An die hellen Tage denken
Blätter und Blüten aus heimischen Fluren und einem »Pflanzen-Sammelheft«





HERBSTGEDICHT
LAUB
AM BAUM
KAUM
So gelesen, in Großbuchstaben geschrieben – weiße Kreide auf schwarzer Tafel – im Münchner Radspieler-Haus an Sankt Katharina. Von da an ging es mit Riesenschritten auf den Winter zu. Raureif kündete ihn schon vor Kathrein an.
Laub legt sich über den Raureif, wird es nicht von ordnungsliebendenRentnern gerecht,umHaufen zu bilden für den Igel oder die Kompostanlage in der Gartenecke. Laub vom Baum. Was grünte und hellgelb leuchtete den Sommer über, ist rot geworden, goldgelb und braun. Was makellos in der Sonne strahlte, bekam Flecken und Risse. Schrumpfte und schrumpelte. Wurde kraftlos. Brüchig. Verlor die Glätte. Laub vom Ahorn, Wilden Wein und Pfaffenhütchen. Vom weiß blühenden, süßlich duftenden Schneeball, von den drei hoch aufgeschossenen, sich bei zu starkem Wind oft bedrohlich biegenden Birken am Nordhang des hauseigenen Waldgrundstücks. Laub auch von Hasel und Linde. Wie von der einzigen Ulme des Dorfes und den etlichen, erst vor zwei Jahrzehnten gepflanzten, hochstämmigen, blattreichen Schattenspendern für das Fußballtrainingsfeld der Jugend. Robust sind diese Blätter, kraftvoll in ihrem Dunkelgrün, schroff und grob, mit Runzeln und Durchschuss entlang der markanten Adern, geschwärzt an den Rändern, manchmal bis hinauf zur Spitze.
Der Westwind treibt sie, die von den Zweigen Gelösten, Herabgefallenen, zu Boden Gesegelten in östliche Richtung. An der Hecke des Nachbarn lassen sie sich aufhalten, zeigen hier ihre neu gewonnene Schönheit, lassen sich einzeln aufnehmen und nach Lust und Laune zwischen die Seiten des dicken Autoatlas' oder eines voluminösen Kochratgebers legen, umdort für ein paar Tage ganz auszutrocknen, platt zu werden. Ohne die Schönheit zu verlieren, im Gegenteil: eine neue Schönheit zu erlangen. Und eine neue Daseins-Berechtigung: Als Lesezeichen für den 600 Seiten-Roman zu dienen oder auf hellen Karton mit einem winzigen Tropfen Kleber gesetzt zu werden, um der Freundin, Baum-Liebhaberin und Blumen-Närrin, die Weihnachtsund Neujahrsgrüße zu verschönern: »Mit guten Erinnerungen an den vergangenen, ja unwiederbringlich vergangenen Sommer 2021«.
Für einen gewissen August Schedl – wo und von wann bis wann er lebte, das bleibt wohl für immer unbekannt – ergänzten wenige fahle Baumblätter das selbst angelegte, sorgfältig, jedoch nicht einmal halb gefüllte, mit starkem, braun-weiß gesprenkeltem Karton-Deckel versehene, durchgehend linierte »Pflanzen-Sammelheft«. Es dürfte, vor Jahren in einem Altwarenlädchen im oberösterreichischen Gutau neben dem dort besuchten Blaudruck-Atelier erworben, mindestens 120 Jahre alt sein.
Dieser Jemand namens August Schedl begann seine Eintragungen und Einklebungen mit der »Gelben Anemone«. Linke Seite: zwei Exemplare, eins davon ist vollständig erhalten, mit Wurzel, Stängel, sternförmig sich ausbreitenden Blättern und gelber, fünfteiliger Blüte. Ein kleines Wunder, dass diese vertrocknete Anemone bis heute unversehrt blieb. Auf der Seite gegenüber: in deutscher Sonntagsschrift mit Tinte und mit fadendünn der Zeile penibel folgender Feder die Beschreibung, die erst beim Umblättern zu Ende gelesen werden kann. So verfuhr August Schedl mit Sauerklee, vierblättriger Einbeere, Waldmeister und dem »Scharfen Hahnenfuß«. Den wollte er partout nicht in zwei Teilen verewigen, sondern knickte den für sein Heft-Format überlangen Stängel kunstgerecht, so dass er vollständig erhalten blieb und die Seite harlekinesk dekoriert.
Was August Schedl versäumte: Den Bäumen ähnliche Beachtung zu schenken wie den Wiesenblumen. Feldahorn, Bergahorn und Spitzahorn führt er nur mit drei unspektakulären Blättern vor, ohne darüber, wie für die Blumen, ein einziges Wort der Erklärung zu verlieren. Nicht anders verfuhr er mit Blutbuche, Linde und Silberpappel, bis seine vielversprechend begonnene Pflanzen-»Fibel« – vielleicht war sein »Pflanzen-Sammelheft« für die Enkel bestimmt – ausklingt, mit »Karthäusernelke«, »Lungenkraut« und »Scharbockskraut« und mit zwei verkümmerten Exemplaren des »Acker-Stiefmütterchens«.
August Schedls viele, viel zu viele leer gebliebenen Seiten wären also zu füllen. So akkurat und kunstgerecht wie der unbekannte Trockenpflanzen-Sammler aus längst vergangener Zeit kann heutzutage kaum noch jemand die Schreibfeder führen. Schedls Art der Erklärung seiner spärlichen Funde aus der Flora seiner Heimat wäre – Pardon: bis auf seine Schreibfehler – zu übernehmen.
Heute ist das gar nicht schwer. Das Internet gibt genügend Auskunft. Fast zu ausführlich wird da alles – allein etwa über die Giftigkeit der »Vierblättrigen Einbeere« – erklärt und mit Fotos anschaulich gemacht. Eine Fundgrube für Schüler mit der Aufgabe, ein Referat über die vierblättrige Einbeere zu halten.Wem es nicht um botanisch exakte Fakten geht, mag es genügen, unterwegs aufgelesene Blätter des Herbstes 2021 August Schedls »Pflanzen-Sammlung« hinzuzufügen.
Wortloser Trost für diese und kommende Tage der grauen Töne, für die nicht rosig werdenden Wochen über die Jahresschwelle hinweg bis in einen neuen Frühling hinein. Die einst grünen, nun gefärbten, vergilbten, aber malerisch verwandelten Blätter aus Mischwald und Garten sind bunt, voller Leben. Aus ihnen sprechen die hellen Tage des vergangenen Sommers.
Hans Gärtner
45/2021