Jahrgang 2002 Nummer 38

Fast hätte die Polizei den Ernstl erschossen

Eine wahre Begebenheit aus dem Teisendorf der Nachkriegszeit

Wann es genau war, weiß ich auch nicht mehr, ich glaube, so ungefähr 1947. Es gab noch Lebensmittelkarten und die Verkehrsverbindungen waren miserabel. Da hat man jede Mitfahrgelegenheit dankbar wahrgenommen und sei sie auch bei Wind und Wetter nur ein Platzerl auf der Ladefläche eines klapperigen LKW gewesen. Das Forstamt hatte so ein Lastauterl, einen Opel Blitz und der Sennhuber Hansl hat es gefahren. Eigentlich heißt er Willberger, aber der Bauernhof wo er herstammt, heißt beim »Söllnhuber« und weil der Volksmund die Aussprache immer etwas vereinfacht, wurde daraus der »Sennhuber«, in diesem Fall der Sennhuber Hansl. Er war damals noch ledig und musste oft in die Landeshauptstadt fahren. Wenn ich da ab und zu neben ihm als Mitfahrer gesessen bin und er virtuos durch zerbombte Münchner Viertel kurvte, da und dort wieder bei Rot stehen blieb und dann bei Grün selbstsicher seinen Weg fortsetzte, habe ich ihn immer bewundert und ich hab ihm das auch einmal gesagt: »Woaßt Hansl, i kennat mi da net aus, de vuin Schutthäufa und dann mit dene Ampln.« Darauf meinte der Hansl, seelenruhig zurückschaltend und vorsichtig bremsend auf die nächste Kreuzung zurollend: »I woaß’s auswendig wo de Ampln san, drei sans, drei sans in da ganzn Stadt.« Sie haben richtig gelesen, drei Ampln in ganz München!! Dazu muss man außerdem bemerken, dass der Umgang mit einem Auto den meisten Menschen damals, und mir natürlich auch, völlig ungeläufig war.

Um diese Zeit ist auch unser Männergesangsverein die »Harmonie«, nach dem Kriegsende wieder neu erstanden und wir jungen, sangesbegeisterten Männer probten fleißig jede Woche im Parmbichl beim Rainerwirt. Nach den Proben haben wir für gewöhnlich noch eine Zeit lang beim damaligen Dünnbier die Geselligkeit gepflegt und so ist es mitunter Mitternacht geworden, bis wir heimgegangen sind. An jenem Abend waren wir schon früher dran und wir waren zu dritt; außer mir der Ernstl und mein Bruder Ludwig. Wir sind gemütlich heimgeschlendert und haben unterwegs den Ernstl noch auf eine Zigarettenlänge in unser Elternhaus hereingelotst auf einen kleinen Ratsch. Sein Zuhause war nur ein paar hundert Meter weiter, aber er hat uns nichts davon gesagt, dass er heute nicht daheim, sondern auf dem benachbarten Rathaus übernachten müsse, wo er eine Stelle als Verwaltunslehrling gehabt hat. So sind wir auseinander gegangen, nichts ahnend, was sich da in wenigen Stunden abspielen sollte.

Der Sennhuber Hansl fuhr am nächsten Tag um halb fünf in der Früh nach München und ich hatte mich mit ihm schon zur Mitfahrt verabredet. Als ich dann kurz zuvor zum Forstamt, dem vereinbarten Treffpunkt gehen wollte, stand vor dem Rathaus der Bürgermeister Meier in seiner weißen Leinenjacke, die im Dämmerlicht besonders auffiel und hielt mich an: »Halt, wer is denn da?« Ich gab mich zu erkennen und er wies mich an, in der Eingangsnische des Rathauses stehen zu bleiben, da sich offenbar ein Einbrecher im Rathaus aufhalte. Gleich darauf kam unser Polizeimeister, er erkannte mich sofort im Lichtkegel seiner Stablampe und meinte: »Guat dass Sie da san, i hol ma grad no a Waffe.« Meinen Einwand, wir würden den Burschen doch auch so erwischen, ließ er nicht gelten. »Sicher is sicher« sagte er und verschwand in Richtung Polizeistation, die nur zwei Häuser weiter untergebracht war. Er hatte auch schon die Bäcker aus der Nachbarschaft vom Singhartinger auf der Rückseite des Rathauses postiert für den Fall, dass der Einbrecher durch ein rückwärtiges Fenster flüchten sollte.

Gleich nach Kriegsende war unsere Polizei nur mit Holzknüppeln bewaffnet, wurde aber dann 1946 schon wegen der hohen Verbrecherrate mit amerikanischen Karabinern ausgerüstet. Überfälle, Einbrüche und Raubmorde mit hohem Ausländeranteil waren damals an der Tagesordnung. Wir haben nicht lange warten müssen auf unseren bewaffneten Schandarmen und sind gleich über die Stiege hinauf zum Bürgermeisterzimmer mit der schalldichten Doppeltüre. Die äußere war unversperrt, aber die innere ließ sich nur eine Handbreit öffnen, sie war offenbar von dem Eindringling verrammelt worden. Der Polizeimeister forderte ihn, das Gewehr im Anschlag, lautstark auf, herauszukommen, aber es blieb still. Da rannte der Bürgermeister die Stiege hinunter und schrie von unten »Schiaß!« Der Schuss dröhnte durchs ganze Haus, der Polizist hatte nur schräg nach unten durch den Türspalt geschossen, aber es rührte sich nichts. Da schrie der Bürgermeister von unten: »Schiaß no amal, schiaß höher!« Nach dem zweiten Schuss kam aus dem Dunkel des Zimmers eine zaghafte schläfrige Stimme: »Ja, i kimm eh scho« und gleichzeitig ging das Licht an: Da stand der Ernstl ganz verdattert im Nachthemd und musste sich in seiner Schlaftrunkenheit erst zurechtfinden. Ich habe ihn in meiner Erregung angeplärrt: »Warum hast di net gmeldt? Mensch, du kunntst iatz tout sei’, schaug amal des Kaliber o!!« Die Einschusslöcher waren in Tür und Fußboden zu sehen, denn der Polizist hatte auch das zweite Mal nicht »höher« geschossen.

Erst jetzt wurden nach und nach die Zusammenhänge klar: Eine von Schlaflosigkeit geplagte Nachbarin hatte in den Büroräumen des Rathauses eine Gestalt huschen sehen; durch das Kathedralglas einer Zwischentür waren verschwommene Umrisse erkennbar gewesen. Sie verständigte den Bürgermeister, der gleich nebenan wohnte und das Verhängnis nahm seinen Lauf. Der Ernstl musste als jüngster Mitarbeiter der Gemeindebelegschaft bei den angelieferten Lebensmittelkarten in den Amtsräumen übernachten um einem Einbruchdiebstahl vorzubeugen und hatte dazu mit seinem Feldbett die Zimmertür verstellt. Er hat dann nach Mitternacht einmal hinaus müssen und ist dabei von der Nachbarin gesehen worden. Vielleicht hätte er nicht hinaus müssen, wenn er am Abend zuvor nicht in der Singstund beim Rainerwirt gewesen wäre! Und wenn der Bürgermeister von der »Einbruchswache« des Lehrlings gewusst hätte, wäre die für den Buben so lebensgefährliche Sache ausgeblieben.

Der Ernstl ist aber dann doch kein Verwaltungsbeamter geworden; er ist gemäß seiner großen Begabung ins Musikfach gewechselt und hat dann später selber den bisherigen Männergesangsverein als »Männerchor Harmonie« lange Jahre erfolgreich geleitet und dabei zu beachtlichen Erfolgen geführt.

KR



38/2002