Jahrgang 2006 Nummer 49

»Christkind sein ist nicht nur Spaß«

Eine Reportage vom »Alltag« der Nürnberger Himmelsbotin

Es ist wahrlich ein himmlischer Job: Für Eva Sattler ist das Nürnberger Christkind aber keine Rolle wie im Film oder im Theater. »Ich habe diese Figur verinnerlicht«, sagt die 17-jährige Gymnasiastin. »Wenn ich mein goldenes Kleid anhabe, fühle ich mich nicht mehr als Eva Sattler, sondern als Christkind.« Und das ist wahrlich kein leichter Job. Bis zum Heiligen Abend hat die Symbolfigur des weltberühmten Nürnberger Christkindlesmarktes ein dicht gedrängtes, kontrastreiches Programm vor sich.

In diesem Jahr fallen der vierte Advent und der Heilige Abend zusammen. Deshalb stehen für Besuche in Kindergärten, Krankenhäusern, Altenheimen oder Behinderteneinrichtungen von der Eröffnung des Christkindlesmarktes bis Weihnachten lediglich 24 Tage zur Verfügung. »Im vergangenen Jahr hatte ich fast eine Woche mehr Zeit, um die rund 150 Termine zu absolvieren«, erinnert sich Eva an ihre erste Saison als Christkind.

Schule und Führerschein müssen in der Adventszeit notgedrungen hinten anstehen. In den dreieinhalb Wochen als Christkind kann das junge Mädchen morgens zwar etwas länger schlafen als ihre Klassenkameradinnen. Ihr Terminkalender aber sieht aus wie der eines Managers. »Meistens ist erst gegen 22 Uhr Feierabend. Dann falle ich todmüde ins Bett«, stöhnt sie, lacht aber dabei, weil es ein schöner Stress ist. Mit Tee und einem leichten Frühstück stärkt sich Eva für einen langen Tag. Dann schlüpft sie in ihr ausladendes Christkindgewand mit den goldenen Engelsflügeln.

Mit ihrem langen, blonden Haar sieht die 17-Jährige schon im Alltag aus wie ein Engel. Dennoch muss sie die eigenen Locken jeden Morgen unter der Perücke verstecken. Vor ihrem Elternhaus warten Michael Sauerbeck, Peter Kohler oder Harald Meyer, die sie abwechselnd im Kleinbus von Termin zu Termin chauffieren. Das Christkind setzt schnell noch seine Krone auf. Ein kurzer prüfender Blick in den Spiegel, und schon geht's los zum ersten Kindergarten.

»Ich sehe mich als Botin der Nächstenliebe, will Licht und Freude ins Dunkel bringen«, beschreibt Eva Sattler ihr himmlisches Amt auf Erden. Die Drei- bis Sechsjährigen empfangen das Christkind erwartungsvoll mit leuchtenden Augen. Einige Knirpse betrachten unsicher und ehrfürchtig die große pompöse Gestalt mit der Krone und den goldenen Flügeln. Andere konfrontieren sie mit kecken Feststellungen: »Du bist doch gar nicht das Christkind« oder »Du kannst doch gar nicht fliegen«.

War überhaupt bei den Kleinen eine Hemmschwelle da, baut sie sich schnell ab. Skepsis und Ehrfurcht weichen flugs Staunen und Begeisterung. »Das geht mir oft selbst unter die Haut«, erzählt die Weihnachtsbotin. »Da lasse ich mich gerne anstecken.« Die Begegnungen mit Kindern erfordern Gewitztheit und Spontanität. »Wenn die Kinder die Figur des Christkinds hinterfragen, muss ich oft ausweichend antworten.« Manchmal hilft einfach nur eine Gegenfrage. Manchmal lässt Eva Sattler die Antwort einfach offen. »Ich muss erklären, ohne die Illusionen und den Zauber zu zerstören, der bei Kindern mit Weihnachten verbunden ist.«

Den Mädchen und Buben liest das Christkind immer eine Geschichte vor. Eva wählt die Texte selbst aus und spricht mit den Kindern darüber. »Ich halte nichts von inhaltslosem Quatsch, ich will den Kleinen Geduld und Verständnis vermitteln und ihnen etwas Gutes mit auf den Weg geben.« Dann sammelt die Himmelsbotin die oft wunderschön bemalten Wunschzettel ein. »Manchmal muss ich die Kinder auch bremsen und ihnen aufzeigen, dass auch das Christkind nicht alle Wünsche erfüllen kann.«

Bis zu vier Kindergärten stehen vormittags auf dem Programm. Zwischendurch stärkt sich das Christkind, am liebsten mit einem Lebkuchen. Binnen weniger Minuten muss sich die 17-Jährige umstellen von der heilen Welt der gesunden Kinder zu Krankheit, Leid und Gebrechen auch bei ganz jungen Menschen. Die Schattenseiten des Alltags erlebt sie bei den kleinen Patienten der Kinderkrebsstation in der Nachbarstadt Erlangen, in Behinderteneinrichtungen und Pflegeheimen.

Christkind sein ist nicht nur Spaß. Als Himmelsbotin lernt Eva Sattler die ganze Bandbreite des Daseins kennen: Auf der einen Seite Kinder, die mit Leichtigkeit an das Leben herangehen, auf der anderen Seite begegnet sie von schweren Schicksalsschlägen getroffene Menschen. »Besonders berührt hat mich im vergangenen Jahr eine 26-jährige Wachkoma-Patientin«, erinnert sich die Gymnasiastin. »Die war nur zehn Jahre älter als ich. Da lernt man die Dinge mit anderen Augen sehen. Man erkennt, dass nicht alles so selbstverständlich ist, wie es viele von uns gewohnt sind.« Oft weiß sie nicht, ob sie von Betroffenen überhaupt wahrgenommen wird. Gegensätze, wie sie größer kaum sein könnten, erlebt das Christkind auch in Seniorenheimen, bei Menschen - oft erst 50 oder 55 Jahre alt - die schon erschreckend stark abgebaut haben. Das nimmt mit. Eine 95-Jährige hingegen beeindruckt das junge Mädchen sehr. »Die war noch so enorm rüstig, ihr Zimmer im Wohnstift war picobello aufgeräumt. Die Frau ist total fit, die hat ihren jüngeren Mitbewohnern Mut gemacht und sehr viel für ihre Mitmenschen getan.«

Vier Mal in der Woche macht das Christkind Station »auf seinem Markte«, den es alljährlich traditionell mit den Worten aus dem Prolog eröffnet: »Die Kinder der Welt und die armen Leut, die wissen am besten, was Schenken bedeut', Ihr Herrn und Frau'n, die Ihr einst Kinder wart, Seid es heut' wieder, freut Euch in ihrer Art.« Dann schüttelt das Christkind - umweht von Glühweinduft und Lebkuchenaromen – unzählige Hände, spricht mit Händlern und Besuchern, sammelt Wunschzettel ein und lädt die Kinder ein, mit ihm eine Runde auf dem großen Dampfkarussell zu fahren. Hier sieht Eva Sattler wieder in erwartungsvolle Augen. Hier gibt sie den Gäste aus Nah und Fern Gelegenheit für ein Erinnerungsfoto mit dem Christkind.

Hinter den Kulissen koordiniert Edith Kerndler vom Presseamt der Stadt Nürnberg die Christkindl-Termine. Immer wieder schaut sie dabei auf die Uhr. Aber bei allem Zeitdruck: Auch bei ihr ist Leidenschaft zu spüren. Eva Sattler ist schon das neunte Christkind, das sie in der Vorweihnachtszeit betreut und auch zu Fernsehauftritten begleitet, wie beispielsweise zum Adventsfest der Volksmusik mit Florian Silbereisen in Zwickau.

»Wir versuchen das Christkind so wenig wie möglich zu kommerzialisieren«, sagt die 55-Jährige. »Das Christkind ist die Symbolfigur für unseren Christkindlesmarkt.« Werbung für die Weihnachtsstadt Nürnberg spielt nur eine untergeordnete Rolle. »90 Prozent der Termine haben einen sozialen Hintergrund.« Aus ihrer fast 20-jährigen Erfahrung als Ansprechpartnerin für die Botschafterin der Stadt weiß sie genau: »Das ist harte Arbeit und absolut toll, was das Christkind in der Adventszeit leisten muss.«

Die letzten Termine des Christkinds gelten Männern und Frauen, die das Fest der Feste allein verbringen müssen oder in absoluter Bescheidenheit. Bei den Obdachlosen in der Wärmestube der Stadt hat Eva schon im vergangenen Jahr am Heiligen Abend Harmonie und Freude erlebt. »Ich war beeindruckt von der Offenheit und Dankbarkeit dieser Menschen«, erinnert sie sich. »Da merkt man, dass nicht alles selbstverständlich ist im Leben.«

Am Heiligen Abend endet die zweijährige Amtszeit dieses Christkindes. Dann wird Eva erschöpft, aber ganz sicher zufrieden Kleid, Perücke und Krone ablegen und mit ihrem Freund und ihrer Familie Weihnachten feiern wie Millionen andere auch: »ohne Hektik und Stress.« Für den Heiligen Abend wird Mutter Elisabeth wie jedes Jahr ein kaltes Buffett vorbereiten. Die traditionelle Weihnachtsgans gibt es bei Sattlers erst am zweiten Feiertag.

Von Januar an wird Eva Sattler wieder die Schulbank drücken und sich nebenbei auf ihre Führerscheinprüfung vorbereiten. Im Oktober dann gehört sie zu den Juroren, die ihre Nachfolgerin als Christkind auswählen. Die Bewerberinnen müssen - wie auch Eva - zwischen 16 und 19 Jahre alt sein und mindestens 1,60 Meter groß. Höhenangst dürfen sie auch nicht haben. Ein vom Himmel gesandtes Christkind, dem schwindelig wird, wenn es zur Eröffnung des Christkindlesmarktes in luftiger Höhe vom Balkon der Nürnberger Frauenkirche den bekannten Prolog spricht, wäre schon fatal.

Eva Sattler ist nicht traurig, dass am 24. Dezember ihr himmlischer Job in Nürnberg zu Ende ist. »Die Feststellung einer Vorgängerin “Einmal Christkind, immer Christkind” wird wohl auch für mich gelten«, ist sich die 17-Jährige sicher. Wenn am Abend des 2. Dezember 2007 das 20. gewählte Christkind den Weihnachtsmarkt-Prolog sprechen wird, dann sitzt Eva Sattler im Flugzeug nach Chicago. Denn dort wird sie als Botschafterin der Stadt Nürnberg den dortigen Weihnachtsmarkt eröffnen. »So endet die Zeit als Christkind wenigstens nicht so abrupt.«

Manfred Präcklein



49/2006