Jahrgang 2006 Nummer 46

Die Einwohnerwehren von Traunstein und der Umgebung

In den Jahren 1919/20 waren sie Garanten der freiheitlichen Ordnung – Teil I

Will man die Einwohnerwehren im Chiemgau beschreiben, so ist es notwendig, die damalige Situation im Deutschen Reich allgemein und auch die besondere Lage in Bayern zumindest in den Grundzügen darzustellen.

Wilhelmshaven am 29. Oktober 1918. Die Truppen waren kriegsmüde und die Bevölkerung war von der kaiserlichen Regierung enttäuscht und erwartete sehnlichst das baldige Kriegsende. Vorausgegangen war eine Änderung der deutschen Verfassung vom 28. Oktober 1918, durch die das Deutsche Reich von einer konstitutionellen zu einer parlamentarischen Monarchie geworden war. Der Oberbefehl über die Streitkräfte ging vom Kaiser auf die Reichsregierung über. Die deutsche Marineleitung plante aber eigenmächtig, die Flotte noch in den Ärmelkanal zu entsenden, um eine letzte Schlacht gegen die Royal Navy zu schlagen. Da meuterten die betroffenen deutschen Matrosen, denn sie wollten nicht in den letzten Kriegstagen noch völlig sinnlos geopfert werden.

Am 4. November 1918 wählten die Matrosen einen Soldatenrat, entwaffneten ihre Offiziere und bemächtigten sich der Schiffe. Außerdem brachten sie die militärischen und öffentlichen Einrichtungen unter ihre Kontrolle mit der Folge, dass Wilhelmshaven und Kiel fest in der Hand von etwa 40 000 revoltierenden Matrosen, Soldaten und Arbeitern waren.

Abordnungen der Matrosen kamen in alle größeren deutschen Städte und schon am 7. November weitete sich die Revolution auf die Küstenstädte und auf die Städte Hannover, Braunschweig, Frankfurt am Main und Berlin aus. Am 9. November 1918 dankte Kaiser Wilhelm II. ab und ging nach Holland ins Exil. Noch am gleichen Tag rief Philipp Scheidemann in Berlin die Republik aus. In München zwang schon zwei Tage vorher ein bereits eingesetzter Arbeiter- und Soldatenrat König Ludwig III. zum Thronverzicht und Kurt Eisner von der USPD rief in Bayern als dem ersten Land des Reiches die Republik aus, den »Freistaat Bayern«. Der König floh mit seiner Familie in das Jagdschloss Anif. Die Revolutionsregierung hatte ihm erlaubt, sich in Bayern aufzuhalten und zahlte ihm als »Unterstützung« 600 000 Mark. Unmittelbar nach Übernahme der politischen Macht in Bayern durch Kurt Eisner wurde eine Menge neuer Gesetze erlassen. Zur Abwicklung der Geschäfte teilweise aufgelöster Behörden wurde durch Gesetz der »Arbeiter-, Bauern- und Soldatenrat« eingesetzt. Der Zweck war, die Bevölkerung mehr als bisher unmittelbar zur politischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit heranzuziehen und dadurch das Interesse am Staat und allgemeinem Wohl zu fördern.

Kurt Eisner regierte nicht lange. Am 21. Februar 1919, an dem Tag, als er seinen Rücktritt bekannt geben wollte, wurde er von dem rechtsradikalen Graf von Valley ermordet. Bei seiner ersten Sitzung am 17. März 1919 wählte der am 21. Februar gebildete Landtag den Abgeordneten Johannes Hoffmann (SPD) zum Ministerpräsidenten und dieser bildete unverzüglich eine Regierung.

Zu dieser Zeit war die Lage in München nahezu katastrophal. Die Folge war die Ausrufung der »Räterepublik Baiern« am 7. April 1919 durch den Schwabinger Literaten Ernst Toller, den anarchistischen Schriftsteller Erich Mühsam und den ebenfalls anarchistischen Philosophen Gustav Landauer. Auch der Schriftsteller B. Traven (Das Totenschiff) gehörte dazu. Ernst Toller wurde mit dem Aufbau der »Roten Armee« beauftragt. Die neue Führung beendete den Kontakt mit der Reichsregierung. Gustav Landauer erklärte: » ... Jeder arbeitet, wie er es für gut hält. Das Unterordnungsverhältnis wird aufgehoben, das juristische Denken hat hiermit aufgehört ...«. Angesichts dieser Entwicklung floh die rechtmäßige Regierung Hoffmann noch am gleichen Tag nach Bamberg ins Exil.

Diese Räterepublik, die Kommunisten nannten sie »Scheinräterepublik« oder »Räterepublik der Schwabinger Literaten«, hatte eine geringe Bedeutung und bestand nur kurz; sie wurde bereits am 13. April 1919 durch Konterrevolutionäre wieder gestürzt. Betriebs- und Soldatenräte hatten die »Kommunistische Räterepublik« ausgerufen. Die Führung übernahm ein aus 15 Personen bestehender Aktionsausschuss, der einen aus vier Personen bestehenden Vollzugsrat wählte. Zu diesem Vollzugsrat gehörten die aus Russland gekommenen Dr. Eugen Leviné und Max Levien. Zum Schutz der Räterepublik wurde Rudolf Egelhofer, ein ehemaliger Matrose, zum »Kriegskommissar« ernannt und beauftragt, die sogenannte »Rote Armee« weiter aufzubauen. Jeder organisierte Arbeiter erhielt ein Gewehr und 20 Patronen und als Ausweis eine rote Armbinde. Die Revolution in Bayern sollte ein Teil der internationalen Revolution unter Moskauer Führung werden. Dr. Eugen Leviné telegrafierte nach Moskau und Budapest: » ... Der Vollzugsrat wird seine Kräfte in den Dienst einer großen historischen Aufgabe stellen, welche die tapferen russischen und ungarischen Brüder inauguriert haben ...«. Und Lenin in Moskau triumphierte: »Die Arbeiterklasse, die sich befreit hat, feiert ihren Tag nicht nur in Sowjetrussland frei und offen, sondern auch in Sowjetungarn und Sowjetbayern«.

Mit der Ausrufung der kommunistischen Räterepublik am 13. April 1919 dramatisierte sich die Situation in Bayern. Die Regierung in Bamberg ließ Flugblätter über München abwerfen und rief darin zum Kampf gegen die Räterepublik auf. Bereits am 13. April 1919 starben 17 Personen bei Kämpfen zwischen der regierungstreuen Republikanischen Schutzwehr und der »Roten Armee«. Dies war der Beginn eines rücksichtslosen und unmenschlichen Verhaltens auf beiden Seiten. Dr. Eugen Leviné soll bei einer Kundgebung im Münchner-Kindlkeller gesagt haben: » ... Im Weltkrieg haben sich Millionen von Proletariern totgeschossen, da kommt es nicht darauf an, ein paar tausend Bürgerlichen die Gurgel abzuschneiden ...«. Die andere Seite äußerte sich nicht weniger unmenschlich. Zum Beispiel Major Schulz vom Freikorps Lützow, der bei einer Offiziersbesprechung lapidar feststellte: »... Lieber ein paar Unschuldige mehr an die Wand, als nur einen einzigen Schuldigen entgehen lassen ... Meine Herrn, Sie wissen ja selbst, wie Sie es machen müssen. Sie nehmen den Betreffenden beiseite, erschießen ihn und geben Fluchtversuch oder tätlichen Angriff an. ...«.

Schon zu Zeiten der »Scheinräterepublik, aber besonders nachdem die kommunistische Räterepublik ausgerufen worden war, eskalierte die Gewalt in Bayern. In kurzer Zeit waren viele Städte und Gemeinden von den »Roten« besetzt. So zum Beispiel Augsburg, Hof, Rosenheim, Endorf, Kolbermoor, Aibling, Wasserburg usw. Über die Zustände in Rosenheim ist nachzulesen: »Nach Ausrufung der Räterepublik artete die Tätigkeit der maßgebenden Machthaber mit dem 22 jährigen Studenten Guido Kopp an der Spitze in kaum verschleiertes Plündern, Rauben und Erpressen aus. Unter dem Vorwand nach Waffen, dann nach zurückgehaltenen Waren und Lebensmitteln zu fahnden, wurde rücksichtslos requiriert und beschlagnahmt...«. Zwischen dem 7. und 15. April 1919 nahmen die Rosenheimer »Roten« mehr als 30 Geiseln aus der Bürgerschaft und verlangten für deren Freilassung 85 000 Mark. Für den Fall der Nichtzahlung sollten die Geiseln erschossen werden. Dazu kam es nicht, denn Rosenheimer Bürger und Banken konnten das Geld aufbringen und übergeben. Die Zuspitzung der Lage in Bayern zwang die Regierung zum Handeln. Ministerpräsident Hoffmann bat die Reichsregierung um militärischen Beistand; 30 000 Soldaten aus Bayern und dem übrigen Reich sollten die kommunistische Räterepublik aushebeln. Schon am 14. April 1919 rief das Gesamtministerium des Freistaates Bayern die Arbeiter, Bauern und Bürger auf, zu den Waffen zu eilen und eine freiwillige Volkswehr zu bilden. Der Aufruf führte im ganzen Land zur Bildung von Freiwilligenverbänden wie Freikorps und Volkswehren, den späteren Einwohnerwehren. Nun konnten diese sogenannten »Weißen Truppen« gegen die »Rote Armee« der Kommunisten losschlagen. Truppen der Reichswehr und der Freiwilligenverbände wie Freikorps und Volkswehren schlossen in den letzten Apriltagen zuerst München ein und am 1. Mai 1919 eroberten sie dann unter Einsatz von Artillerie, Flammenwerfern und Panzerwagen die Stadt. Über 1000 Arbeiter wurden zum Teil grausam getötet, dazu kamen zahlreiche zivile Opfer. Beim Kampf um München waren neben Truppen der Reichswehr 47 Freiwilligenverbände im Einsatz. Dabei waren zum Beispiel die Freikorps Chiemgau, Bad Aibling, Wasserburg, Oberland und Werdenfels.

In München und Umgebung wurde augenscheinlich in einem schrecklichen Ausmaß misshandelt und gemordet. G.W. Nusser behauptet: »... Dass die Niederwerfung der Räteherrschaft durch preußische Truppen sowie durch bayerische und württembergische Freikorps die Angemessenheit der Mittel völlig fehlen ließ, ist heute den Fachleuten bekannt«. Aber über dieses Thema wurde bereits so viel geschrieben, dass hier ein weiteres Eingehen nicht angebracht ist. Zum Abschluss nur noch ein Hinweis auf das Schicksal einiger führender Personen der Räterepublik:

Ernst Toller erhielt fünf Jahre Festungshaft; Erich Mühsam erhielt 15 Jahre Festungshaft, wurde 1924 amnestiert aber 1934 im Konzentrationslager Oranienburg ermordet; Gustav Landauer wurde am 2. Mai 1919 im Zuchthaus Stadelheim ermordet; Dr. Eugen Leviné wurde am 2. Juni 1919 durch ein Standgericht zum Tode verurteilt; Rudolf Egelhofer wurde am 3. Mai 1919 verhaftet und erschossen. Soviel zur Vorgeschichte. Und nun zu den Einwohnerwehren im Chiemgau und Grenzgau unter besonderer Berücksichtigung der Volkswehr und späteren Einwohnerwehr Traunstein.

Frühjahr 1919. Die Bevölkerung war irritiert und verunsichert. Es gab kein deutsches Kaiserreich und auch kein bayerisches Königreich mehr. Mit der parlamentarischen Republik des Freistaates und seinem Arbeiter-, Bauern- und Soldatenrat kam man noch nicht so recht klar und dazu kam nun noch die Bedrohung durch die »Roten«. Beunruhigend wirkte sich auch aus, dass im Februar 1919 das Grenzschutzbataillon II von Rosenheim nach Traunstein verlegt worden war und man nicht genau wusste, ob diese Einheit mit der legitimen Regierung oder mit den »Roten« sympathisierte.

Rechtsanwalt Dr. Jordan, der spätere Gauhauptmann der Einwohnerwehr Grenzgau, hatte bereits am 17. Februar 1919 in einem Presseartikel auf die Bedrohung durch radikale Spartakisten und durch ein Terrorsystem nach russischem Vorbild hingewiesen und zur Bildung von Volkswehren aufgefordert. In dieser schwierigen Zeit fanden vier junge Traunsteiner Bürgersöhne den Mut, auf eine Beruhigung und Befriedung der Heimatstadt und deren Umgebung hinzuarbeiten. Es waren dies die Leutnants der Reserve Max Binder, Sepp Binder und Oswald Schlager und der Matrose Sepp Schlager. In kurzer Zeit gelang es diesen Vorkämpfern der Freiheit, noch neun gleichgesinnte Freunde für ihr Vorhaben zu gewinnen und zwar die Bürgersöhne Hans Ficker, Sepp Ficker, Sepp Geisenfelder, Anton Miller, Hans Scharrer, Xaver Werkmeister, Max Winter, Karl Weilharter und Oskar Weilharter. Diese Gruppe »Dreizehn« bildete den Grundstock für die noch unbewaffnete und streng geheime Traunsteiner Volkswehr. Bald kamen noch die Traunsteiner Franz Haider, Ernst Haider, Karl Plösl, Oskar Pfaller, Konrad Neu, Fritz Wochinger, Konrad Sachs jr., Anton Probst, Robert Schlager, Franz Büttner und Georg Grainer hinzu.

Im April 1919 veränderte sich die Gesamtsituation dramatisch. Die »Roten« brachten immer mehr Städte und Gemeinden im südbayerischen Raum unter ihre Kontrolle und die Ausschreitungen nahmen ein erschreckendes Maß an. Die Gebrüder Binder und Schlager erfuhren über einen Informanten, der Zugang zu den Telefonaten des Grenzschutzbataillons II hatte, dass der Soldatenrat eine Liste fertigen musste mit den Namen von 30 angesehenen Bürgern der Stadt Traunstein, die zu einem gegebenen Zeitpunkt als Geiseln in Haft genommen werden sollten. Die Liste mit den Namen der dreißig Bürger, darunter auch die Namen ihrer Väter, erhielten die Wehrmänner wenig später. Jetzt war die Zeit zum Handeln gekommen, aber zuerst mussten Waffen beschafft werden. Am nächsten Tag, es war der 10. April 1919, schilderten Sepp Binder und Oswald Schlager dem Oberbürgermeister Dr. Vonficht die äußerst bedenklich gewordene Situation und erklärten dabei, sie und ihre Freunde, also die geheime Volkswehr, würden den Schutz der Bürger übernehmen, aber dazu wäre natürlich eine entsprechende Bewaffnung nötig. Bei diesem Gespräch war auch Herr Kattan, der Vorsitzende des Arbeiterrates, mit anwesend. Herr Kattan war dafür bekannt, dass er für die parlamentarische Ordnung einstand und keinesfalls zu den »Roten« tendierte. Als Ergebnis dieses Gesprächs erhielt die Volkswehr einen von den Herren Dr. Vonficht und Franz Kattan unterschriebenen Ausweis. Durch diesen Ausweis wurde Josef Schlager berechtigt, im Auftrag des Stadtmagistrats und des Arbeiterrates Waffen und Munition für die Traunsteiner Ordnungswehr (Volkswehr) zu beschaffen. Dafür standen 5000 Mark zur Verfügung.

Am nächsten Tag, es war der 11. April 1919, fuhren Sepp Schlager und Karl Weilharter nach Landshut, um über einen Jugendfreund Waffen für die Volkswehr Traunstein zu besorgen. Das war damals kein Problem mehr, denn die Landesregierung, die Reichswehr und die »Schwarze Reichswehr« waren daran interessiert, dass möglichst viele gut bewaffnete Volkswehren zum Schutz des Landes vor den »Roten« zur Verfügung standen. Wenn auch die Anfänge der Bewaffnung eher bescheiden waren, so standen später nahezu gigantische Waffenarsenale zur Verfügung. In die Waffenbeschaffung waren viele Personen verwickelt. Die Hauptverantwortlichen waren Ernst Röhm, der spätere SA-Führer und Dr. Joseph Kern von der Landesleitung der Einwohnerwehr Bayern. Aber auch Personen wie der Bauernführer Geheimrat Dr. Heim, der Abgeordnete Pfarrer Ludwig Kaas oder der Abgeordnete Dr. Dr. Franz Zahnbrecher, der dafür sorgte, dass im Frühjahr 1919 die Einwohnerwehr Chiemgau 37 000 Mark zum Aufbau der Organisation bekam. Auch die Volkswehr Traunstein erhielt aus dem illegalen Waffenlager in der Strafanstalt Straubing 200 Gewehre, zwei leichte Maschinengewehre, zwei schwere Maschinengewehre und 22 000 Schuss Munition. Sepp Schlager und Karl Weilharter brachten die in einem Sonderwaggon der Bahn als landwirtschaftliche Maschinen deklarierten Waffen in einer abenteuerlichen Fahrt nach Traunstein in vorbereitete Verstecke.

Alfred Staller


Teil 2 in den Chiemgau-Blättern Nr. 47/2006



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