Jahrgang 2023 Nummer 48

»Eine ganz haarige Gestalt von wilder Art«

Barbara Ursler wurde mit medizinischer Anomalie im 17. Jahrhundert zur Jahrmarkt-Sensation

Barbara Urslers übermäßige Behaarung beschäftigte ihre Zeitgenossen. Ob das Gemälde dem realen Aussehen entspricht, ist allerdings unsicher, da Maler und Jahr der Entstehung nicht bekannt sind. (Repros: Mittermaier)
Der »Wilde Mann« wurde früher als tierisch-menschliche Gestalt für real gehalten. Abbildung zweier Wilder (Ausschnitt) auf einem 1499 von Albrecht Dürer gemalten Wappen.

Elie Brackenhoffer hatte nach seinem Bummel über einen Pariser Jahrmarkt 1646 viel zu berichten: Er habe eine fünfbeinige Kuh, einen Riesen-Delphin, einen italienischen Wasserspucker, einen Mann ohne Hände, eine Seiltänzerin und ein Dromedar gesehen, notiert der Straßburger in seinem Tagebuch.

Von einer der Attraktionen ist er jedoch besonders fasziniert: Barbara Ursler, eine junge Frau aus einem Ort namens Kempten, die am ganzen Körper behaart sei. Davon habe er sich mit eigenen Augen überzeugt, denn gegen Zahlung einer Extra-Gebühr habe das Mädchen seine Kleidung ausgezogen und sich von ihm untersuchen lassen. Sie sei tatsächlich eine Frau und kein Hermaphrodit, so Brackenhoffer, der nur einer aus einer riesigen Masse an neugierigen Zeitgenossen war, deren Blicken und Spekulationen über ihre Natur Barbara Ursler von klein auf ausgesetzt war.

Die ersten Schlagzeilen über sie erscheinen schon, kurz nachdem sie zur Welt gekommen war in Gestalt eines Flugblatts mit dem Titel: »Ein erschröckliche und doch wahrhafftige Newe Zeitung von einer erschröcklichen Mißgeburt, welche geschehen den 16. Februarii neuen Kalenders 1629«: Die Frau eines armen, aber redlichen Mannes in der Nähe von Kempten eine »ganz haarige Gestalt von wilder Art« geboren habe, »mit einem großen Kopf, Bart, aber trotzdem ein Mägdelein. … Es lebt auch noch zu dieser Zeit, dazu frisch und gesund« und … »ward zur Tauf getragen nach christlicher Verordnung.«

Der namentlich nicht genannte Verfasser des Flugblatts sah in der »Missgeburt« eine göttliche Botschaft: Das Kindlein, das Gott hier vorgestellt habe, sei Warnung, vom sündigen Leben abzulassen, nicht zu lügen, zu huren oder zu prassen und stattdessen dem christlichen Wort zu folgen, genauso wie es der Herr verlange. Die Sichtweise, wonach Erscheinungen, die nach damaligem Empfinden aus dem Rahmen fielen, ein göttlicher Fingerzeig waren, findet sich auch in der Bezeichnung »Monster«,wieder, den im Fall von Barbara Ursler der holländisch- portugiesische Arzt Zacutus Lusitanus 1632 für das kleine Mädchen gebraucht. Monster leitet sich ab vom lateinischen »monstrum« bzw. dem Verb »moneo«, was übersetzt bedeutet: ich mahne.

Dass Lusitanus, der die kleine Barbara 1632 auf einem Volksfest zu Gesicht bekam, sie »trotz ihres Bartes und den Haaren, die ihr fingerlang aus den Ohren wüchsen« als »wunderschön« bezeichnet, legt nahe, dass der Begriff noch nicht die moderne, von der Filmindustrie geprägte Konnotation hat, wonach Monster auch gleichzeitig hässlichwaren, sei es äußerlich oder innerlich.

Lusitanus ist nicht der einzige Arzt, der sich in seinen Schriften mit Barbara Ursler beschäftigt. Der Däne Thomas Bartholin, heute bekannt als einer der Entdecker des Lymphsystems, untersuchte das Mädchen sogar mehrfach, einmal als Sechsjährige in seiner Heimat und später in Brüssel und einer seiner Studenten, ein gewisser Georg Seger traf Barbara Ursler, als diese 22 und dann schon verheiratet war: »Sie hat blonde, sehr weiche, lockige Haare im gesamten Gesicht und am ganzen Körper und einen dicken Bart bis zum Gürtel.«

Worüber selbst erfahrene Wissenschaftler damals vergeblich rätselten, nämlich die Ursache für Urslers Erscheinung, herrscht heute, selbst ohne definitiven Beweis kaum Zweifel: Die Schwäbin litt an Hypertrichose, einer über das Maß hinausgehenden Behaarung, die bei ihr offenbar den ganzen Körper bedeckte und durch eine Genmutation während der Entwicklung des Embryos im Mutterleib entstanden ist. Eine vererbliche Variante der Erkrankung kann dagegen fast sicher ausgeschlossen werden, denn weder ihre Eltern, Anna und Balthasar Ursler noch ihr später einziges Kind, ein Sohn, wiesen eine entsprechende Anlage auf.

Was Mediziner wie Lusitanus oder Bartholin damals besonders faszinierte, war der Widerspruch zwischen dem Aussehen der Schwäbin und ihrem Verhalten. Es herrschte zwar die auch unter Wissenschaftlern noch akzeptierte These, dass es so etwas wie den »wilden Mann« gebe, Lebewesen, die in den Tiefen der Wälder hausten, eine Mischung von Mensch und Tier, die so etwas wie Überbleibsel aus vorchristlicher Zeit waren, als die Menschheit von ihrem Dasein als Jäger und Sammler zum sesshaften, kultivierten Ackerbauern überging, doch Barbara Ursler passte nicht in dieses Bild: Sie besaß der Beschreibung nach einen gewissen Bildungsstand, war ordentlich gekleidet und konnte sogar Zitherspielen. In der Natur hausende Wildmenschen, die übrigens nicht nur in damals nicht erforschten Ländern, sondern sogar in den heimischen Wäldern und Bergregionen vermutet wurden, stellte man sich damals als tatsächlich wild vor, mit ungezähmten Sitten und tierischem Gebaren.

Bestärkt wurde der Glaube an entsprechende Erscheinungen auch durch die Vorstellung, dass sie mit dem Teufel im Bunde seien und gleichzeitig stand der »wilde Mann« für die Bevölkerung der europäischen Bergwelt auch als Zeichen unkontrollierbarer Mächte der Natur, die eine ständige Bedrohung für die Menschen darstellten. Bekannte Figuren aus einschlägigen Sagen sind beispielsweise der im Riesengebirge sein Unwesen treibende Rübezahl oder die in Bayern und Österreich bekannten Schrate.

Wie ernst der Glaube an den »wilden Mann« tatsächlich war, belegen die Bemühungen des bayerischen Landesherrn,Wilhelm V., der in den 1570er Jahren verzweifelt versuchte, einen lebenden »Wilden« für seinen Hof zu ergattern. Der Herzog schrieb dazu eine Unmenge an Briefen an in- und ausländische Fürsten mit der Bitte, ihm Hinweis zu liefern, wo er eine entsprechende Kreatur auftreiben könnte. Seine Suche scheint zumindest zu einem teilweisen Erfolg geführt zu haben – teilweise deshalb, weil nicht mehr genau zu ermitteln ist, ob Wilhelm die von ihm als »Wilde « bezeichneten Personen auch tatsächlich selbst zu Gesicht bekommen hat oder nur ein Gemälde von ihnen besaß.

In einem Brief an seine in Wien verheiratete Schwester Maria schrieb der Herzog 1583 er werde »seine wilden Kerle der ganzen Länge nach abmalen« lassen und ihr das Bild dann schicken. Bei den erwähnten Kerlen handelte es sich um eine Familie, deren Vater ein auf Teneriffa geborener Spanier namens Pedro Gonzalez war, der in jungen Jahren als vermeintlicher Affe an den französischen Hof kam, bis man später feststellte, dass er tatsächlich ein Mensch war, der, wie Barbara Ursler, an Hypertrichose litt.

Gonzales heiratete später eine nicht an übermäßigem Haarwuchs leidende Frau und bekam mit ihr sieben Kinder, von denen einige ebenfalls übermäßig behaart waren. Gonzales wurde, nachdem man seine menschliche Herkunft entdeckt hatte, vom französischen König Heinrich II. wie ein Edelmann behandelt. Später übersiedelte Gonzales mit seiner Familie nach Italien an den Hof von Margarethe von Parma, einer illegitimen Tochter von Kaiser Karl V.

200 Jahre vor Gonzales war schon einmal eine junge Frau mit Hypertrichose an einem habsburgischen Hof gelandet: Kaiser Karl IV. befand sich 1354 mit seiner Frau Anna auf dem Weg nach Rom, um dort zum Kaiser gekrönt zu werden, als das imperiale Paar in der Toskana auf ein »Tiermädchen« traf. Die Siebenjährige war, wie ein Chronist vermerkt, »am ganzen Körper wie ein Schaf behaart, mit Haar, das wie schlecht gefärbte rote Wolle aussah, nur die Lippen und der Mund waren davon ausgespart.« Die 16-jährige Kaiserin war von dem Kind so fasziniert, dass sie es mit nach Prag an den Hof nahm und es dort aufzog.

Parallel zu den berichteten Fällen von Hypertrichose finden sich auch weitere Erklärungsversuche für dieses Phänomen. Der Schriftsteller Antonio de Torquemada (1507 bis 1569) etwa berichtet von zwei Kindern, die, wie Barbara Ursler, ebenfalls schon bei der Geburt entsprechende Behaarung aufwiesen: Die Mutter des einen Säuglings habe während der Schwangerschaft immer ein Bild von Johannes dem Täufer, der mit einem Fell bekleidet war, angesehen, was den Haarwuchs bei ihrem Kind ausgelöst habe, so Torquemada, und im zweiten Fall soll ein Schauspieler, der auf der Bühne einen Teufel darstelle, im entsprechenden Kostüm mit seiner Frau geschlafen und die daraufhin ein behaartes Kind geboren haben.

Welche Ursache Barbara Urslers Eltern selbst für die Anomalie ihrer Tochter verantwortlich machten, ist leider nicht bekannt, genauso wenig wie sie selbst damit zurecht kam, von klein auf zur Schau gestellt und das zum Teil sogar ohne jegliche Kleidung, wobei ihre Körperbehaarung kaum Schutz vor zudringlichen Blicken und wohl auch Händen bot, und dazu kam auch noch, dass ihrer Schamregion besondere Neugier gewidmet wurde, denn man wollte feststellen, ob sie tatsächlich eine Frau war, so dass die »Betrachtungen« nach heutigem Maßstab eindeutig als sexueller Missbrauch zu werten sind. Zur damaligen Zeit war es für Leidensgenossen wie Barbara Ursler völlig normal, als »Kreatur«, von der man ja noch nicht einmal sicher war, ob sie tatsächlich menschlich war, alle Arten von unsäglicher Behandlung über sich ergehen zu lassen. Zahlende Kunden Besucher sahen es im Gegenteil sogar als ihr Recht an, die betreffende Person eigenhändig zu untersuchen, um sicherzustellen, dass sie nicht einem Betrug aufsaßen.

Barbara Ursler war beileibe nicht die einzige unter den Jahrmarktsattraktionen, mit der man rüde umsprang. Die siamesischen Zwillinge Lazarus und Johannes Colloredo, geboren 1617, wurden beispielsweise vom Publikum mit Nadeln malträtiert, um festzustellen, ob es sich bei dem aus dem Oberkörper des Lazarus herausgewachsenen Kopf und Torso seines Bruders tatsächlich um einen lebenden Menschen oder womöglich eine Puppe handelte. Auf der anderen Seite darf manaber auch nicht vergessen, dass Barbara Ursler wie auch Colloredo- Zwillinge sich irgendwie ihren Lebensunterhalt verdienen mussten, wobei die Schwäbin, die bis auf ihren Haarwuchs körperlich immerhin keine weiteren Einschränkungen hatte, wahrscheinlich in der Lage gewesen wäre, sich in den üblichen Berufen ihrer Heimat, als Magd, Tagelöhnerin oder in einem Handwerk ihr Geld zu verdienen. Eine gesellschaftliche Außenseiterin wäre sie aber auch in ihrer gewohnten Umgebung gewesen. Als Jahrmarktsattraktion musste sie zumindest keine schwere körperliche Arbeit leisten, wurde wahrscheinlich besser bezahlt und hatte auch die Gelegenheit, die Welt kennenzulernen – eine Chance, die ihr als Dienstmagd nicht geboten gewesen wäre.

Was Babara Ursler abseits ihrer Auftritte erlebte, wie ihr Familienleben verlief, darüber ist nichts bekannt. Ein einziger Chronist in England vermerkte, dass ihr Ehemann, ein gewisser Michael van Beck, der ebenfalls aus Deutschland stamme, sie nur geheiratet habe, um mit ihr Geld zu verdienen. Ob es sich dabei um eine reine Vermutung handelt oder der Chronist Beweise für seine Äußerung dafür hatte, ist unklar. Die Heirat der beiden fand spätestens um1650 statt, denn von da an wird sie als Barbara Van Beck bezeichnet und ihr Mann taucht in den Quellen auf, hauptsächlich als Antragsteller für örtliche Genehmigungen zu Auftritten seiner Frau.

Die früheste Erwähnung einer Zurschaustellung – damals nochmit ihren Eltern – stammt übrigens aus dem Jahr 1637 in London, wo auch ihr letzter bezeugter Auftritt stattfand 1668 – Barbara ist damals 59 Jahre alt. Danach verliert sich die Spur der Allgäuerin, die mit ihrem ungewöhnlichen Aussehen so lange für Aufsehen sorgte, über deren tatsächliches Leben aber so wenig bekannt ist.

 

Susanne Mittermaier

 

48/2023