Jahrgang 2021 Nummer 40

»Empört stehe ich vor den Bildern, die an mir vorüberziehen«

Viktorine von Butler-Haimhausen: Erinnerung an eine Wohltäterin und frühe Frauenrechtlerin

Viktorine von Butler-Haimhausen als junge Ehefrau, 1837 gemalt von Joseph Bernhardt. (Repros: Mittermaier)
Schloss Haimhausen bei Dachau war im 19. Jahrhundert der Familiensitz der Grafen Butler-Haimhausen.

Als sich Viktorine Butler-Haimhausen 1896 in Berlin zu Wort meldete, war sie mit Abstand die älteste Teilnehmerin des »Internationalen Kongress für Frauenwerke und Frauenbestrebungen.«

Ihres hohen Alters wegen hatte die 85-Jährige die weite Reise von Bayern an die Spree verständlicherweise gescheut – und ihre Botschaft ans Publikum aus allerWelt deshalb von ihrer bayerischen Mitstreiterin Anita Augspurg verlesen lassen: »Je mehr ich eindringe in die Geschichte der Menschheit und in meine eigenen Erinnerungen, je mehr ich den Blick richte auf die beiden Geschlechter und ihre Stellungen zueinander, desto tiefer empört stehe ich vor den Bildern, die an mir vorüberziehen. Ein wenig besser, ein wenig minder grausam soll die Lage der Frau ja heute sein. Ein wenig besser? Am Ende des 19. Jahrhunderts, das so stolz ist auf seine wunderbaren Fortschritte auf allen Gebieten«, schreibt Butler-Haimhausen sarkastisch und fährt fort, dass es ihr vorkäme, als stünde ein furchtbarer Rachegeist, ein seit Urzeiten wachsender Groll zwischen beiden Menschenhälften. »Unbewusst war dieser Hass, diese unedle Sucht des Stärkeren, die Schwächere zu unterdrücken und sie all ihrer natürlichen Rechte zu berauben, ja immer da – aber erst unserer Zeit ist es vorbehalten, dass diese Schwächere sich des Unrechtes bewusst wird, das man ihr antut, und dass sie anfängt, sich dagegen aufzulehnen.«

Die Zeilen der in München geborenen Gräfin klingen bitter. Doch sie hat in ihrem langen Leben immer wieder erfahren, wie viel Leid und Elend es in der Bevölkerung gibt und Frauen waren davon besonders betroffen. Zeit ihres Lebens hat Viktorine Butler-Haimhausen dafür gekämpft, die Situation jener zu verbessern, die im Gegensatz zu ihr nicht mit dem silbernen Löffel im Mund geboren worden waren. Allerdings musste sie dabei auch immer wieder feststellen, dass selbst eine Frau aus allerhöchsten Kreisen mit besten Verbindungen bis hinauf ins Königshaus an ihre Grenzen gerät, wenn sie die althergebrachte, von Männern dominierte Ordnung, durchbrechen wollte.

Die Historikern Rita Huber-Sperl hat das Leben der heute kaum noch bekannten Gräfin mit dem großen sozialen Gewissen in einer Monographie nachgezeichnet, die 1999 in der »Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte« erschienen ist. Eigentlich hätte sich Viktorine Butler-Haimhausen als Gattin eines einflussreichen Grafen bequem auf den Polstermöbeln im prächtigen, von Francois von Cuvilliés erbauten Rokokoschloss in Haimhausen bei Dachau zurücklehnen und das müßige Leben einer Dame aus bester Gesellschaft führen können. Doch schon als junge Ehefrau mit gerademal 18 Jahren tritt die Tochter des Münchner Kaufmanns Franz Xaver von Ruedorffer einem Wohltätigkeitsverein bei, der sich um arme Wöchnerinnen kümmert. Viktoria Xaveria, genannt Viktorine, hatte eigentlich vorgehabt, Nonne zu werden, doch der Vater, der 1808 in den Freiherrenstand erhoben worden war, hatte andere Pläne für sein Kind: Eine vorteilhafte Heirat soll den gesellschaftlichen Aufstieg der Familie befördern und das gelingt mit fliegenden Fahnen: Graf Theobald von Butler-Clonebough zu Haimhausen hält um die Hand Viktorines an und tritt 1829 mit ihr vor den Traualtar.

Die Familie Butler-Clonebough sind ein aus Irland stammendes, katholisches Adelsgeschlecht, das über Böhmen und Schlesien im 18. Jahrhundert nach Bayern gekommen war und dessen Mitglieder durch Positionen in Militär und Verwaltung Karriere bis nach ganz oben gemacht haben. Theobald, der bei der Hochzeit Schloss Haimhausen von seinem kinderlosen Onkel als Besitz bekommen hat, ist königlicher Hofkämmerer, wodurch auch seine junge Frau Zutritt bei Hof erhält. Von 1840 bis 1866 ist er überdies Mitglied des Bayerischen Landtags, was dazu führt, dass Viktorine gut über das politischeGeschehen im Land informiert ist und dabei vor allem Anteil an sozialen Themen nimmt. Obwohl sie durch die Geburten und Erziehung ihrer insgesamt zehn Kinder sowie die Führung des herrschaftlichen Schlossguts Haimhausen mit gut 60 Dienstboten gut beschäftigt ist, widmet sie sich intensiv caritativen Aufgaben, nachdem sie durch ihre Mitgliedschaft im 1829 gegründeten »Verein zur Unterstützung armer verehelichter Wöchnerinnen«, bereits an vorderster Front erlebt hat, mit welchen Schwierigkeiten Frauen aus der Unterschicht zu kämpfen haben.

In einer Zeit, in der es weder Krankenkassen, moderne Kliniken noch finanzielle Hilfen und Schutz für werdende Mütter gab, bedeutete eine Geburt für einkommensschwache Familien eine besonders große Belastung. Nicht nur, dass die Schwangere in dieser Zeit als Ernährerin ausfiel, da es keine Lohnfortzahlungen gab; es musste mit dem neuen Erdenbürger auch noch ein weiteres Mäulchen mit einem grundsätzlich eng gestrickten Budget gestopft werden. Von betuchten Privatpersonen gegründete Vereine waren das gesamte 19. Jahrhundert hindurch oft die einzigen Anlaufstellen für Familien mit geringem Einkommen, da die von den Kommunen organisierte staatliche Wohlfahrt noch in den Kinderschuhen steckte und darüber hinaus auch nur sehr begrenzte Mittel besaß, die kaum ausreichten um die ärgste Not einzelner, besonders Bedürftiger Gemeindemitglieder zu lindern.

Dass Armut ein strukturelles Problem war und keineswegs nur aus der individuellen Unfähigkeit der Betroffenen, für sich selbst zu sorgen, entstand, war ein Umstand, der von vielen Kreisen in Politik und Gesellschaft damals noch nicht akzeptiert war und dementsprechend gab es auch noch kein allgemeines Bewusstsein für soziale Ungleichheit. Für Wohltätigkeit waren seit je her Kirche und private Spender zuständig und das sollte auch so bleiben, so die Haltung konservativer Kreise, die sich damit ganz auf engagierte Persönlichkeiten wie Viktorine von Butler-Haimhausen verließen.

Die junge Gräfin hatte schnell festgestellt, dass Geburten beileibe nicht die einzige Situation im Leben von Tagelöhner- oder Arbeiterfamilien waren, bei denen sie Hilfe brauchten. Auch um die Erziehung und Bildung von Kindern aus schwierigen familiären Verhältnissen sah es mehr als schlecht aus: 1854 richtete Viktorine in einem Gebäude auf ihrem Besitz in Haimhausen eine »Armenkinderanstalt« ein, in der anfangs 20 Buben und Mädchen aufgenommen wurden, die verwaist waren oder deren Eltern aus anderen Gründen nicht finanziell für sie sorgen konnten. Üblicherweise wurden solche Kinder von der Armenpflege ihrer Gemeinde als Pflegekinder bei fremden Familien durchgefüttert, wo sie aber oft schon früh mitunter schwer arbeiten mussten und ohne Eltern und Verwandte alles andere als geborgene Lebensumstände erfuhren. In einer behüteten Atmosphäre aufzuwachsen und dabei auch eine entsprechende Bildung zu erhalten, die es ihnen später ermöglichen sollte, als Dienstmädchen oder im Handwerk ihr eigenes Auskommen zu finden, war für Viktorine der Schlüssel für ein besseres Leben.

Anfangs übernahm die Gräfin mit Hilfe ihrer Töchter selbst den Unterricht, erreichte aber schon wenig später, dass Schwestern vom heiligen Vinzenz von Paul die Betreuung der Zöglinge übernahmen. Die Nachfrage nach Plätzen war bald so groß, dass Viktorine das 1831 von den Salesianerinnen aufgegebene Kloster Indersdorf bei Dachau zur Pacht übernahm, eine Institution, die die gebürtige Münchnerin selbst gut kannte, denn sie hatte hier einst ihre eigene Schulbildung genossen. Zusammen mit engagierten Mitstreiterinnen gründete Butler- Haimhausen in den Räumlichkeiten des ehemaligen Konvents die »Marienanstalt«. Die Verwaltung wurde einem Geistlichen übertragen, der zusammen mit einem Lehrer auch zur Erziehung der Kinder beitragen sollte – ein weiteres Zeichen der weiblichen Benachteiligung, denn Frauen wurde eine derartige Position damals nicht zugetraut. Die Pflege der kleinen Bewohner übernahmen wieder Barmherzige Schwestern.

Zu den Räumlichkeiten gehörten zwölf Tagwerk Grund, die als Anbaufläche für die landwirtschaftliche Selbstversorgung der Einrichtung dienten.Die Kinder mussten bei der Bebauung des Landes mithelfen, wodurch sie Kenntnisse erwerben sollten, die es ihnen später ermöglichte, selbst für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Damit kam ein wichtiges Anliegen zum Tragen, das das gesamte Engagement Viktorines durchzog, nämlich der Gedanke »Hilfe zur Selbsthilfe« – eine Prämisse, die bis heute in der Sozialarbeit gilt: Unterstützung, wo es nötig ist, aber mit dem Ziel, Menschen mit den nötigen Fähigkeiten auszustatten, damit sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen können.

Doch auch nach dem Aufbau des neuen Kinderheims war für Viktorine noch nicht Schluss: 1860 gründete sie den Wohltätigkeitsverein »Association«, der unter anderem in München ein Asyl für alte und gebrechliche Frauen einrichtete, und dazu kam noch ein weiteres »Arme- Mädchenhaus« in Haimhausen. Wohlwissend, dass auch die dort vorhandenen Plätze nicht ausreichten, plante Viktorine währenddessen schon ein Großprojekt, das sie allerdings zum ersten Mal an den Rand ihrer Möglichkeiten bringen wird.

Die »Association« hatte für 75 000 Gulden das heruntergekommene Schlossgut Schönbrunn bei Dachau erworben,umdort unter einemDach eine Erziehungsanstalt für Mädchen sowie Heime für geistig behinderte und alte Frauen einzurichten. Von der Kaufsumme waren jedoch nur 10 000 Gulden gedeckt, die aus der Privatschatulle des abgedankten König Ludwig I. stammten. Viktorine versuchte zwar, die restliche Summe bei Privatpersonen und durch Spendenaktionen zu requirieren, doch das brachte nicht den erhofften Erfolg. Anfragen bei staatlichen Stellen um Unterstützung wurden kategorisch abgeblockt.

Irgendwie gelang es dann trotzdem, die Einrichtung zu eröffnen, doch damit waren die Schwierigkeiten nicht ausgestanden: Die Kirche hatte sich inzwischen eingemischt und eigene Schwestern zur Pflege eingesetzt, die jedoch, wie Viktorine mit Entsetzen feststellte, keinerlei Fachkenntnisse im Umgang mit Alten und Behinderten mitbrachten. Alle Bemühungen, sie durch ausgebildete Kräfte zu ersetzen, liefen ins Leere, worauf sich Viktorine nach jahrelangen Kämpfen schließlich enttäuscht aus dem Projekt zurückzog. Die Institution blieb jedoch bestehen und entwickelte sich nach anfangs etwas chaotischen Jahren zu einer etablierten Einrichtung, die noch heute besteht und Kindern wie auch Erwachsenen mit Behinderung ein geschütztes Heim, Ausbildung und Arbeit bietet.

Viktorine von Butler-Haimhausen verlor auch nach diesen missliebigen Erfahrungen ihr Engagement nicht. In den 1860er Jahren meldete sie sich öffentlich zu Wort mit einem Papier zur Reformierung der kommunalen Armenpflege, wobei sie unter anderem verlangte, durch staatliche Investitionen beispielsweise in den sozialen Wohnungsbau die Existenznot einkommensschwacher Familien zu verringern. Heute selbstverständlich, galten derartige Forderungen damals als revolutionär, und das erst recht, wenn sie von der Gattin eines konservativen Politikers geäußert wurden.

Doch Victorine ließ sich nicht beirren und fand auch für die an der Schwelle des 20. Jahrhundert immer noch mangelnde Gleichberechtigung von Mädchen und Frauen kritische Worte, wie ihr Schreiben zum Frauenkongress 1896 beweist.

Privat hatte Viktorine 1879 einen großen Einschnitt erlebt, als ihr Mann Theobald nach langer Krankheit starb. Gut Haimhausen hatte inzwischen einer ihrer Söhne übernommen, worauf Viktorine, damals 68-jährig, allein nach München in eine Wohnung übersiedelte, wo sie sich dem Schreiben widmete und weitere Einrichtungen gründete wie 1881 den »Kinderpflegehof« in Neuhausen, einem Asyl für Buben und Mädchen. Die streitbare Wohltäterin und Sozialreformerin starb am 2. Februar 1902 im hohen Alter von 90 Jahren und wurde in der gräflichen Gruft in Haimhausen beerdigt.

 

Susanne Mittermaier