Jahrgang 2002 Nummer 46

Der Kneißl Hiasl in der Klinik

Neue Akten zur Geschichte des berüchtigten Räubers

Vor hundert Jahren endete in Augsburg das Leben des berühmt-berüchtigten Räubers Matthias Kneißl, bei der Bevölkerung als der Schachermüller-Hiasl bekannt. Mit seiner Verurteilung zum Tod durch das Fallbeil zog das Augsburger Schwurgericht einen Schlussstrich unter ein wenig ruhmvolles Kapitel der bayerischen Kriminalgeschichte.
Kneißl hatte in einem monatelangen Katz- und Mausspiel die Polizei an der Nase herumgeführt, oftmals versteckt und in Schutz genommen von der zumeist ebenfalls gegen die Obrigkeit eingestellten Landbevölkerung. Nachdem er zwei Gendarmen tödlich verletzt hatte, wurde mit Hochdruck zunächst ergebnislos nach ihm gefahndet. Schließlich konnte er mit einem über hundertköpfigen Polizeiaufgebot festgenommen werden.
Angeregt durch Berichte über Kneißls Hinrichtung vor hundert Jahren erinnerte sich Frau Ingrid Burdette aus Neusäss daran, dass sie nach dem Tode ihres Vaters auf dem Dachboden von dessen Jagdhütte in Burgadelzhausen ein Aktenbündel über den Schachermüller-Hiasl gefunden hatte. Wie sich herausstellte, handelt es sich dabei um den Prozessakt, der im Jahre 1901 beim Landgericht Augsburg über das Ermittlungsverfahren gegen Kneißl angelegt worden war und bisher als verschollen gegolten hat.
Allerdings machen die aufgefundenen Schriftstücke nur einen Teil des ursprünglichen Aktes aus. So fehlen die ersten 230 Seiten vollständig, auch das Protokoll über den Prozess vor dem Augsburger Schwurgericht ist nicht überliefert. Der Fund enthält hauptsächlich Zeugenvernehmungen aus der Zeit nach Kneißls Festnahme, darunter auch einige Postkarten, die an den bei seiner Festnahme durch einen heftigen Schusswechsel verletzten Kneißl in die chirurgische Klinik links der Isar geschickt worden waren und die zumeist die Sympathie der Bevölkerung für den Räuber bekunden.
Höchst originell gestaltet ist eine Postkarte, auf der Hiasl mit Schmetterlingsflügeln und der Büchse in der Hand zu sehen ist. Im Vordergrund blickt ein Polizist mit Pickelhaube und einem Schmetterlingsnetz den Betrachter an. Darunter steht das folgende Verserl:

»An Kneißl Hiasl, den soll’n ma fanga,
Woaßt Freunderl, dees ist koa Verlanga,
‘s Fanga dees war gar net schwer,
Aber der Sakra geht ja net her.«

Es ist nicht bekannt, ob diese Karte dem Räuber Kneißl ausgehändigt worden ist oder ob sie der Briefzensur zum Opfer fiel. Kneißl fühlte sich jedenfalls im Krankenhaus pudelwohl, so gut wie hier war es ihm sein ganzes Leben lang nicht gegangen. In Karten und Briefen sprachen ihm Unbekannte ihre Bewunderung aus, schwärmerische Damen gestanden ihm ihre Zuneigung und schickten ihm Blumen, so dass sein Krankenzimmer zeitweise einem Blumenmeer glich.
Nachdem die Verletzungen auskuriert waren, fand der Prozess gegen Kneißl unter großer Publikumsbeteiligung statt. Zeitgenössischen Berichten zufolge verstand es der Hiasl geschickt, sich als bemitleidenswertes Opfer der bürgerlichen Gesellschaft hinzustellen, die am Elend der armen Volksschichten schuld sei. Die zwei Polizistenmorde nannte er eine unbeabsichtigte Panne, die er bedauere. Das Todesurteil soll nur aufgrund des Schuldspruchs der Schöffen zustande gekommen sein, während der vorsitzende Oberlandesgerichtsrat Zweifel an Kneißls Schuld hegte und gegen die Todesstrafe gestimmt haben soll.
Mutig, wie er gelebt hatte, bestieg der Kneißl Hiasl gefesselt und mit verbundenen Augen das Schafott. Als seine letzten Worte wird das Gebet überliefert »Jesus, dir leb ich – Jesus dir sterb ich.« Bei seinem Begräbnis kam es zu einem Zwischenfall, als Hiasls Mutter nach der Ansprache des Geistlichen die Worte ausrief »Dös soll no a Gerechtigkeit sein – umbracht ha’ms eahm, die Justizmörder!« Die von der Unschuld ihres Sohnes überzeugte Frau hatte bereits im Gerichtssaal die Richter nach der Verkündigung des Todesurteils als »Mörder« bezeichnet.

JB



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