Jahrgang 2021 Nummer 50

Botschafterinnen der unverfälschten Volksmusik

Die Bojern-Sängerinnen gehörten zu den beliebtesten Gruppen im Alpenraum

Die Bojern-Dirndln am elterlichen Hof.
Die Bojern-Sängerinnen bei einem Auftritt im Dirndlgwand.
Die Tracht war ihr Lieblingsgwand.
Olga mit Nichte Monika und Karin Schroll in St. Valentin.
Festlicher Hochzeitszug, rechts dahinter Monsignore Roman Friesinger.

Es war ein würdigender Nachruf auf ein außergewöhnliches musikalisches Lebenswerk, den der Bayerische Rundfunk BR-Heimat im vergangenen April über den digitalen Äther sendete. Ein paar Tage danach hatten Familie und Freunde unter entsprechender Anteilnahme Olga Mader, die Austragsbäuerin vom Wegmacher-Hof in Pattenau, auf ihrem letzten Weg auf den Siegsdorfer Gottesacker begleiten müssen. Dieser Gang bedeutete nicht nur den Abschied für immer von der Mutter, Oma und Tante, sondern auch das Ende eines Gesangs-Duos, das weit über die Grenzen des Chiemgaus hinaus volksmusikalische Geschichte geschrieben hat: die allseits geschätzten Bojern-Sängerinnen. Volksmusikalische Geschichte – was sich auf dem ersten Blick zunächst einmal etwas pathetisch anhören mag, schöpft seine Erklärung allein schon aus den zusammengezählt fast sieben Jahrzehnten, in denen das Duo, auch in der späteren Tante-Nichte-Besetzung in beharrlicher Weise seinem unverfälschten Stil treu geblieben ist: nämlich altüberliefertes Liedgut in seiner traditionellen Form zu hegen und zu pflegen.

Aufgewachsen sind die beiden Bojern-Dirndln Monika (Jahrgang 1940) und ihre drei Jahre jüngere Schwester Olga Spiegelsberger auf dem elterlichen Hof »beim Bojern«, einem typischen Chiemgauer Bergbauern-Anwesen am nördlichen Ausgang des Miesenbacher Talkessels gelegen. Der grandiose Ausblick hoch über ihrem Heimatort Ruhpolding mit der markanten Pfarrkirche und den umliegenden Bergen entschädigt schnell die Anstrengungen des kurzen, aber steilen Anstiegs. Die Grundherrschaft des Domkapitels erwähnt den Hof erstmals im Jahr 1655. Schon von Jung auf verspürten die beiden Schwestern, wie sehr ihnen das Singen und Musizieren einen Ausgleich zur körperlich mühsamen Arbeit bot. Dieses Zupacken in Haus und Feld wurde damals ganz selbstverständlich auch von den Kindern gefordert.

Erster auswärtiger Auftritt in München

Das musikalische Talent blieb der örtlichen Zitherlehrerin Hanna Nitschke nicht verborgen, die ganze Generationen von Lernwilligen für die Musik zu begeistern wusste und auch die Bojern-Dirndln unter ihre gestrengen Fittiche nahm. Ihren ersten auswärtigen Auftritt im Münchner Kolpinghaus 1955 hatte Ruhpoldings Neupfarrer Roman Friesinger eingefädelt. Der Kolping-Landespräses wollte offenbar den Städtern seiner bisherigen Wirkungsstätte vorführen, in welch reiches provinziales Musikleben er hineinversetzt worden ist. Auf dem Schwarz-weiß-Foto, das fein säuberlich mit Datum versehen von diesem Abend geblieben ist, sind die Bojern-Dirndln bei ihrer Darbietung zu sehen, während gegenüber im Saal eine große Schar Ruhpoldinger Blasmusikanten gespannt zuhört.

Cousinen frischen Erinnerungen auf

Wenn es wie diesmal die Zeit erlaubt, sitzen die zwei Cousinen MonikaHuber und Evi Gastager gern mal über den Alben und blättern in den aufbewahrten Unterlagen, Programmen und Schriftstücken, die ihre Mütter von unzähligen Auftritten und deren Vorbereitung und Durchführung hinterlassen haben. Dann fällt ihnen nebenbei so manche Geschichte, oder die eine oder andere Anekdote ein, die sich aus der Erinnerung an die bemerkenswerte Popularität des Frauen-Zweigesangs ergeben. Etwa daran, wie der damalige Vorstand des Trachtenvereins »D'Rauschberger-Zell« Hans Pichler am Bojern-Hof vorbeikam und so angetan vom Wohlklang ihrer Stimmen war, dass er die Überzeugung äußerte: »Dirndln, da miass ma was draus macha!« Was schließlich zur Folge hatte, dass beide am Salzburger Mozarteum eine professionelle Gesangsausbildung absolvieren konnten. Monika Huber wusste dazu aus Erzählungen ihrer Mutter, dass meistens der Linienbus die einzigeMöglichkeitwar,umnach Salzburg zu kommen. Auch die Bezahlung des Unterrichts gestaltete sich aus heutiger Sicht auf höchst unkonventionelle Weise. Ihre Gegenleistung bestand weder aus Mark noch Schilling, sondern einfach darin, dass sie die Stadtwohnung ihrer Professorin auf Hochglanz zu bringen hatten.

Mittlerweile gehörten die Bojern-Dirndln zu den gefragtesten Mitwirkenden bei Veranstaltungen im süddeutschen Raum bis hinüber zum Bodensee, im Salzburgischen ebenso wie in Tirol. Heimatabende, Hoagarten, Sänger- und Musikantentreffen – es sei hier nur eine kleine Auswahl von Anlässen erwähnt, bei denen sie mit namhaften Granden der unverfälschten Volksmusik, seien es die Fischbachauer-Sängerinnen, die Inntaler Sänger oder Instrumental- Ensembles wie das Toni-Goth-Sextett zusammen auf der Bühne standen. Dabei trugen sie immer Tracht oder Dirndlgwand. Zwei Jahre hintereinander, 1962 und 1963 steigerte sich ihr Bekanntheitsgrad, als sie mit ihrer authentisch-gefälligen Singweise die fachmännische Jury zu überzeugen wussten und jeweils den ersten Preis beim hochkarätigen Preissingen in Bad Goisern gewannen; mit entsprechender Resonanz durch den Österreichischen Rundfunk. Zudem trugen sie 1970 in Novi Sad, noch inmitten des Kalten Kriegs, mit ihrem Engagement beim Volksmusiktreffen der Donauländer zur Völkerverständigung bei. Die hochkarätige Veranstaltung wurde vom serbischen Rundfunk Novi Sad ausgestrahlt und fand viel Beachtung. Von bayerischer Seite aus dabei waren die Rehm-Buam, das Maultrommelduo Mayr und die Stoaberg- Musikanten. Von den über hundert Gesangsaufnahmen, die allein der Bayerische Rundfunk im Lauf der Zeit archivierte, sind heute hin und wieder welche im Radio zu hören, wie beispielsweise das flehentliche Lied einer Soldatenbraut an den »Herrn Hauptmann«, er möge doch den Geliebten für das angehende Glück endlich freigeben.

Anders als so manch andere Gruppe machten die Bojern-Dirndln den Schritt hin zur kommerzialisierten volkstümlichenWelle nichtmit, trotz aller Verlockungen; sie ließen sich nicht verbiegen. Sie blieben mit Überzeugung bei ihrem Repertoire, das den bäuerlichen Jahresablauf widerspiegelte und zu dem auch die Deutsche Bauernmesse von Annette Thoma als fester Bestandteil gehörte. Landauf, landab wurde dieses eingängige Notenwerk, bestehend aus alten Liedern und Weisen aus dem bayerisch-österreichischen Alpenraum, speziell zu Hochzeiten und anderen kirchlichen Anlässen gewünscht, und auch die beiden Schwestern konnten sich seiner Faszination nicht entziehen. Heute würde man sagen, es war seit der Herausgabe vor über siebzig Jahren ein regelrechter »Hype« darum entstanden. Obwohl sehr oft gesungen, zelebrierten sie mit ihrem fein abgestimmten Zweiklang (Olga Erste, Monika Zweite Stimme) und mit viel Gefühl jedes Mal ein kleines, musikalisches Kunstwerk daraus, wobei spätestens beim Sterzinger Andachtsjodler selbst das verschlossenste Zuhörergemüt seinen Schlüssel fand. Ganz nebenbei erwähnt: Den wenigsten Leserinnen und Lesern wird bekannt sein, dass es den Bojern-Sängerinnen im Jahr 1972 zusammen mit der Rauschberger- Hackbrettmusi von Schorsch und Hans Sojer vorbehalten war, die »Kleine Messe«, ebenfalls aus der Feder der Riederinger Volksmusikpflegerin und in der Bearbeitung von Jochen Langer (damaliger Leiter des Wössner Kirchenchors), in der Filialkirche St. Valentin in Zell zur Uraufführung zu bringen.

Doppelhochzeit im Stil eines bäuerlichen Hochfestes

Im Oktober 1964 war es dann endlich soweit: Nachdem sie über die Jahre hinweg so viele Brautpaare musikalisch an den Traualtar begleitet hatten, wagten nun auch Monika und Olga gemeinsam diesen Schritt mit einer prächtigen Doppelhochzeit im Stil eines bäuerlichen Hochfestes, das mit großem Medieninteresse aufgenommen wurde. Sogar das Bayerische Fernsehen berichtete darüber. Ganz Ruhpolding war an diesem Tag auf den Beinen und Hunderte Schaulustige und Gratulanten säumten die Straßen entlang des Hochzeitszugs. Monika gab Hans Steinbrecher aus Anger das Ja-Wort und übernahm den elterlichen Hof, während ihre Schwester Olga Albert Mader vom Wegmacher-Hof in der Gemeinde Siegsdorf heiratete und ebenfalls Bäuerin wurde. Monsignore Roman Friesinger, selbst gebürtig in Anger, vollzog die Trauungszeremonie und führte die beiden Brautpaare anschließend unter den Klängen der Trachtenkapelle D'Miesenbacher« und mit illustrem Gefolge zum Kurhaus zur Hochzeitsfeier.

Vermächtnis schon zu Lebzeiten

Trotz ihrer neuen Rollen als Bäuerinnen, Ehefrauen und Mütter fanden die Botschafterinnen der unverfälschten Volksmusik, nunmehr als gereifte »Bojern-Sängerinnen« weiterhin Zeit für ihre Auftritte, solange, bis die fortschreitende Krankheit Monikas ein gemeinsames Singen in der Öffentlichkeit nicht mehr möglich machte. 1979 trat Tochter Monika in die musikalischen Fußstapfen der Mutter, die ihrer Schwester Olga bereits im September 2017 vorausgegangen war. Man könnte es als ein Vermächtnis schon zu Lebzeiten bezeichnen, dass die Tradition der »Bojern-Sängerinnen« in der neuen Besetzung aus Tante und Nichte weitergeführt werden konnte. Und das nicht nur in der heimeligen, jährlichen Gestaltung der Christmette in St. Valentin (eben mit der besagten Bauernmesse), sondern auch bei Maiandachten, Adventsingen, Hochzeiten, Beerdigungen und dergleichen. Lange Zeit wurden sie dabei von der Rauschberger Hackbrettmusi begleitet und als sich die Gebrüder Sojer altersbedingt zurückzogen, fanden sie immer ein offenes Ohr beim Ruhpoldinger Musiker Bernhard Kohlhauf und der Harfinistin Karin Schroll, die abwechselnd und auch mal ganz spontan diesen Part übernahmen.

Nicht selten kam es vor, dass beim Ausmachen für eine Goldene Hochzeit, sobald die Olga die Namen des Jubelpaares hörte, halb erfreut und zugleich erstaunt feststellte: »Dem Paarl hamma vor fuchzg Jahr schon de »Greane Hochzeit« gsunga. Da siagt ma, wia schnell de Zeit vageht!« Seit ihr glockenreiner Sopran vor einem halben Jahr für immer verstummt ist, ist auch für die »Bojern-Sängerinnen« die Zeit vergangen. Was bleibt, ist die Erinnerung an einen markanten Frauen-Zweigesang, der unbestritten volksmusikalische Geschichte geschrieben hat. Und die schöne Gewissheit, dass Töchter und Enkelinnen weiterhin das musikalische Erbe in verschiedener Form weitertragen.

 

Ludwig Schick

 

50/2021