Besuch beim Schöpfer der Riesen
In Seebruck lebt das grandiose Werk des Bildhauers Heinrich Kirchner auf





Niemand, der in den Chiemgau fährt, kann sie übersehen – die bronzenen Riesen des Heinrich Kirchner (1902 bis 1984). Sie stehen im Freien. In Seeon auf einer Wiese und an einem Straßenverteiler. In Seebruck vor dem »Hafenwirt« und am Rathaus. Der nördlichste Chiemsee-Ort hat sich um des großen, aus Erlangen gebürtigen Bildhauers besonders verdient gemacht. Allein schon mit der nach ihm benannten Galerie Am Anger 1. Hier erschließt sich dem Besucher Heinrich Kirchners immens poetisches Werk. Es spricht aus jeder Ecke des schönen luftigen Baus, aus jeder Vitrine, von jeder der frei stehenden großen und kleinen Kunstwerke. Alles Originale.
Im Raum schwebt wie von ungefähr Kirchners permanent präsente sanfte Stimme vom Band eines zentral laufenden Videos. Ob man will oder nicht: Man muss zuhören, was der bescheiden mit Strickjacke bekleidete, lächelnde, zart besaitete Mann einer Journalistin erzählt. Über sich. Über sein Werk. Seine Riesen. Aber auch seine kleinen Modelle. Von denen gibt es viele in diesem Museum zu bestaunen. Ob die »Sitzende« oder »Der Gärtner« oder …, ach, man muss dorthin fahren und sich all die Figuren vertiefen.
Nur wenige Quadratmeter groß ist das mit Tageslicht erfüllte Museum. Man kann sich darin frei bewegen, sich niedersetzen, um nachzudenken und – etwa die große ernste »Madonna mit Kiesel« – auf sich wirken zu lassen. In den Wintermonaten ist nur sonntags von 10 bis 15 Uhr geöffnet, im April bis Oktober zusätzlich Mittwoch bis Samstag von 10 bis 17 Uhr. Eintritt frei. Kein Wachtposten. Stille – nur Kirchner spricht quasi aus dem Jenseits. Fühle dich frei! Rege und errege dich ohne Bedenken. Öffne dich den Exponaten, den lebensgroßen ebenso wie den von Kirchner »Skizzen« genannten Modellen.
Am Eingang steht einer der Riesen Kirchners, sein »Jesaias« von 1972. Der massige Körper besteht aus säulenartigem Unterteil und größerem Aufsatz. Der Hals überlang, der Kopf ein Quer-Oval. Der Blick gen Himmel gerichtet. Ein dünner Arm, dessen Hand sich nach oben auftut. Was steht auf Jesaias Rücken, vom Künstler eingeschrieben? »Dachte an jene / die die Idee der / Liebe empfingen / und ihre Last als / Beglückung trugen / bis zur Erfüllung ihres Seins«. Eine Zeichnung Kirchners mit zweiarmigen Jesaias-ähnlichen Figuren wiederholt und ergänzt die Rücken-Aufschrift der mächtigen Propheten-Gestalt vor der Museumspforte.
»Ich könnte mir eine Welt, die ohne Liebe ist, und eine Welt, die ohne Hoffnung ist, nicht vorstellen«, bekannte Kirchner, der den Propheten Jesaias als Liebenden sah. Nach langen Überlegungen kam er zu dem Schluss: Sein Prophet müsse wie eine Säule aussehen. »Prometheus«, »Wächter im Garten Eden«, »Wanderer Mensch«, »Friedensbote« oder »Der neue Adam« – alle sind Jesaias' »Brüder«! Kirchners Abstraktion der Gestalten seiner Phantasie, die in seiner Bronze-Gießerei lebendig wurden – man muss, man kann sich bald in sie ganz gut hineindenken. Allmählich »versteht« man wohl, dass sein »Wächter im Garten Eden« zwei übergroße »Löffel« als Ohren haben muss. Und zwei Arme, von denen der rechte eine abwehrende, der linke eine abmildernde Haltung einnimmt.
Künstler-Geheimnisse? Sie werden in diesemMuseum, eins ums andere, gelüftet. Mit Hilfe der Texte, die auf Schrifttafeln zu lesen sind. Ein Farbfoto erinnert daran, dass man, als Besucher des Klosters Seeon, längst drei riesenhafte Gestalten kennt. Im »Bild des Hoffens« (1974) fasste sie Kirchner zusammen. Die Modelle im Museum – zwei weibliche, eine männliche Figur – sind nicht zu übersehen. »Zeichenhafte Form für eine allgemein menschliche Situation … Die weit ausgebreiteten Arme bezeichnen Willen und Kraft. In der ei-förmigen Gestalt der Körper nimmt Kirchner die uralte Bedeutung der Ei-Form als Symbol der Wiedergeburt, der Erneuerung und des Hoffens auf…«, so Lisa Puyplat, Erlangen. Was für eine Oster-Botschaft!
Hans Gärtner
10/2025