Mit einem gezielten Schuss von seinem Leiden erlöst
Vielleicht der älteste Bericht einer Bergrettung in den Berchtesgadener Alpen

Bergunfälle faszinieren Medien und Publikum gleichermaßen. Das war schon immer so. Durch Zufall kam ich vor Jahren in den Besitz eines Textes aus der »Kaiserlich-Königlich privilegierten Salzburger Zeitung, Amts- und Intelligenzblatt der Bischofstadt« aus dem Jahr 1845, in dem es um ein Bergdrama am Untersberg geht. Vielleicht eine der ältesten Beschreibungen einer alpinen Rettungsaktion in den Berchtesgadener Alpen überhaupt.
In dem Artikel schildert der Salzburger Buchdruckergehilfe Michael Gießhammer ausführlich seine wunderbare Rettung aus der Felswand oberhalb von Hallthurm am Untersberg. Dabei schildert er auch ein anderes Bergdrama, das sich einige Jahre vorher an derselben Stelle zugetragen habe. Damals hätte sich ein Wanderer in den steilen Felsen dermaßen verstiegen, dass er weder vor noch zurück konnte. Irgendwann hätten ihn die Kräfte verlassen. Er sei abgestürzt und verletzt auf einem Felsband liegen geblieben. Tagelang habe man in Hallthurm das verzweifelte Schreien und Wehklagen des Bedauernswerten gehört. Endlich haben sich dann ein Geistlicher und ein Scharfschütze auf den Weg gemacht. Sie hätten sich so weit wie möglich dem Verunglückten genähert. Nachdem der Herr Pfarrer seinen Hochwürdigsten Segen erteilt hätte, habe der Scharfschütze den Unglückseligen mit einem gezielten Schuss von seinem Leiden und Verschmachten erlöst. Erstaunlicherweise findet sich in Gießhammers Bericht keinerlei Kritik an dieser — alles andere als erfolgreichen — »Bergrettung«. Auch die Redaktion des Salzburger Intelligenzblattes sah keine Notwendigkeit, die Tat des Scharfschützen und des ihn begleitenden Hochwürdigen Herrn Pfarrers zu tadeln.
»Ich trat am 31. Juli 1845 um 2 Uhr früh meine Wanderung auf den Untersberg an, wo ich die Alm Zehnkaser und den Berchtesgadener Hochthron besteigen wollte«. So beginnt Gießhamers Bericht. Er scheint ein begeisterter Amateurbotaniker gewesen zu sein. »Ausgerüstet war ich mit einer Pflanzensammelbüchse, einem Spaten zum Wurzelgraben, einem Sack zum Einpacken derselben, einer Pistole nebst Schießpulver und einem Berg-Wanderstabe«. Um 5 Uhr früh gelangte er in Hallthurm an, wo er sich nach dem Steig zum Zehnkaser erkundigte. »In einer Büchsenschuß-Weite solle ich die Poststraße verlassen, über das Klamml aufsteigen, mich immer links haltend, erhielt ich zum Bescheid«.
Auf dem Weg zum Zehnkaser wandernd, erblickte Gießhamer zu seiner Rechten »einen Platz mit reicher Alpen-Vegetation«. Ohne lange zu überlegen, verließ er den sicheren Pfad und begann über das steile Schrofengelände zu diesem Pflanzenparadies zu klettern. »Ich füllte meine Sammelbüchse mit Aurikel, Edelweiß, Schweißblümchen, Steinbrecher und noch etlichen anderen seltenen Alpenpflanzen und übersah in meinem Sammeleifer völlig, dass ich inzwischen in einer Felswand angelangt bin, in welcher weder ein Baum noch ein Strauch sich befand, an dem ich mich anhalten konnte und der Pfad nur für Gemsenfüße aber nicht für Menschenbeine wandelbar war. Mit größter Anstrengung und in beständiger Absturzgefahr erreichte ich glücklich einen Felsenvorsprung, wo ich endlich aus Erschöpfung niedersank«.
Im weiteren Verlauf seines Berichts schildert Gießhamer seine verzweifelten Versuche dem Felslabyrinth zu entkommen um in einen etwas flacheren Teil der Felswand sich an Sträuchern und Bäumchen nach unten hangeln zu können. »Als ich beinahe den rettenden Wald erreicht hatte, sah ich mich auf einer höchst bestürzenden Weise in meiner Hoffnung abermals getäuscht. Hier gähnte mir ein grauenhafter Abgrund entgegen. Mit größter Mühe und beständig in Todesgefahr schwebend, musste ich die Felswand wieder hinaufklimmen.«
Offensichtlich war der wackere Herr Buchdruckergehilfe Gießhammer mehr Botaniker als Felskletterer. Stundenlang rang er mit Steilstufen und Felsgraten. »Jetzt ging meine Angst schon in Verzweiflung über.« Endlich erreichte er ein Felsband mit einer einsam stehenden Lärche. Er verlängerte seinen Gürtel mit einem Stück Stoff, schlang ihn um den dünnen Baumstamm und band sich daran fest, »um den zwei Fuß breiten Raum als Nachtlager zu benutzen, welchen öfters raubgierige Geier kreisend umflogen. Als Rückenlehne hatte ich eine kirchturmhohe Felswand, während die Füße in den Abgrund hingen. Ich hatte nun alle Hoffnung auf Rettung verloren«.
Als Gießhammer auf der Berchtesgadener Poststraße unter sich Fuhrwerke und Wanderer sah, begann er so laut er nur konnte um Hilfe zu rufen. »Aber sie schienen meine Notschreie nicht zu hören. Ich nahm Zuflucht zu meiner Pistole und feuerte einen Schuss ab. Allein die Leute schienen sogar den Pistolenknall nicht zu hören.« Er feuerte noch zwei weitere Schüsse ab, »welche donnerähnlich ringsum in den Felswänden widerhallten«. Auch sie schienen ungehört und unbeachtet verklungen zu sein. Allmählich wurde es dunkel. Aus Angst abzustürzen »gönnte ich mir die Wohltat eines erquickenden Schlummers nicht. Diese Nacht ist mir zu einer halben Ewigkeit geworden«.
Im Morgengrauen vernahm er plötzlich menschliche Stimmen. Bald darauf sah er einen Mann die Felswand heraufklettern. »Mir durchfuhr nun eine ganz schreckliche Erinnerung wie ein Blitz durch meine Seele, denn ich hatte gehört, dass man oberhalb von Hallthurm vor Jahren einen Mann, der sich verstiegen hätte, mit einem gezielten Schuss von seinem Leiden erlöst hätte. In meiner Verzweiflung schrie ich so laut ich konnte dem Mann entgegen, er solle mich bitte nicht erschießen!« In seiner Panik hatte Gießhammer gar nicht bemerkt, dass seine Retter ohne Schießgewehre unterwegs waren. Nach etlichen vergeblichen Versuchen zu Gießhammer aufzusteigen gelang es immerhin, ihm ein Seil zuzuwerfen. »Ich band mir das Seil um den Leib und schlang es um den Baumstamm und warf das Ende wieder meinen Rettern zu. Hierauf ließ ich mich an dem Seil hinunter, während es meine Retter langsam nachließen. Die Fahrt machte ich mit an die Felswand angestemmten Füßen wie die Bergputzer vom Mönchsberg.« Endlich auf sicherem Boden angekommen, sah er sich »von 20 bayerischen Salinenarbeitern umgeben, welche mich sogleich mit klarem Wasser und Brot labten. Hierauf erzählten sie mir, dass sie meine Hilferufe schon gestern gehört hätten und sofort beim Landesgericht Meldung gemacht hätten. Besonders hätte sich meine Rettung der Großgmainer Bauer Franz Steinbacher angelegen sein lassen.«
Heutzutage würde die Rettungsaktion ganz anders verlaufen. Der Buchdruckergehilfe Michael Gießhammer wäre inzwischen vermutlich Mediadesigner. Er hätte keine Pistolemehr im Rucksack sondern ein Handy. Statt um Hilfe zu schreien, würde er den Notruf 112 betätigen. Die Funkleitstelle würde an Hand der GPS-Daten seinen Standort auf den Meter genau orten. Ein Hubschrauber würde aufsteigen. Ein bestens ausgebildeter und durchtrainierter Bergwachtmann würde sich zu ihm abseilen. Statt ihm einen Hanfstrick um den Bauch zu binden würde man Gießhammer in einen bequemen Sicherheitstragsitz packen und per Seilwinde in den Hubschrauber befördern. Minuten später würde der Hubschrauber auf der Blumenwiese gleich neben dem Hallthurmer Bahnhof landen und Michael Gießhammers Bergabenteuer wäre zu Ende. Als Mitglied des Alpenvereins hätte er eine gute Unfallversicherung. Die Rettungsaktion würde ihn keinen Cent kosten
Otto Huber
20/2024