrä« seine Sonntagsbekleidung anzog. Oft hat er uns von seiner Familie erzählt, besonders von seinem kleinen Mädel das kaum älter war als ich. Noch heute sehe ich das Bild vor mir das er auf das Nachtkastl neben seinem Bett gestellt hat. Ein kleines, dunkelhaariges Mädchen lacht mir darauf entgegen. Nun aber hat sich neben »unseren Franzosen« noch jemand dazu gestellt. Auch er ist barfuß und Andrä hat seinen Arm ganz fest um dessen Schulter gelegt, es ist Seppi mein jüngster Onkel. Ich habe ihn sehr gerne gemocht denn er war immer lustig und manchmal hat er »verstecken vorm Feind« mit mir gespielt. Die beiden, Seppi mit seinemblonden Haarschopf und der um etliche Jahre ältere, dunkelhaarige Andrä, sind schnell gute Freunde geworden.
Meine Tante Mathilde erzählte mir viel später einmal, dass Seppi nach dem Krieg mit Andrä nach Frankreich gehen wollte. Doch es kam ganz anders damals. Seppi musste nach seinem Heimaturlaub zurück an die Front und Andree unser »Gefangener«, wartete vergebens auf seinen jüngeren Freund. Eines Tages kam die traurige Nachricht, dass Seppi am 10. Dezember 1944 nach zwei jähriger Pflichterfüllung im Alter von 21 Jahren gefallen sei. Andrä aber blieb bei uns bis der Krieg zu Ende war.
Elisabeth Mader
26/2022