Jahrgang 2024 Nummer 10

Not, schlimme Arbeitsbedingungen und langsamer Aufstieg

Das Leben eines Lehrlings, Arbeitslosen, Arbeiters und Bahnbeamten in Teisendorf und Traunstein – Teil I

Gebrüder Dohlus 1917 (Hans, Josef, Emil, Fritz).

1918, am Ende des 1. Weltkriegs war er Schüler an der Volksschule in Teisendorf. 1923, dem Jahr, in dem am 15. November die Inflation beendet und eine Billion Reichsmark durch eine Rentenmark ersetzt wurden, kam er in Teisendorf in die Lehre, 1933 als Hitler an die Macht kam, war er Arbeiter in Traunstein, 1943 war er als Bahnbeamter und Fahrdienstleiter imbesetzten Belgien im Kriegseinsatz. 1945 unmittelbar nach dem Ende des 2. Weltkriegs wurde er als Beamter entlassen, durfte aber als Arbeiter dasselbe machen wie vorher. Lebenserinnerungen an die Zeit zwischen zwei Weltkriegen.

Schreinerlehre in Teisendorf (1923 bis 1927)

»Mit 13½ Jahren wurde ich zu einem Bau- und Möbelschreiner nach Teisendorf in die Lehre gegeben. Gleich zum Eintritt meiner Lehre bekam mein Lehrmeister den Auftrag, für den zur Firmung in Teisendorf weilenden Weihbischof einen Sarg anzufertigen. Er war an einem Herzschlag gestorben. Mein Gefühlsleben wurde weiß Gott sehr strapaziert. Ich wurde als kleiner schwacherKnabe mit schweren, gefahrvollen, auch schmerzenden Arbeiten betraut. Als Lehrling warman für die Lehrzeit (3½ Jahre) der Laufbursche und der für alle Schmutzarbeiten Zuständige. Die Schreinerei lag an der Sur. Bei einem Hochwasser musste ich durch Überschwemmungsfluten, die mir bis an die Brust reichten, 50 Meter waten, mich an einem Geländer festhaltend, um Seile zu holen, weil das Wasser die Bretter fortschwemmte. Bei dem Hochwasser wurde das Erdreich am Haus weggeschwemmt. Der Meister und sein Bruder stellten eine Wandgegen das Wasser auf. Ich und ein zweiter älterer Lehrling mussten mit einem Brückenwagen 14 Tage lang Erdreich und Steine aus 20 Minuten Entfernung holen als Füllmaterial zwischen Haus und Schutzwand.

Mein schönster Tagwar jeweils der Schultag, an dem ich sechs Stunden in die gewerbliche Fortbildungsschule ging.

Meines Lehrmeisters Bruder war Zimmerermeister und wohnte unweit unserer Werkstatt. Für diesen Mann war es nur natürlich, dass er sich die Lehrlinge seines Bruders zum Abladen von Ziegeln und Dachziegeln entlieh. Ich war ohne Schutzhandschuhe zu dieser schweren Arbeit abgeordnet. Die Hände waren von dem rauen Material aufgerissen. Ich hatte schon drei Paar Handschuhe aus meinem Privatbestand aufgearbeitet. Natürlich wurde ich dafür zuhause auch nicht gelobt. Durch das Zuwerfen der Dachziegel, immer zwei aufeinander, war die Wirkung doppelt so groß. Für diese zusätzlichen Arbeiten gab es kein »Dankeschön« vom Bruder des Meisters, geschweige denn eine Brotzeit.

In der Schreinerwerkstatt hatten wir am Samstag oft schon von 13 bis 15 Uhr zusammengeräumt, die Maschinen waren gereinigt, der Boden gekehrt. Da kamen schwarz gekleidete Menschen auf das Haus zu und bestellten beim Meister einen Sarg für einen Verstorbenen. Der Meister hat uns sofort angewiesen, welche Bretter, welche Größe und welche Farbe zu verwenden sind. Es musste sofort begonnen werden. In drei Stunden hatten wir den Sarg fertig, aber die Werkstatt war wieder neu zu reinigen. Dafür gab es kein Lob, kein Geld und keine Freizeit.

Nun war ich klein von Gestalt und konnte beim Hobeln nicht mit genug Kraft den Hobel führen. Ich habe mir dadurch den rechten Ellenbogen blutig gestoßen. Nach zwei Wochen bekamich endlich eine Holzbohle vor meine Hobelbank gelegt. Ich musste 4,50 Meter lange und 3 Zentimeter dicke Bretter von der Hobelmaschine nach einem Hobelgang durch das geöffnete Fenster der Werkstatt ziehen und um das Haus herumtragen, um die Bretter wieder an die Hobelmaschine zu bringen, und das stundenlang. Ich war oft den Tränen nahe, getraute mich aber nicht zu weinen. Mein Meister hat einmal die Bretter für sieben Schlafzimmer vergessen und ich musste das ganze Brettermaterial mit der Handsäge zuschneiden. In zwei Tagen, von früh bis Feierabend 18 Uhr, mit nur einer Mittagspause, habe ich das geschafft.

Unzumutbar für einen 14-jährigen war ein anderer Auftrag: Ein von uns gefertigter Sarg war wegen des Aufquellens des Leichnams zu klein. Wir fertigten einen neuen Sarg und brachten ihn zum Leichenhaus. Dort wurde der Tote umgebettet und trotz unseres verständlichen Grausens mussten wir den bereits bekleckerten Sarg in die Werkstatt zurückbringen und ihn dort säubern, weil er beschmutzt war und übel roch. Der Sarg wurde innen mit Sägemehl bestreut und in der Hütte für Holzreste und Abschnitte eingelagert. Dieser stinkende Sarg blieb in dieser Hütte geöffnet bis zur Wiederverwendung. Jedes Mal, wenn ich in die Hütte musste, ekelte es mich. Eines Tages musste ich diesen Sarg innen mit schwarzem Sarglack streichen, damit er den penetranten Leichengeruch verlor.

Wir lieferten immer drei Särge als Reserve ins Krankenhaus Teisendorf. Der Billigkeit wegen wurden sie nicht schwarz lackiert, sondern braun gebeizt. In einem Fall aber bestanden die Angehörigen darauf, dass der imKrankenhaus Verstorbene einen schwarzen Sarg bekam. Mein Meister schickte mich zum Lackieren mit der Bemerkung: 'Brauchst Dir nichts zu denken, wenn der Tote schon im Sarg liegt.' Eine Klosterschwester begleitete mich ins Leichenhaus und tatsächlich lag bereits ein Toter im Sarg. Der Deckel zum Sarg war seitlich abgelegt, aber das weiße Leintuch lag über dem Sargrand. Ich musste es wegstecken, um es nicht mit Farbe zu bekleckern. Nach einer Weile besuchte mich die Ordensschwester mit einem Apfel, weil ich so tapfer meinen Auftrag erledigte. Den Apfel steckte ich in meine Tasche,ummöglichst schnell aus dieser Situation herauszukommen.

Ein andermal schickte mich mein Meister zum Sammeln für die Armen (heute nennt man das Caritas- Sammlung). Papierbogen und Bleistift zum Unterschreiben gab er mir mit und zeichnete mir die Orte und Gehöfte und einzelne Häuser auf, wo ich anklopfen sollte. Es war ein Aufatmen in mir, als ich bei einigen Leuten zehn oder zwanzig Pfennig bekam. Erst wurde ich gefragt, wer mich schickt, dann waren sie verwundert, dass dieser ehrenamtliche Auftrag der Gemeinde nicht vom Meister selbst erledigt wurde. Meinem Gott dankte ich für diesen Auftrag, dass ich endlich allein sein und einer leichteren Beschäftigung nachgehen konnte. Damals waren die zehn Mark, die ich sammelte, viel Geld.

Was ich in diesen 3½ Jahren mit wöchentlich 54,5 Stunden Arbeitszeit lernte,war beachtlich. Ich machte Möbel aller Art. Und da wir auch eine Bauschreinerei hatten, lernte ich Türen mit Türstöcken, Fensterbänke mit Rahmen und Wandverkleidungen zu machen. Mein Meister verstand sich aufs Anstreichen, Lackieren und Maserieren. Die Möbel, die bestellt waren, gingen fix und fertig,mit Beschlägen versehen,zum Kunden. Der Meister führte die verschiedenen Maserierungen von Fichten- und Eichenholz so täuschend ähnlich aus, dass ich mir die Vorarbeiten und Arbeitsschritte gut merkte. Auch Decken und Fußböden machten wir und fertigten Möbel bis zum letzten Farbanstrich, das gehörte damals zu unserem Handwerk.

Meine Entlohnung war im dritten Lehrjahr wöchentlich zwei Mark, im letztenHalbjahr der dreieinhalb Jahre wöchentlich vier Mark. Wobei den Preis für das Material meines Gesellenstücks (16 Mark) der Meister vom Lohn einbehalten hat. Das Gesellenstück war ein Nähtischchen, Eiche, furniert, mit Schubladen. Zur Gesellenprüfung brachte ich einen Rucksack voll mit Modellen von Holzverbindungen in verschiedenen Schwierigkeitsgraden mit, zum Beispiel einen ovalen Fensterstock. DieseModelle behielt die Prüfungskommission für ihre Handwerker-Ausstellung. Es war eine Ehre fürmich, Geld gab es dafür nicht.

Arbeitslosigkeit (1927 bis 1929)

Wer die Arbeitslosigkeit nicht erleben musste, kann seinem Herrgott danken. Ein junger Mensch, dernach 3½ Jahren Lehrzeit keine Arbeit bekommen kann, kommt sich so überzählig auf der Welt vor, dass er bedauert, je geboren zu sein. Es war eine trostlose Lage nach der Lehre, da ich vorher im letzten halben Jahr 4 Mark pro Woche erhalten hatte. Man hätte sich glücklich gefühlt, endlich als Mensch anerkannt zu werden und mit einem Wochenlohn von 25 bis 28 Mark heimzugehen. Die Nachkriegszeit und die Erbärmlichkeit der Handwerksmeister waren an dieser Misere schuld. Wenn man in seinem Beruf keine Arbeit bekam, bekam man zu hören: Zuerst brauchen die Kriegsheimkehrer Arbeit und Brot. Die Not war groß. Ich habe 17 Bittgesuche um Arbeit geschrieben. Wenn überhaupt eine Antwort kam, dann nur eine ablehnende.

Von 1927 bis 1929 war ich arbeitslos. Mein Vater konnte uns aber nicht so herumstehen sehen, hatte er doch gehofft, uns vier Brüder endlich aus der Not heraus zu haben. Ja, wenn wir nur Arbeitslosenunterstützung bekommen hätten. Eine schriftliche Eingabe brachte meinem Vater den amtlichen Bescheid ein, dass er Beamter in fester Besoldung sei, und so erwartet werden dürfe, dass er seine Söhne weiterhin ernähren kann.

Ich versuchte mein Glück als Kellner-Lehrling und fiel auf ein Inserat in der Bayerischen Zeitung herein. Ich meldete mich beim Café Kekseisen in Hof an der Saale. Ich bekam den Bescheid, dass ich mit Kleidung und Schuhen sowie Wäsche ordentlich ausgerüstet sofort anfangen könne. Ein erreichbarer Verdienst von 149 Mark winkemir.Meine Mutter stattete mich mit dem Nötigsten aus, zwei weiße Kellnerjacken, zwei schwarze Hosen, Hemden mit losem Stehkragen und schwarzer Fliege, obwohl sie jeden Pfennig zweimal umdrehen musste. Sie hoffte, dass ich endlich zu Lohn und Brot kam. Weit gefehlt – alles umsonst: Als ich ankam, wurde ich von einer älteren, strengen Sekretärin den bereits anwesenden fünf anderen Kellner-Lehrlingen und dem Oberkellner vorgestellt.

Zum Weinen sah unsere Unterkunft aus. Unterm Dachgebälk im 5. Stock standen unsere Eisenbettstellen, dazu gab es eine Wasserstelle, wo wir mit einem Krug Wasser zum Waschen holen konnten. Unsere Utensilien mussten wir im Koffer lassen. Das Café war im Parterre und erstem Stock. Die Bestellungen aufgenommen und kassiert hat der einzige Kellner, ein Saukerl. Wir sechs Lehrlinge wurden auf die Servicebereiche eingeteilt. Was zu tun war, wurde uns gezeigt. Wenn eine Sektoder Weinflasche bestellt wurde, durften wir das Öffnen dem Herrn Oberkellner melden, der dann auch bei der Bezahlung die Rechnung stellte und das Geld einzog. Wo da unser Verdienst war, wussten wir nicht. Was wir an Gläsern beim Abtrocknen zerbrachen oder was beim Servieren kaputt ging, mussten wir sofort bezahlen oder es wurde vom Verdienst abgezogen. Erst am nächsten Tag wurde uns klar, wofür man so viele Kellner-Lehrlinge einstellte. Das Café war im Besitz einer Keksfabrik und wir wurden täglich am Vormittag zwischen 9 und 12 Uhr als Zugtiere missbraucht. Es waren zwei Brückenwagen mit versandfertigen Kekskisten die 300 Meter von der Keksfabrik zur Güterhalle zu ziehen.

Mit einem 19-Jährigen aus München, der schon vor mir da war, beriet ich mich, ob wir abhauen oder bleiben sollten. Unter den gegebenen Umständen zogen wir es nach einer Woche vor, abzuhauen, bevor unser letztes eigenes Geld zur Neige ging. Wir fuhren früh um 5 Uhr von Hof über Regensburg 7½ Stunden nach München. Vorher kauften wir uns als Tagesverpflegung für 65 Pfennige Sprotten und eine große Semmel. Der Kollege nahm mich in München zu seiner Mutter mit, dort konnte ich übernachten und fuhr am nächsten Morgen fünf Stunden über Rosenheim nach Teisendorf. Ich hatte natürlich Angst vor meinen Eltern, wenn ich so früh schon zurückkam. Als mich meine Mutter sah, rief sie: 'Bist Du schon wieder da?' Sie war so enttäuscht, dass es mir kalt über den Rücken lief.

Im Sommer und Herbst konnte ich vier Monate lang als Hilfsarbeiter beim Malermeister Rappel in Traunstein arbeiten. Er hatte gesehen, dass ich mit Farbe und Pinsel umgehen konnte. Meine erste Arbeit war, die Untersicht der Bahnsteigdächer zu streichen. Mein Problem war, auf der 12-Sprossen-Staffelei arbeiten zu müssen, da ich nicht schwindelfrei bin. Mit Angst stieg ich die Sprossen aufwärts, schon schaukelte die Staffelei. Und je mehr Angst ich hatte, desto eher fiel mir das Werkzeug hinunter. Doch auch diese Angst konnte ich überwinden. Für die Stunde bekam ich 40 Pfennig Lohn. Bei einer 54-Stunden-Woche waren das 21,6 Mark in der Woche. Fünf Mark hatte ich zuhause abzugeben, zwei Semmeln kosteten 10 Pfennig, ein Paar Schuhe 18 bis 24 Mark, ein Anzug zwischen 70 und 150 Mark.

Besonders in Erinnerung ist mir das Streichen der Fensterstöcke und Dachrinnen am Institut Sparz. Wir mussten dafür auf eine auf 40 Sprossen verlängerte Leiter, weil wir nicht ins Haus durften. Warum, das erfuhr nur unser Meister. Für uns war das Institut ein 'wohlbehüteter Hühnerstall'. Die Zöglinge, alles Mädchen in grünen Kleidern mit roten Gürteln und blauen Baskenmützen nannten wir wegen des Geschnatters 'Sparzer Gänse'. Die Leitern waren so lang, dass sie sich in der Mitte bis zu 80 Zentimeter durchbogen. Während meiner Arbeitslosigkeit besuchte ich im Winterhalbjahr 1928/29 die Meisterschule für Bauhandwerker. Mein Vater wollte das so, weil er mich gerne im technischen Dienst der Reichsbahn unterbringen wollte. Weil ich in dieser Zeit schon im 2. Jahr arbeitslos war, bekamich in derWoche 10 Mark Unterstützung, dafür musste ich aber dreimal in der Woche vorstellig werden und um Abstempelung des Arbeitslosenausweises bitten. Zeichenpapier und sonstiges Material für die Schule musste ich selbst bezahlen. Das Schulgeld hat mein Vater übernommen, kontrollierte dafür aber auch meine Arbeiten.«

 

Aus: Lebenserinnerungen von Fritz Dohlus (geboren 26.7.1910 in Regensburg, gestorben 29.4.2000 in Traunstein), gekürzt und an die neue Rechtschreibung angeglichen durch Ernst Dohlus.

 

Teil II in den Chiemgau-Blättern Nr. 11 vom 16. 3. 2024)

 

10/2024