Jahrgang 2002 Nummer 45

Hasenhirsch, Hundebär und Krallentier

Bayerns vorzeitliche Tierwelt bei einer Ausstellung in München

Man schreibt den 25. März 1959. Professor Richard Dehm, der Direktor der Bayerischen Staatssammlung für Paläontologie und historische Geologie, befindet sich auf der Heimfahrt von einem Verwandtenbesuch in der Hallertau nach München. Als er den östlichen Ortsrand von Sandelzhausen bei Mainburg passiert, fällt sein Blick auf eine Kiesgrube, deren Steilwand ein gut zwei Meter breites, graugrünes Mergelband durchzieht.

Der Professor hält an und füllt einige Schaufeln Mergel in die stets mitgeführte Pappschachtel. Als er die Probe am nächsten Tag untersucht, entdeckt er darin zahlreiche Gehäuse von Land- und Wasserschnecken, Knochenstücke von Krokodilen, Nashörnern und Schildkröten. Eine im Labor ausgewaschene Schlammprobe fördert zierliche Knochen und Zähnchen längst ausgestorbener Nagetiere und Insektenfresser ans Licht.

Die Datierung der Fossilien bereitet keine Schwierigkeiten. Sie stammen aus dem Unter-Miozän und sind etwa 16 Millionen Jahre alt. Damals herrschte in Mitteleuropa ein subtropisches, feuchtes Klima mit geringen jahreszeitlichen Schwankungen. Auf den Hochflächen der Schwäbischen Alb erstreckten sich lockere Trockenwälder, tiefer liegende Bereiche wie das heutige Alpenvorland waren von dichten Wäldern und ausgedehnten Sümpfen bedeckt.

Bald stellte sich die Kiesgrube von Sandelzhausen als eine Jahrhundert-Entdeckung heraus. Auf engstem Raum konnten Überreste von rund 150 verschiedenen Tierarten identifiziert werden, die im wahrsten Sinn des Wortes von der Maus bis zum Elefanten reichen.

Nach der Einstellung des Kiesabbaus mussten die Grabungen jahrelang ruhen. Erst der Ankauf des Geländes durch die Stadt Mainburg im Jahre 1993 ermöglichte die Fortführung der Ausgrabung. Bis zum Jahre 1995 hatten die Mitarbeiter der Bayerischen Staatssammlung und der Universität mit Pickel, Spachtel und Messer insgesamt über 500 Kubikmeter Sedimente systematisch durchsucht und über zehntausend Fossilreste geborgen.

Zu den interessantesten Funden gehören zwei exotisch wirkende, weltweit seit langem ausgestorbene Tierarten: Der zierliche Hasenhirsch und der große, plumpe Hundebär. Ihre Namen sind auch das Motto der Ausstellung »Hasenhirsch und Hundebär – Bayerns Tierwelt vor 16 Millionen Jahren«, die bis Ende November im Paläontologischen Museum in München gezeigt wird.

Obwohl der Hasenhirsch in Größe und Gestalt den heutigen Hasen ähnelt, ist er ein Vorfahre der Hirsche. Kennzeichnend für ihn sind lange Eckzähne im Oberkiefer und das merkwürdige Krönchengeweih, ein Auswuchs des Stirnbeins, der sich kronenförmig in sieben gleich lange Seitenästchen verzweigt. Als Waffe war dieses zierliche Geweih nicht brauchbar, vermutlich diente es zum Imponieren beim innerartlichen Konkurrenzkampf um die Gunst des Weibchens.

Die Bärenhunde erreichten die Größe eines Löwen, dem sie auch in ihrem Jagdverhalten als Schleichjäger glichen. Ihr Gebiss war hundeähnlich, das Skelett hat viele Gemeinsamkeiten mit dem Bärenskelett. Wie die Bären traten auch die Bärenhunde mit der ganzen Sohle am Boden auf, die mächtigen Pranken endeten in nicht zurückziehbaren Krallen. Mit Aufkommen der Großkatzen verschwanden die Bärenhunde allmählich von der Bildfläche.

Die häufigste Tierart unter den Säugern sind verschiedene Nashornarten, zum Teil solche ohne Horn. Vom Elefanten-Verwandten »Gomphotherium«, dessen prachtvoller Skelettabguss im Lichthof des Museums steht, fand man neben einem Unterkiefer und mehreren Backenzähnen den winzigen Milchstoßzahn eines Babies, der Seltenheitswert besitzt. Zu den verschiedenen Wiesel-, Marder- und Katzenarten gesellt sich das pferdegroße Krallentier mit sehr kräftigen Krallen an den verlängerten Vorderbeinen. Zwei in der heimischen Landschaft äußerst sonderbar anmutende Tiere sind ein Flughörnchen und der räuberische Baumbewohner »Ischyrictis«, der Ähnlichkeit mit dem in Skandinavien und Nordamerika vorkommenden Vielfraß hat.

In der zum Großteil unter Wasserbedeckung abgelagerten Schicht entdeckte man vierzehn verschiedene Süßwasserschnecken, diverse Schalenkrebse sowie die Wirbel von Wasser- und Sumpfschildkröten, aber auch Krokodile aus der Verwandtschaft der heutigen Alligatoren, ferner Biberverwandte und einige seltene Insektenfresser.

Der Lebensraum der meisten Tiere muss sich jedoch weit entfernt von der Fundstelle in den Uferwäldern des kleinen Flusses befunden haben, der im Bereich der heutigen Kiesgrube sein Bett ständig verlegte und die Sedimente ablagerte. Bei Hochwasser führte der Fluss zuweilen halb zerfallene Tierleichen sowie Gebiss- und Knochenteile mit sich und lagerte sie mit nachlassender Transportkraft im Bereich der jetzigen Fundstelle ab.

Trotz der nur spärlichen fossilien Reste vermittelt die Ausstellung mit Rekonstruktionen und Erläuterungen eine gute Vorstellung von der Fauna und Flora in Bayern vor 16 Millionen Jahren. Der Besucher erkennt den grandiosen Wandel, den unsere Landschaft und die Tier- und Pflanzenwelt seither durchgemacht haben; man denkt an den griechischen Weisen Heraklit, der vor zweitausendfünfhundert Jahren den Satz prägte »Alles befindet sich im Fluss.« Das bewahrheitet sich nicht nur im Leben jedes einzelnen Menschen mit dem Auf und Ab von Glück und Leid, sondern auch in der Geschichte unserer Erde mit dem Wechsel der Klimazonen sowie dem Auftauchen und Verschwinden der Tier- und Pflanzenarten – der Fluss des Lebens kennt keinen Stillstand.

JB



45/2002