Schulanfang mit großer Tüte
Brauch der Schultüte noch nicht sehr lange in Bayern bekannt

Alter Schenkebrauch
Der Brauch, Schulanfängern mit einem kleinen Geschenk den Eintritt in die Schule zu versüßen, geht bis in die Antike zurück. Man kennt einen derartigen Brauch bereits im alten Rom, wo Lehrer die Schulneulinge mit Honigplätzchen für die Schule zu begeistern versuchten. Im Mittelalter beschenkte man die Schulanfänger mit Brezeln, Lebkuchen und anderem Backwerk.
In dieser Tradition sind auch die Anfänge des auch in Bayern sehr beliebten Schultütenbrauchs zu sehen, die aber in Mitteldeutschland liegen. Dort war es zur Goethezeit üblich, dass die Paten älterer Geschwister zum Taufessen des Neugeborenen ihren Patenkindern eine große Zuckertüte mitbrachten. Dieser Brauch wurde vor allem in Schlesien und Sachsen gepflegt. Darauf weisen die »Weimarischen wöchentlichen Anzeigen« aus dem Jahre 1765 hin. Derartige nicht angemessene, unnötige Mitbringsel wurden in der Weimarer Zeitung kritisiert, ganz im Sinne der Aufklärung.
Ein Zuckertütenbaum zum Schulanfang
Obgleich dieser Schenkebrauch wieder in Vergessenheit geriet, lebte er in veränderter Form zu Beginn des 19. Jahrhunderts neu auf. Damals war es nämlich in Schlesien, Thüringen und Hessen zur festen Gewohnheit geworden, dass die Eltern den Schulanfang mit einer Tüte voller Süßigkeiten zu erleichtern versuchten. Deshalb übergaben sie dem Lehrer am Tag vor Schulbeginn eine kleine Tüte mit Naschwerk, die er ihnen am ersten Schultag überreichen sollte, wohl um Ängste vor der Schule zu nehmen. In Sachsen und Thüringen dachte man sich eine andere Erklärung aus und erzählte den Kindern, die Tüten seien an einem »Zuckertütenbaum« gewachsen. Zum sichtbaren Beweis stellte man ein Bäumchen voller Schultüten ins Klassenzimmer. Den gleichen Zweck wie die Zuckertütenbäume erfüllten in einigen Orten in Westdeutschland Brezelbäume, die mit bunten Bändern und süßen Brezeln für die ABC-Schützen behängt waren.
Die ersten Schultüten in Bayern erst nach dem Krieg
Der Brauch aus Mitteldeutschland fand im letzten Jahrhundert vor allem in den Städten in bürgerlichen Kreisen mehr und mehr Nachahmung. In Bayern konnte man sich mit dem neuen Brauch lange nicht anfreunden, die ersten Schultüten tauchten hier erst in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts da und dort auf. Lange als »preußisch« abgelehnt wurde der städtische Brauch vor allem auf dem Land. Es war ja auch kein katholischer Brauch und kam aus dem protestantischen Raum.
Noch vor dem 2.Weltkrieg war der Schultütenbauch in Bayern weithin unbekannt. Man konnte sich mit den langen, als unnötig empfundenen Tüten nicht anfreunden. Aus ideologischen Gründen versuchte man im Dritten Reich, den Brauch als Beitrag zur schulischen Förderung zu fördern. Mit einer »Einheitsschultüte« wollte man zudem soziale Unterschiede verdecken.
Ihren Siegeszug trat die Schultüte bei uns erst nach dem 2. Weltkrieg an. Nun ahmten immer mehr Eltern das Beispiel anderer nach und gaben ihren Kindern zum Schulanfang eine große Tüte mit. Stark gefördert wurde diese Entwicklung durch die Heimatvertriebenen aus Mittel- und Ostdeutschland, die den Brauch aus ihrer Heimat nach Bayern mitbrachten. Nun verbreitete sich der Brauch schnell von der Stadt auch auf das Land.
Schultüten oft zu groß
An der Form der Schultüten hat sich in den letzten hundert Jahren nicht viel geändert. Es überwiegt der nach oben offene Spitzkegel. Während früher in den Schultüten nur ein paar Leckereien versteckt waren, kommen heute auch Schulutensilien wie Spitzer, Stifte, Radiergummis und kleine Malblöcke in die Tüten, aber eben auch Unmengen von Süßigkeiten. Die Süßigkeiten sollen ja schließlich den Übergang vom Kindergarten in die Schule, den »Ernst des Lebens«, etwas erleichtern. Nur allzu oft wetteifern Eltern heute aber untereinander und muten den Kleinen überdimensionale Tüten zu, die die Kinder kaum tragen können. Bescheidenheit wäre oftmals angesagt. Eine kleine, überschaubare Schultüte macht nicht weniger Freude.
Albert Bichler
36/2024