Das ramponierte Christkind
Falten, Risse, Runzeln, Flecken – was macht das dem Gottessohn aus




Es soll noch Familien geben, die in der »heiligen Zeit« ein Weihnachtsbuch – »Betrachtungsraum ganz Altbayern mit den stammhaft verbundenen österreichischen Ländern « – zur Hand nehmen, das wir dem Dingolfinger Heimatforscher Fritz Markmiller (1939 bis 2001) verdanken: »Der Tag der ist so freudenreich« von 1981. Auf dem Cover: eine schlichte Kopie des Münchner Augustinerkindls: hübsch und fein, in weiße Spitze mit Perlenschmuck gehüllt, das Köpfchen auf weinroten Samt gebettet. Ein schönes Christkind. So kennen, so mögen's alle. So besangman's schon in alten Krippenliedern, etwa dem aus der Weyarner Sammlung 1780:
»O tausend schönes Kind,
so ich im Kripplein find,
…O liebes Jesulein, ganz nackend
und ganz blos
liegt in der Mutter Schoß.
Holdseligs Kindelein.«
Wie sieht aber jetzt das göttliche Kind auf den Fotos zu diesem Beitrag aus? Seine vielgepriesene Schönheit ist dahin. Vergangen. Verblasst. Angenagt vom Zahn der Zeit. Ramponiert sind all die Christkinder. Reif für die Kosmetikerin. Für den Restaurator. Für eine geschickte Hand, die hier anzulegen ist.
Das sagen die einen. Die anderen: Nicht so schlimm. Alt reicht schon, um wertvoll zu sein. Falten und Runzeln, Risse und Flecken – machen doch dem Christkind nichts aus! Es bleibt trotzdem verehrungswürdig. Ob angegraut und abgerissen – einen Liebreiz hat es nicht verloren. Ein zweites Weyarner Hirtenlied passt auch auf ein Christkind mit zerschlissenen Windeln:
»Auf, ihr Hirten, gschwind
und eillet,
was das Ding bedeit.
Großes Wunder ohne Zweifel,
weil der Stern uns so schön leicht.
Wie schön thut er sich ausbreiten,
daß man sehen kann von weiten,
in dem Himmel und auf Erdten
nichts als Schönes gefunden werd.«
Einige der schadhaften Christkindln, die hier angeschaut werden können, sind aus der eigenen Sammlung, welche, das geht aus dem Text hervor. Schlimm steht es um das nackte hölzerne Jesuskind aus Brasilien. Ihm fehlen beide Füße und der ganze rechte und der halbe linke Arm. Arm schaut es drein. Auf einem Markt in Bahia lag es so aus, dass es heil war. Eine Schnitzarbeit von beachtlicher Qualität. Ein Kleid darüber – und man sähe ihm seine Verstümmelung nicht an, meinte der Anbieter. Ein schönes Glas aus Frauenau gab ihm Halt. Es sollte seine Beschädigung zeigen. Der echte Jesus erlitt noch mehr Wunden, sogar den Tod.
Dem Jesuskind, das der Schnitzer des spätgotischen Reliefs einer Bethlehem-Krippen-Szene in der Dingolfinger Stadtpfarrkirche der Mutter Maria auf den Mantel gelegt hat, fehlt – nur wer genau hinsieht, wird es bemerken – die entscheidende Kleinigkeit, die das Baby als Jungen erkennen lässt. Wer konnte so etwas brauchen? Griechische Jünglinge aus Stein sind in ähnlicher Weise zu bedauern. Die Antiken- Forschung weiß, dass »Mann« sich gerne, zur Bezeugung eigener Zeugungskraft, eines gewissen Teils ihres Ideal-Körpers räuberisch bemächtigte.
Schade zwar, aber weniger aufregend: fehlende Füße oder Beine wächserner Jesuskinder in verglasten Schaukästchen, wie man sie im 18. und 19. Jahrhundert in Heimarbeit im Bayerischen Wald herstellte. Mit Buntpapier und Goldfolie dekoriert, mit künstlichen Gräsern und Blumen, Flittergold und schmückenden Zugaben wie Herzen aus Wachs und Sternen aus Papier, waren den liegenden Fatschenkindln ganze Gliedmaßen vergönnt. Mögen es Kinder gewesen sein, die aus Neugier so ein Kästchen öffneten, um mit dem Jesuskind zu spielen, das sie kräftiger anfassten, als erlaubt – jedenfalls wurde es zu sehr geliebt und nicht unbeschadet zurückgelegt.
Der kleine hölzerne Jesus, dem beide Hände und Unterarme fehlen, soll, so viel war bei seinem Erwerb auf einem andalusischen Markt dem Händler zu entlocken, Opfer eines Geschwister-Streits gewesen sein. Vielleicht waren die fehlenden Körperteile extra geschnitzt und dem Körper angeklebt, so dass sie sich bei Handgreiflichkeiten leicht lösten.
Manchen hölzernen Jesuskind-Figuren, die eine neue Fassung erhielten, weil dem Besitzer vielleicht die ursprüngliche nicht gefiel, setzt im Lauf der Zeit ein zu trockenes Zimmerklima derart zu, dass die überstrichene Farbe mit der Zeit abspringt. So ergeht es dem sogenannten »Uhrenkastl«-Knaben, der splitternackt hinter der schützenden Glasscheibe eines ehemaligen golden und rot gefassten Uhrengehäuses auf einem geschnitzten Rasen-Hügel steht und die Weltkugel mit Kreuz in einer Hand hält, während es an die Finger der anderen ein Skapulier angehängt bekam.
Es gibt Jesuskind-Darstellungen, die unbeschädigt sind, dennoch in die Kategorie »ramponiert« fallen. Einmal ist es freilich nur der das Haller Gnadenbild tragende Karton, der, aus welchen Gründen auch immer, unvorsichtig behandelt wurde, zum anderen ist es das Glas, das starke Brüche aufweist. Beides sind Bilder, das eine ein Kupferstich, das andere eine Hinterglasmalerei, mehr oder weniger bekannter österreichischer Wallfahrten: das »Kindlein Jesu« aus Hall in Tirol und das sitzende Jesuskind mit einem Vogel. Dieses Hinterglasbild, das mit den vier weißlichen kreisrunden Flecken links und rechts vom Jesuskind starke Schäden aufweist, wurde in den Neunzigerjahren in Prag erstanden. DieVerkäuferinwar sichtlich erfreut, hierfür einen Interessenten gefunden zu haben und machte ihm »gute Preis«. Vorlage für das Bild war ein bekannter barocker Kupferstich von Gutwein, beschriftet mit »Gnadenreiches Jesuskindlein, welches in dem Königl. Stifft S. Clarae Orden in Wienn auffbehalten und verehret wird«.
Ein »richtiges« Prager Jesulein, eine Chromolithographie des letzten Viertels des 19. Jahrhunderts, eine Erinnerung an eine Prag-Wallfahrt zum »echten« Prager Kindl bei den Karmeliterinnen auf der Kleinseite, litt vermutlich durch schlechte Lagerung. Während hier eine Restaurierung, wenn überhaupt als notwendig erachtet, wenig Probleme machen dürfte, bestünde für das auf Glas gepinselte, im tschechischen Krumau für ein paar Kronen erworbene »Maria mit Kind«-Bild wenig Aussicht auf Erfolg.
Einem festlich von Kopf bis Fuß in Weiß mit Goldapplikationen gekleideten, kleinen »Prinzen«, wie er in einer oberbayerischen Dorfkirche alljährlich zu Weihnachten aus dem Dunkel des Sakristei-Schranks erlöst wird und auf den Hochaltar kommt, wäre mit einer Messerspitze Gips für den kleinen »Pecker« am Kinn leicht zu seiner Vollkommenheit zu verhelfen.
Kleine Schäden, große Schäden an Jesuskind-Plastik und Jesuskind-Grafik – was soll's! Allein die Liebe zum Christkind als weihnachtlicher Zentral-Figur dürfte genügen, die trotz ihrer kleinen oder größeren Mängel schönen alten Stücke ohne kostspielige Restauration in Ehren zu halten. »Ich nehme dich, Kind, auch wenn du nicht perfekt bist«, sagte eine Jesuskind-Verehrerin einer leider nicht mehr existenten Antiquitätenhandlung im Münchner Glockenbachviertel, wo sie eine Gliederpuppe im Schaufenster sah, die sie, wie sie sagte, »so schön anziehen « werde, dass sie dem Augustinerkindl im Münchner Bürgersaal Konkurrenz machen würde. Ob der Dame das Stück alten Brokats neben der Holzpuppe zur Einkleidung als »Christkindl« taugte, war nie zu erfahren.
Hans Gärtner
50/2023