Jahrgang 2025 Nummer 4

Als es noch keine Hubschraubereinsätze im Gebirge gab

Eine Bergrettung nach einem Schiunfall im Steinernen Meer in den 1950er Jahren

Auf einer Schitour in den 1950er Jahren.
Das Steinerne Meer —ein Paradies für Tourengeher.
Blick vom Funtenseehaus auf das Ledererkar, wo im oberen Teil der Unfall geschah.

»Eine Frühlings-Schitour mit Sonne und Firnschnee«, schwärmte mein Setzer-Kollege K., das sei schon lange sein Traum. Ob ich ihn einmal mitnehmen würde? Ich plante ohnehin über die Osterfeiertage eine Tour zum Funtenseehaus in denBerchtesgadener Alpen und weil dem Kollegen K. der Ruf eines verwegenen Schirennläufers voraus eilte, sagte ich zu, unter der Bedingung, dass er ordentliche Steigfelle mitnehmen sollte.

Der Wetterbericht klang durchwachsen: Regen, Schnee, aber auch Sonnenschein sollte es geben. Am Traunsteiner Bahnhof standen wir im Nieselregen. Während der Fahrt wurde daraus ein Landregen. Am Pass Thurn schneite es nasse schwere Flocken, die der Wind vor sich hertrieb und an die trüben Seitenfenster des Zugabteils klatschte. Es war nicht gerade gemütlich in dem unbeheizten Holzklassewaggon aus der Vorkriegszeit. Und am Königssee goss es wieder in Strömen. Die Wolken hingen bis zur Wasserlinie. In dem einzigen Ausflugsboot, das an diesem tristen Karfreitag verkehrte, saßen außer uns nur ein paar fröstelnde, schlecht gelaunte Pauschaltouristen. Der Bootsführer kam gar nicht auf die Idee sein Instrument auszupacken, um mit ein paar Trompetenklängen der berühmten Felswand das Königsee-Echo zu entlocken.

In Sankt Bartholomä wollte Kollege K. wegen des Wetters zuerst gar nicht aussteigen. Mit der Behauptung, dass morgen garantiert ein sonniger Tag sein werde, konnte ich ihn umstimmen. Etwas missmutig stapfte er hinter mir am Seeufer entlang und über den schneefreien Karrenweg in Richtung Schrainbachalm. Erst oberhalb der Alm ging der Regen in Schnee über. Wir schnallten die Schi an und stiegen durch den lichten Bergwald auf. Der weitere Anstieg führte durch die Saugasse, einer steilen Schneerinne die durch düstere Felswände eingeengt wird. Hier gibt es in einer geräumigen Höhle den einzigen trockenenRastplatz auf dem Weg zum Funtenseehaus. »Beim foast'n Herrgott« nennen die Einheimischen etwas respektlos den Rastplatz. An der Felswand hängt nämlich ein Kruzifix bei dem einem unbekannten Künstler die Körperproportionen leider verunglückt sind.

Nach kurzer Rast spurten wir in engen Spitzkehren die Saugasse aufwärts. Ab und zu prasselte eine Ladung Lockerschnee aus einer der Felswände und rauschte als kleine Staublawine über uns hinweg. Es erzeugte jedes Mal das Gefühl, als ob man in den Auswurfkanal einer Schneefräse geraten wäre. Kollege K. war tief beeindruckt.

Ein unfreiwilliges Biwak in der Schneehöhle

Im breiten Hochtal der Oberlahneralm fauchte uns der Wind die Schneekristalle waagrecht ins Gesicht. Nebel kam auf. Die Sicht wurde so schlecht, dass ich nur noch undeutlich meine Schispitzen sehen konnte. Nach einer halben Stunde stießen wir auf eine halb verwehte Schispur. Es war unsere eigene. Wir waren im Kreis gelaufen. Es war sinnlos ohne die geringste Möglichkeit der Orientierung weiter zu gehen. Ich stieg aus der Bindung und begann in den Hang eine Höhle zu graben. Kollege K. sah mir entgeistert dabei zu. Er war zutiefst davon überzeugt, seiner letzten Stunde ziemlich nahe zu sein. Trotzdem ließ er sich widerstandslos in den hintersten Winkel meiner Schneehöhle bugsieren. Die Nacht war kein Vergnügen.

Am nächsten Morgen lugte tatsächlich eine bleiche Morgensonne durch den wolkenverhangenen Himmel. Jetzt erst konnte man sehen, dass wir genau auf der Aufstiegsroute biwakiert hatten. Zwei Stunden später standen wir vor dem Funtenseehaus. Kollege K. verzog sich sofort ins Matratzenlager, um sich von den Strapazen des unfreiwilligen Biwaks zu erholen. Die Gaststube war fast leer. Die Übernachtungsgäste waren längst auf Tour. Nur am Stammtisch saßen zwei Grenzpolizisten, denen es in ihrer Diensthütte wohl zu langweilig geworden war und die sich hier einen gemütlichen Frühschoppen gönnten. Den Sinn dieser Grenzstation am Funtensee verstand sowieso niemand. Aber die Bürokraten in den warmen Amtsstuben der höheren Polizeidienststellen waren der Ansicht, dass die Grenze nach Österreich auch im winterlichen Hochgebirge unbedingt rund um die Uhr zu bewachen sei.

Es war schon später Vormittag als ein einzelner Tourengeher in die Gaststube kam. Er wirkte abgekämpft, übermüdet, aufgeregt. Seinem Gesichtsausdruck war anzusehen, dass er eine schlechte Nachricht zu überbringen hatte: »Mein Freund liegt schwer verletzt oben am Funtenseetauern. Ich brauche Hilfe«. Die beiden Grenzpolizisten standen sofort auf. »Gehst mit«, sagte der eine zu mir, »wir haben einen Ackja drüben in der Diensthütte«. Wir machten uns zu viert auf den Weg.

Der Ackja entpuppte sich als ein betagtes Modell aus den 1940er Jahren — ein Relikt aus der Zeit der Großdeutschen Wehrmacht. Er bestand aus zwei Halbschalen die zusammengeschraubt einen Rettungsschlitten ergaben der aussah wie ein kleines Ruderboot. Die Halbschalen waren aus solidem Hartholz gebaut und dementsprechend schwer. Mit Hilfe von zwei Gurten konnte man sich die Dinger wie einen Rucksack auf den Rücken schnallen. Zusammen mit einer Verbandsschiene aus Weißblech, vier Holmen aus robusten Stahlrohren und etlichen Wolldecken kam für uns vier eine beachtliche Last zusammen, die wir über das Ledererkar nach oben zu schleppen hatten.

Der Verletzte lag unterhalb des Grieskogels in einer Schneemulde mit einem Biwacksack notdürftig zugedeckt. Er war völlig unterkühlt und von Schüttelfrostschüben gequält. Trotzdem war er in der Lage, seinen Unfall präzise zu schildern. Er sei mit der Spitze seines rechten Schis an einem Stein hängengeblieben. Die Drehung des Schis habe einen höllischen Schmerz am Knie verursacht. Wahrscheinlich seien Bänder gerissen. Dann sei er seitwärts mit voller Wucht auf eine Felsrippe geprallt. Der Oberschenkel sei wohl gebrochen. Als wir ihn in den Ackja hoben, schrie er vor Schmerzen. Ein großer dunkler Blutfleck auf seiner Schihose deutete auf einen offenen Trümmerbruch hin.

Zum Glück ist das Gelände am Funtenseetauern nicht besonders steil. Die beiden Grenzpolizisten konnten mit dem Ackja in weiten Bögen langsam und vorsichtig abfahren, um dem Verletzten Erschütterungen und Stöße möglichst zu ersparen. Es wurde später Nachmittag bis wir endlich den Ackja mit vereinten Kräften den Gegenanstieg zum Funtenseehaus hinaufgezogen hatten.

Eine furchtbare Nacht für den Verunglückten

Für den Abtransport ins Tal war es zu spät. Im Funtenseehaus gab es zwar ein Telefon, aber wie jeden Winter war die Leitung durch Wind- oder Schneebruch unterbrochen. Zwei Berchtesgadener boten sich an, trotz der beginnenden Dämmerung nach Bartholomä abzufahren um von dort für den nächsten Tag einen Rettungstrupp zu organisieren. Der Hüttenwirt bemühte sich, in der Gaststube ein möglichst bequemes Krankenlager herzurichten. Er blieb die ganze Nacht wach und sorgte dafür, dass das Feuer im Kachelofen nicht ausging. Der Verletzte bekam im Laufe der Nacht hohes Fieber. Offensichtlich hatte sich die Wunde am Oberschenkel entzündet. Er begann zu phantasieren, war teilweise nicht mehr ansprechbar. Er hatte fürchterliche Schmerzen auszuhalten.

Am nächsten Tag herrschte schon wieder dichtes Schneetreiben. Ein halbes Dutzend Tourengeher erklärten sich bereit, beim Abtransport zu helfen. Der Hüttenwirt warnte uns eindringlich davor die steile Saugasse ohne Seilsicherung abzufahren. Er gab uns einen Eispickel und ein 30 Meter Kletterseil mit. Wir sicherten den schweren Ackja Seillänge um Seillänge nach unten. Der Verletzte war inzwischen ohnmächtig geworden. An der Schrainbachalm trafen wir auf den Rettungstrupp. Auch der Bergwachtarzt war dabei. Er gab dem Verletzten eine kreislaufstabilisierende Spritze und kümmerte sich um die Wunde am Oberschenkel. Mit ernster Miene wandte er sich an die beiden Grenzpolizisten: »Das war höchste Zeit. Es grenzt fast an ein Wunder, dass der arme Kerl diesen Abtransport überhaupt überlebt hat.« Die Berchtesgadener Bergwachtmänner hatten einen modernen Ackja aus Aluminium dabei an dem man unten ein luftbereiftes Rad montieren konnte, was den Transport über den schneefreien Karrenweg nach Sankt Bartholomä wesentlich erleichterte.

Später erfuhr ich, dass der Verletzte ein 20-jähriger Polizeianwärter aus Lindau am Bodensee war. Die Ärzte in der dortigen Klinik kämpften monatelang darum, sein Bein zu retten und die drohende Amputation abzuwenden. Heutzutage würde ein mit dem Handy alarmierter Helikopter den Verunglückten innerhalb von Stunden in die nächstgelegene Unfallklinik fliegen. Die Verletzungen könnten rechtzeitig behandelt werden. Lebensbedrohliche Komplikationen wie sie der junge Tourengeher aus Lindau aushalten musste, wären eher selten.

Während der Zugfahrt zurück nach Traunstein durch die verregnete Voralpenlandschaft eröffnete mir Kollege K., dass er den Entschluss gefasst hätte, nie mehr wieder in seinem Leben mit mir eine Schitour unternehmen zu wollen. Ich konnte es ihm nicht verdenken.

 

Otto Huber

 

4/2025