Jahrgang 2024 Nummer 14

Königlichen Schreihälsen auf die Welt geholfen

Coburger Hofhebamme Charlotte Siebold erste promovierte Frauenärztin Deutschlands

Charlotte Heidenreich von Siebold brachte als Hebamme Königin Victoria und deren späteren Gatten Prinz Albert von Sachsen-Coburg zur Welt.
Mutter und Tochter wohlauf: Die Herzogin von Kent mit der kleinen Victoria. Gemälde von Henry Bone 1824.

»Später trafen wir Madame Heidenreich, die eine echte Ärztin ist und Mama beigestanden hat, als ich geboren wurde – wie auch Alberts Mutter, als er geboren wurde, was ein wirklich kurioser Umstand ist. Und sie hat keinen von uns seitdem gesehen«, notiert die britische Königin Victoria 1845 anlässlich einer Deutschlandreise in ihr Tagebuch.

Diese Zeilen sind nicht nur Teil einer bayerisch-britischen Liebesgeschichte, sondern beziehen sich auch auf ein historisches Kapitel der Medizin. Die erwähnte Madame Heidenreich – mit vollem Namen Charlotte Heidenreich von Siebold war nicht nur die Haus- und Hofhebamme der herzoglichen Familie in Coburg, sondern auch eine der ersten promovierten Medizinerinnen der Geschichte. Ihren zwei berühmtesten Babys half die ungewöhnliche Frau 1819 auf die Welt: Im Mai in London der späteren britischen Königin Victoria und im August deren Cousin und späteren Gatten Prinz Albert von SachsenCoburg.

Charlotte Heidenreich von Siebold selbst erblickte 1788 als erstes Kind des Regierungsrats Johann Georg Heiland und dessen Frau Josepha im thüringischen Heiligenstadt das Licht der Welt. Als Heiland wenige Jahre später starb, ehelichte seine Witwe den Würzburger Arzt Damian von Siebold, der die kleine Charlotte und die nach ihr geborene Schwester adoptierte. Die zusammengewürfelte Familie zog zunächst nach Worms und später nach Darmstadt, wo Siebold mit seiner Frau, die Hebamme ist, eine Entbindungsanstalt aufbaut.

Charlotte wird zu Hause von beiden Eltern unterrichtet und äußert schon früh den Wunsch, ebenfalls Geburtshelferin zu werden. Der Vater bringt ihr dazu die nötigen theoretischen Kenntnisse bei und von der Mutter erhält sie die praktische Unterweisung.

Damian von Siebold schafft es dank seiner Verbindungen auch, dass seine Adoptivtochter ab 1811 an der Universität in Göttingen private Vorlesungen bei renommierten Geburtshelfern erhält. Für Frauen ist es zur damaligen Zeit mehr als außergewöhnlich, eine Hochschule von innen zu sehen – ausgenommen die dortigen Putzfrauen. Höhere Bildung für Mädchen oder gar ein reguläres Studium an Universitäten sind Errungenschaften des 20. Jahrhunderts – in Bayern wird erst 1916 der erste Jahrgang regulärer Abiturientinnen an einer öffentlichen Schule verabschiedet. Bis dahin gelingt es Frauen wie Charlotte nur in wenigen Ausnahmefällen, in eine rein männliche Phalanx einzudringen.

1813 legt die damals 25-Jährige am Medicinal-Collegium in Darmstadt zunächst die Prüfung zur Geburtshelferin ab. Doch die frischgebackene Hebamme ist ehrgeizig: Sie will nicht nur als Anhängsel gesehen werden, das in Anwesenheit eines Arztes automatisch auf den Rang einer Helferin verwiesen wird, sondern auf gleicher Augenhöhe mit männlichen Medizinern arbeiten. Für den Großteil der damaligen Gelehrten ist so etwas ein Unding, wie die folgende Meinung Friedrich Ossianders verdeutlicht, einem der führenden Geburtshelfer der damaligen Zeit, der Charlotte sogar grundsätzlich wohlwollend gegenüberstand, denn er war einer der Professoren, bei dem sie in Göttingen studiert hatte: Es sei eine Torheit, so Ossiander, wenn man glaube, Hebammen könnten dasselbe leisten wie ein verständiger Arzt: »Wenn man solche Jungfern und Frauen auch zu Doctoren creirt, wird ihnen Heilwissenschaft und Heilkunst mit dem schönsten Diplom nicht zuteilwerden, und der Geist der Weisheit und des Verstands in medizinischen und chirurgischen Dingen durch den Doctorhut nicht über sie kommen.«

Doch Charlotte überwindet auch diese Hürde: Ein Professor der Gießener Universität erklärt sich bereit, sie unter seine Fittiche zu nehmen und 1817 schafft sie die Promotion mit einer Doktorarbeit über Schwangerschaften außerhalb der Gebärmutter. Die frischgebackene Frau Doktor kehrt anschießend nach Darmstadt zurück, um im Krankenhaus ihrer Eltern zu arbeiten. Ihr Ruf als fachkundige Geburtshelferin spricht sich schnell herum und es dauert nicht lange, bis man auch in höheren Kreisen auf die ungewöhnliche, junge Frau aufmerksam wird.

1818 erreicht Charlotte eine Anfrage vom Coburger Hof, ob sie der jungen Herzogin Luise bei ihrer Entbindung beistehen könne. Am 21. Juni 1818 bringt die erst 17-jährige Schwangere unter fachkundiger Hilfe ihrer jungen Ärztin einen Buben, Ernst, zur Welt – den älteren Bruder Prinz Alberts. Als wenig später Luises Schwägerin Victoire in anderen Umständen ist, entschließt auch sie sich, Charlotte Heidenreich von Siebold zu engagieren. Victoire ist nicht mehr ganz so jung wie Luise und hat schon zwei Kinder zur Welt gebracht. Trotzdem blickt man mit ganz besonderer Spannung auf diese Entbindung, und das nicht nur in den Familien der werdenden Eltern, sondern in ganz Europa. Der kleine Spross, der im Bauch Victoires heranwächst, hat nämlich gute Chancen, einst auf dem britischen Thron zu sitzen und damit die Herrschaft über eines der mächtigsten Königreiche der damaligen Zeit inne zu haben.

Die genealogische Geschichte dazu ist allerdings etwas verworren: Victoire, geborene Prinzessin von Sachsen-Coburg, war in zweiter Ehe mit dem britischen Prinzen Edward Augustus verheiratet. Der ist zwar nur der viertgeborene Sohn König Georges III., doch eine Reihe tragischer Schicksale hat ihn an die vorderste Front der potenziellen Thronfolger gespült: Edwards ältester Bruder George, der spätere König George IV. hatte aus seiner Ehe nur ein legitimes Kind, Tochter Charlotte. Doch die Princess of Wales war 1817 bei der Geburt ihres ersten Kindes zusammen mit dem Baby gestorben. Die Thronfolge ging damit auf den jüngeren Bruder Georges IV., Friedrich August über, der jedoch kinderlos war. Und die beiden nachfolgenden Brüder William und Edward waren zum Zeitpunkt des Todes ihrer Nichte noch nicht einmal verheiratet.

Das sollte sich allerdings schnell ändern: Von ihrer Mutter, Königin Charlotte, gedrängt, endlich ihre Pflicht zu tun, entschieden sich beide Söhne 1818 für zwei deutsche Prinzessinnen: William heiratet Adelheid von Sachsen-Meiningen und Edward Augustus, der den Titel Herzog von Kent trägt, ehelicht Victoire von Sachsen-Coburg-Saalfeld, verwitwete Fürstin von Leiningen. Beide Bräute wurden dann auch, wie erhofft, schnell schwanger und alles wartete gespannt auf die Geburten, für die Victoire sich Charlotte Heidenreich von Siebold als Geburtshelferin gesichert hatte.

Die Kents hatten nach der Heirat auf Schloss Amorbach im Odenwald Wohnung bezogen, dem Familiensitz Victoires während ihrer Ehe mit dem Fürst von Leiningen – aus finanziellen Gründen, denn Edward ist ständig klamm im Geldbeutel und das Leben in Deutschland ist billiger als am englischen Hof. Ihr Kind jedoch soll in England zur Welt kommen – um die Legitimität sicherzustellen. Weil Edward jedoch kein Geld für die Reise hat und der englische Hof sich zunächst ziert, die Kosten zu übernehmen, verzögert sich die Abreise.

Erst im März 1819, als Victoire schon hochschwanger ist, bricht der herzogliche Tross endlich von Amorbach auf. Mit dabei ist auch Charlotte Heidenreich von Siebold, die sicher Stoßgebete zum Himmel schickte, dass die rumpeligen Straßen nicht vorzeitig Wehen bei Victoire auslösen. Nach zehntägiger Schaukelei über Stock und Stein erreichen die herzoglichenKutschenCalais,wodie Strapazen für die Herzogin noch immer nicht vorbei sind, denn auf der Überfahrt wird sie von einer heftigen Seekrankheit geplagt.

Endlich in London angekommen, wartet schon der nächste Schreck: Der Kensingtonpalast, in dem das Herzogspaar wohnen wird, ist völlig heruntergekommen: Das Dach leckt, die Wände sind feucht und Mobiliar ist auch kaum vorhanden. Victoire beißt noch einmal die Zähne zusammen und mit Hilfe Charlottes wandelt sie ein Esszimmer zum Geburtszimmer um. Der betreffende Raum war nicht nur in der Nähe der Küche, so dass schnell heißes Wasser verfügbar ist, sondern hat auch ein geräumiges Nebenzimmer, in dem die für die Geburt eines königlichen Babys als Zeugen notwendigen Würdenträger wie der Erzbischof von Canterbury und der Lordkanzler Platz finden.

Am 23. Mai 1819 spät in der Nacht setzen bei der Herzogin von Kent schließlich die Wehen ein. Neben Charlotte Heidenreich von Siebold stehen auch zwei königliche Leibärzte auf Abruf bereit, doch die Leitung der Geburt liegt in den Händen der gebürtigen Thüringerin. Wie die Schwangere und die königliche Familie hatte wahrscheinlich auch sie die Ereignisse von vor zwei Jahren im Hinterkopf: Die damalige Thronfolgerin, Charlotte, hatte nach einem über zwei Tage andauernden Martyrium einen totgeborenen Sohn zur Welt gebracht und war selbst wenige Stunden später ebenfalls gestorben, wobei die Todesursache heute umstritten ist. Neben unstillbaren Blutungen der Gebärmutter könnte die Prinzessin auch eine Lungenembolie erlitten haben. Und das Baby, das Adelheid von Sachsen-Meiningen im März 1819 zur Welt gebracht hatte, war noch am selben Tag gestorben.

Geburten waren zu Beginn des 19. Jahrhunderts grundsätzlich eine lebensbedrohliche Angelegenheit, sowohl für die Mutter wie auch das Kind und die Möglichkeiten, auf Komplikationen zu reagieren, waren gering. Die Herzogin von Kent hatte jedoch doppeltes Glück: ihr stand nicht nur versierte Hilfe zur Seite, sie hatte auch eine vergleichsweise schnelle Entbindung: Um 4.15 Uhr des 24. Mai 1819 trat eine strahlende Frau Doktor aus dem Geburtszimmer und verkündete den anwesenden Zeugen im Nebenzimmer in gebrochenem Englisch: »Verry nice beebee. No big but full. Leetle bone, mush fat« – »Sehr schönes Baby, nicht groß, aber kräftig. Zarte Knochen, viel Fett.« Der stolze Vater des Kindes, das den Namen Alexandrina Victoria erhielt, war in einem Brief an seine Schwiegermutter voll des Lobes über Charlotte Heidenreich: »Sie hätte nicht mehr Aktivität, Umsicht und Wissen beweisen können bei der Geburt«, schwärmte der Herzog, der überzeugt war, dass seine Tochter einst Königin sein werden würde – womit er auch tatsächlich Recht behalten sollte, denn alle weiteren fünf Babys seines älteren Bruders William und dessen Frau Adelheid, die in der Thronfolge vor der kleinen Prinzessin rangiert hätten, kamen ebenfalls entweder tot zur Welt oder starben kurz nach der Geburt.

Auf Charlotte Heidenreich wartete nach der Geburt der kleinen Alexandrine Victoria indes schon wieder eine neue Aufgabe: Die junge Herzogin in Coburg war wieder schwanger und wollte auch diesmal nicht auf die Dienste ihrer erprobten Hebamme verzichten. Anfang August 1819 verlässt Charlotte, deren Schützlinge, Victoire und Victoria, beide wohlauf sind, London und macht sich auf den Weg nach Franken, wo sie am 26. August einem kleinen Prinzen auf die Welt hilft: Der Bub, genannt Albert, wird 21 Jahre später jenes Mädchen heiraten, das nur Wochen zuvor im Kensingtonpalast seinen ersten Schrei getan hatte.

Zum Zeitpunkt der Heirat ist die kleine Prinzessin dann tatsächlich Königin, so wie es ihr Vater vorausgesagt hatte – Edward August selbst war schon ein halbes Jahr nach der Geburt seines einzigen Kindes gestorben.

Charlotte Heidenreich von Siebold, die 1829 den 14 Jahre jüngeren Militärarzt August Heidenreich geheiratet hatte, machte sich indes weiter als Geburtshelferin und Ärztin verdient und kümmerte sich dabei besonders um Arme und Bedürftige. Sie gründete Spitäler und Wöchnerinnenstationen und setzte sich darüber hinaus für die Förderung weiblicher Wissenschaftler ein. Die Begegnung Charlottes mit Königin Victoria und Prinz Albert 1845 während eines Staatsbesuchs in Mainz, dürfte für sie sicher zu den Höhepunkten ihres, an Ereignissen reichen, Lebens gehört haben. Ihre Tätigkeit als Medizinerin und Hebamme übte sie bis zu ihrem Tod aus. Charlotte Heidenreich von Siebold starb 1859 im Alter von 71 Jahren in Darmstadt.

 

Susanne Mittermaier

 

14/2024