Jahrgang 2022 Nummer 8

Bockschlitten mit Museumscharakter

In fünfter Generation hat für Josef Stocker das Handwerk des Schlittenbauens keine Zukunft mehr

In fünfter Generation Schlittenbauer: Josef Stocker.
Geschmiedete Beschläge auf einem handgefertigten Bockschlitten.
In Ettenberg gibt es steile Hänge für eine Rodelpartie. (Fotos: Kilian Pfeiffer)

Im Schnöllnlehen, weit droben im Marktschellenberger Ortsteil Ettenberg, ist Josef Stocker aufgewachsen, hier lebt und arbeitet er als Landwirt und Schreiner. Die Steilhänge rund herum mäht er mit der Sense, auch seine Berchtesgadener Bockschlitten fertigt er noch von Hand. Allerdings gibt es kaum mehr Bedarf für die einzigartigen Holzschlitten, »made« in Marktschellenberg. Droht das Handwerk in fünfter Generation auszusterben?

Josef Stocker sitzt in der heimischen Stube, hinter ihm der große Kachelofen. Das Schnöllnlehen ist ein alter Bauernhof, Anfang 18. Jahrhundert. Bis vor wenigen Jahren hat er die Milch, die die Kühe im Stall hinter dem Haus gaben, noch verkauft. Mittlerweile betreibt er nur noch eine Rinder-Aufzucht.

Josef Stocker ist Schreiner. Angestellte hat er keine. Arbeit ist da, »manchmal gibt es ein paar Aufträge«, sagt er. Wirftmaneinen Blick aus dem Fenster, ragen mächtige Steilhänge empor, weit droben zeigt sich der verschneite Wald. Ettenberg liegt auf rund 850 Metern. Bis auf einige Landwirtschaften und eine Kirche gibt es hier vor allem jede Menge Naturidyll. »Im Sommer kommen die Touristen zu Fuß und mit ihren Autos«, sagt Stocker. Im Winter ist auf dem Ettenberg nicht viel los.

Josef Stocker betreibt seine Landwirtschaft im Nebenerwerb. »Eigentlich ist es eine Vollzeitstelle«, sagt er. Die Holzbeschaffung aus dem eigenen Wald ist mühsam. Wegen der steilen Hänge nutzt er für das Mähen seiner Wiesen die Sense, die Maschine nur in der Ebene. »Wie bei meinen Vorfahren«, sagt der Marktschellenberger. Die Böden hier oben seien oft aufgeweicht, liegen im Schatten, das erschwert die Arbeit deutlich. Josef Stocker ist am Ettenberg aufgewachsen, nur für seine Schreinerlehre verließ er den Berg. »Ich war immer hier und habe gearbeitet.«

Vor der Haustür stehen zwei Holzschlitten, Berchtesgadener Bockschlitten nennt er diese. Josef Stocker hat sie selbst gebaut, so wie es auch schon der Vater, der Großvater, der Urgroßvater taten. Fünf Generationen haben das Handwerk betrieben. Der Schlitten gilt als ältestes Transportmittel der Welt. Während die Ägypter im dritten Jahrtausend vor Christus Schlitten benutzten, um schwere Lasten über den Sand zu ziehen, nutzt man heute das Gefährt vor allem zum winterlichen Zeitvertreib, zum Schlittenfahren. Josef Stocker sagt: »Ich verwende meinen großen Hornschlitten vor allem im Sommer.« Er lädt dann das Gras auf das extragroße Holzgestell, es ist das frische Grünfutter für die Rinder, und transportiert es von der steilen Wiese runter zum Hof. Der Vorteil: Die Grasnarbe werde dabei nicht zerstört.

Teilweise dient der Hornschlitten auch zum Abtransport von geschlagenem Lang- und Scheitholz. Es ist gar kein so ungefährliches Unterfangen, sagt Stocker. Hornschlitten galten vor allem in der Landwirtschaft von Bergbauern als Arbeitswerkzeuge. Die Hochzeit des Transportmittels liegt ein knappes Jahrhundert zurück. Heute werden Hornschlitten meistens nur noch für sportliche Wettbewerbe genutzt oder dienen als Dekorationsobjekte.

Mit Schlitten fuhren die Bewohner des Ettenbergs früher in winterlicher Landschaft runter ins Tal. »Das Problem war, dass man sie wieder nach Hause bringen musste«, sagt Stocker. Heutzutage führt eine vier Kilometer lange Straße von Ettenberg runter nach Marktschellenberg. Statt Schlitten fahren die Schulkinder mit dem Bus.

Schlittenfahren gehört heute eher zum bloßen Zeitvertreib. Plastikbobs, Holzschlitten von der Stange: Da kann das Handwerk nicht mithalten. Rund 30 Stunden Arbeit stecken in einem handgefertigten Bockschlitten, sagt der Landwirt. Früher hat Stocker Berchtesgadener Bockschlitten auf Vorrat gefertigt, in unterschiedlichen Größen. Damals war die Nachfrage noch größer. Er ging dann rauf auf den Berg und in den Wald, suchte nach passenden, »gewachsenen Bäumen. Das müssen schon spezielle Stücke sein, ausAhorn oder Buche«, sagt er. Stocker sei abhängig von den Stämmen, angewiesen auf eine passende Krümmung. Das Endprodukt wird nicht durch Verleimung geformt, sondern es ist Ergebnis natürlichen Wuchses. Aus dem Holz fertigt er die Holzkufen, die er wiederum vom Schmied mit Eisen beschlagen lässt. »Ich habe das Handwerk von meinen Vorfahren überliefert bekommen.« Der Schmied von einst, der all das Wissen um die traditionelle Fertigung beherrschte, den gibt es nicht mehr. Die Nachfrage nach den Holzschlitten ist geschwunden, »es ist kein Bedarf mehr da«, sagt Stocker. Der Aufwand, einen Schlitten als Einzelstück zu fertigen – »dazu fehlt mir die Zeit. Es ist finanziell nicht sonderlich interessant«. Heutzutage bestellt man Schlitten im Internet oder kauft industriell gefertigte Stücke beim Sporthändler nebenan.

Vor einigen Jahren drehte bei Stocker ein privater TV-Sender. Natürlich ging es dabei um seine Holzschlitten, um die Zukunft des damit verbundenen Handwerks. Schon damals deutete Stocker an, dass es für das handgefertigte Transportmittel wohl kein Morgen geben werde. »Meine Tätigkeit ist eher museal. Das Wissen wird wohl ins Grab mitgenommen werden«, sagt der Handwerker heute. Josef Stocker ist Mitglied der Berchtesgadener Handwerkszunft. Darin vereint sind jene selten gewordenen Handwerke wie das Spanschachtelfertigen, die Filigranschnitzerei, aber auch die Berchtesgadener War', unter die der Berchtesgadener Christbaumschmuck fällt.

»Das sind alles sehr wertvolle Handwerke«, sagt Josef Stocker. Deshalb hat ein originaler Berchtesgadener Bockschlitten auch seinen Preis. Es müsse schon ein Liebhaber sein, der sich solch einen Schlitten heute noch leistet. Weil das so ist, will er sich künftig anderen Aufgaben widmen, der heimischen Landwirtschaft etwa und seiner hinter dem Haus liegenden Schreinerwerkstatt.

 

Kilian Pfeiffer

 

8/2022