Einst verschnörkelt – jetzt abstrakt
In der Muranoglas-Ausstellung im Bayerischen Nationalmuseum trifft Modernes auf Barockes




Ob der hauseigene große Wandspiegel aus geschnitztem, vergoldetem Lindenholz mit seinen verschnörkelten Glasfüllungen aus Italien stammt? Wenn, dann wohl aus Murano, der siebenteiligen Insel nahe Venedig, von wo aus sich die Kunst der Glasherstellung und Glasveredelung schon im Mittelalter verlagerte. 1725 soll der Spiegel jedenfalls entstanden sein. Vor knapp 300 Jahren. Ein Wunder, dass er so gut erhalten ist. Er repräsentiert das Barock in der kleinen Muranoglas- Ausstellung, die im Obergeschoß des Bayerischen Nationalmuseums gezeigt wird. Sie entstand in Kooperation mit der Neuen Sammlung – The Design Museum, München, von wo etwa 30 ausgewählte Muranoglas-Kunstwerke aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgeliehen wurden.
Der Kontrast ist krass. Verschnörkeltes von gestern trifft auf Abstraktes von nicht mehr ganz heute, jedenfalls auf Modernes. Das Schöne ist: Barockes und Modernes werden nicht gegenübergestellt, sondern integriert. So entsteht eine eigenwillige Spannung. Nichts wird gegeneinander ausgespielt, vielmehr bilden die alten Stücke mit ihren verspielten Formen und bildhaft erzählenden Darstellungen ein willkommenes Pendant zu den strengen Designs der ausgewählten Gefäße – in erster Linie Vasen, aber auch Becher, Schalen, Humpen, Teller und Flaschen.
Mit den angewandten modernen Techniken macht eine gut bebilderte Broschüre bekannt, die der Besucher gratis erhält. »Für zu Hause«, sagt der Aufseher lächelnd. Aber man kann unmittelbar vor Ort erfahren, was es mit so seltenen Techniken wie Merletto (Spitzenmuster) oder Tessere (Verschmelzung meist viereckiger Glasplättchen zu einem Mosaik-Dekor) auf sich hat. Ein Kurzfilm erinnert vielleicht an den Besuch einer Glaswerkstatt auf Murano. Er zeigt einen versierten Glaskünstler bei der Arbeit.
Von den zwölf Glasmachern des vorigen Jahrhunderts, deren Arbeiten zu sehen sind, lebt nur noch Lino Tagliapietra, gebürtig aus Murano, Jahrgang 1934. Er lernte bei dem berühmten Glaskünstler Archimede Seguso, der 1999 im Alter von 90 Jahren starb. Seguso Vetri d`Arte ist eine von den sieben Manufakturen aus Murano, die Werke ihrer Produktionen ausstellen – die älteste und noch heute bestehende ist die der vier Fratelli Barovier aus den Jahren 1878 bis 1895. Sie hat sich seit 2008/2009 auf die Produktion von Leuchten spezialisiert.
Übrigens: Der Besucher der Ausstellung kommt gleich beim Betreten, spätestens bei Verlassen des dicht bestückten Raums an einem echten Lino Tagliapietra vorbei: an der Vase, die »Rainbow« heißt. Das 25 Zentimeter hohe, zerbrechliche, runde Gefäß schuf der Meister 1984 für »Vetreria Effetre International«, Murano. Die Neue Sammlung – The Design Museum führt es unter der Inventarnummer 397/86. Das Stück ist in »A-Canne«-Technik hergestellt. Es besteht aus nebeneinander liegenden, verschmolzenen Glasstäben.
Dieses wunderschöne, farbige Stück könnte – wie der Wandspiegel von 1725 – durchaus als »Luxusprodukt« bezeichnet werden. Alle ausgestellten Murano-Gläser, so belehrt uns Annette Schommers in ihrem Broschüren-Text, sind »von Techniken geprägt, die vor dem heißen Glasofen angewendet wurden. Nach Entwürfen von Carlo Scarpa bis Ettore Sottsass entstanden neuartige, meist frei gearbeitete Formen mit abstrakten Dekoren in überraschenden Farbkombinationen.«
Die täglich außer Montag, von 10 bis 17 Uhr – Donnerstag bis 20 Uhr – geöffnete Ausstellung »Intermezzo Murano« wurde bis zum 24. April verlängert.
Hans Gärtner
11/2022