Als es noch die »Bahnamtliche Rollfuhr« gab
Güterhallen waren der Umschlagplatz für Waren aller Art – Spediteur Eberl aus Traunstein erinnert sich



Als vor wenigen Monaten über den Abbruch der Traunsteiner Güterhalle berichtet wurde, da wollte unser Autor eigentlich mehr über die Ursprünge des 1949 errichteten Gebäudes berichten. Es wurde nämlich über Jahrzehnte fast ausschließlich als Waren-Umschlagplatz für die »Bahnamtliche Rollfuhr« der Deutschen Bundesbahn genutzt. Die Nachforschungen wurden für unseren Autor zu einer spannenden Zeitreise in die Jahrzehnte, als der Gütertransport in Deutschland und in der Region noch zu einem erheblichen Teil per Deutsche Bundesbahn erfolgte. Die war damals noch ein leistungsfähiges Logistikunternehmen, welches diese Aufgabe zur Zufriedenheit der Kunden bewältigte. Dazu brauchte es jedoch deutschlandweit Hunderte, wenn nicht Tausende Kleinunternehmer, welche die Waren von den Bahnhöfen zu den Kunden brachten. Sie bekamen Verträge von der Deutschen Bundesbahn und durften sich mit der Bezeichnung »Bahnamtliche Rollfuhr« schmücken. Am Trostberger Bahnhof nahm diese Aufgabe die Firma Eder aus Unterneukirchen wahr, in Traunstein die Firma Kreiller. Die Firma Eberl, die sich vom Einmannbetrieb im Jahr 1967 zu einem Logistikunternehmen mit über 100 Lkw und rund 300 Mitarbeitern entwickelt hat, war zunächst nur für die Belieferung der Kunden in Bergen zuständig, dann auch für die in Traunreut. Und es wurden immer mehr.
Beginn mit einem Monatsumsatz von 36,40 Mark
Jürgen Eberl (82), Seniorchef der von ihm aufgebauten Spedition, erinnert sich gut an die Anfänge und an seine ersteMonatsabrechnung im Jahr 1967. »Ich hatte 36,40 Mark Umsatz«, erzählt er schmunzelnd. Da sei ihm schnell klar geworden, dass er neben dem Bahn-Stückgut noch etwas anderes zum Ausfahren braucht, um leben zu können. Das waren Fässer und Kanister mit Öl, die er vorwiegend an Sägewerke bis hinauf in die Landkreise Mühldorf und Altötting ausfuhr. Transportmittel war ein VW-Pritschenwagen, den er gebraucht für 1200 Mark gekauft hatte.
Jürgen Eberl lebte in Bergen, war frisch verheiratet und brauchte Arbeit. Sein Vater Max arbeitete bei der Bahn und betrieb dazu noch ein kleines Reisebüro in dem Dorf am Fuße des Hochfelln. Das Stückgut, das für Bergen bestimmt war und das mit der Bundesbahn angeliefert wurde, lieferte Eberls Nachbar, der Floriwirt Florian Huber, vom Bahnhof in Bernhaupten ins gut zwei Kilometer entfernte Dorf.
Zum 1. März 1967 stellte die Bahn die Belieferung vom Bahnhof Bergen aus ein und verlegte sie nach Traunstein. Der Floriwirt empfahl dem damals 27-jährigen Jürgen Eberl, sich doch um den Job zu bewerben. Der schloss einen Vertrag mit der Bundesbahn und begann sein Gewerbe mit dem bereits erwähnten Pritschenwagen. Die »Bahnamtliche Rollfuhr« lag damals in den Händen der Firma J. N. Kreiller. Im Stadtbereich stellte die Spedition Fuchs das sogenannte Stückgut zu. So bezeichnete man Güter, welche die zulässige Größe für die Lieferung als Postpaket überschritten. Neben Jürgen Eberl gab es noch weitere Zusteller in Chieming, Traunreut, Teisendorf, Inzell und anderen Orten der Umgebung. In Seebruck zum Beispiel übernahm der Edeka-Kramer diese Aufgabe, in Inzell Franz Fries, in Teisendorf Josef Auer, der nebenbei noch mit Futtermitteln handelte, in Tittmoning Josef Wallner, der auch eine Kiesgrube betrieb.
Es war die Zeit, als bei der Post gefühlt mehrBeamte tätig waren als Briefträger und in der Post und Bahn staatliche Institutionen waren. In Traunstein entstand neben dem Bahnhof der »Postturm« voller Büros, in dem ein riesiger Verwaltungsapparat tätig war. Und in Trostberg zum Beispiel residierte der Postmeister Meyer und am Schalter des Postamts gegenüber des Bahnhofs war der Müller Franz eine Institution. Die Zusteller waren damals allesamt mit dem Radl unterwegs. Nur der Packerlbote, der Gscheidmeyer Franz fuhr die Sendungen mit einem VW-Bus aus.
Die Rollfuhr von der Firma Kreiller übernommen
Irgendwannkammanbei der Bahn zu der Überzeugung, dass das Geschäft mit den kleinen Zustellern in jedem Dorf reformiert werden sollte. Die Firma Kreiller setzte damals andere unternehmerische Schwerpunkte und verlor das Interesse an dem Transportgeschäft. Firmenchef Max Binder bot Eberl an, den Rollfuhrbetrieb zu übernehmen. Der dachte nicht lange nach und konnte 1970 stolz den Vertrag vorweisen, dass er nun »Bahnamtlicher Rollfuhrunternehmer« sei.Das Bürowar in der 1949 errichteten Güterhalle, wo ihm auch 20 Quadratmeter Fläche für das Abstellen des Stückguts zugewiesen wurden. Der Pritschenwagen wurde zu klein und durch einen Klein-Lkw der Marke Mercedes ersetzt.
Als sich Eberl 1971 beim Zirkeltraining in der Turnhalle verletzte und deshalb nicht ausliefern konnte, stellte er seinen ersten Mitarbeiter ein. Dreimal am Tag kam damals das Stückgut am Traunsteiner Bahnhof an – täglich um die 50 Sendungen. Darunter waren auch ganz eilige, das sogenannte Expressgut. Das lieferte Franz Schmid im Stadtgebiet aus, den alle nur den Express-Schmid nannten. Schmid (1900 bis 1979) gehörte auch 20 Jahre dem Traunsteiner Stadtrat an.
Was aber waren das für Waren, die nicht in ein Paket passten und deshalb mit der Bahn transportiert wurden? »Alles«, antwortet Jürgen Eberl kurz und bündig. Besser Betuchte, die sich irgendwo einen großen Christbaum gekauft haben, ließen ihn sich von der Rollfuhr zustellen und auch die Weihnachtsgänse – tot oder lebendig – traten ihre letzte Reise mit dem Zug in die (damals noch nicht »Große«) Kreisstadt an. Apropos letzte Reise: Urnen mit der Asche Verstorbener durften nicht als Packerl verschickt werden, sondern nur per Bahn. Die Pakete vom Krematorium am Münchner Ostfriedhof brachte Eberl mit dem VW-Pritschenwagen zum Traunsteiner Waldfriedhof.
Auflösung im Jahr 1989 abgewendet
1989 drohte der Traunsteiner Güterhalle das erste Mal das Aus. Die Bahn wollte den Betrieb nach Rosenheim verlegen. Eberl warb in der Zeitung: »Die Bahn hört auf, wir machen weiter«, womit er natürlich den Zorn der Bahnverantwortlichen auf sich zog. Dann hieß es plötzlich, die Rollfuhr wird nach Freilassing verlegt, obwohl die Güterhalle dort kleiner war als die in Traunstein. Das wussten die Entscheider bei der Bundesbahn natürlich nicht. Denen hatte man gefälschte Pläne vorgelegt, was Eberl aufdeckte. Die Decke der Traunsteiner Güterhalle wurde nämlich von 48 Säulen getragen und in dem gefälschten Plan waren viel weniger eingezeichnet. Die Verlegung wurde abgeblasen.
Auch ein anderes Mal zeigte Jürgen Eberl Verantwortungsbewusstsein für seine Berufskollegen. Da beschloss die Bahn, dass Stückgut nur noch ausliefern darf, wer mindestens fünf Fahrzeuge hat. Das wäre das Aus gewesen für viele der kleinen Spediteure. Einige von ihnen waren schon an die 50 oder älter, hatten noch Kinder, für die sie sorgen mussten und hätten durch das »Dekret von oben« ihre Existenz verloren. Eberl fuhr nach München zum Verantwortlichen der Bundesbahndirektion und erklärte ihm das Problem. Der zeigte Verständnis, nahm die Entscheidung zurück – nicht ohne die Bemerkung, Eberl sei der Einzige gewesen zwischen Aschaffenburg und Berchtesgaden, der ihn auf dieses drohende soziale Dilemma hingewiesen habe.
Bahnfracht für Trostberg aus Mühldorf und Traunstein
Eberl und seine Mitarbeiter lieferten weiter die Bahnfracht aus. Sie brachten sie auch nach Trostberg, von wo aus es die Firma Eder an die Empfänger weiterleitete. Per Bahn kam Stückgut nämlich nie nach Trostberg, denn die Bahnlinie von Traunstein hierher war eine Nebenstrecke. Eder holte den Großteil der Sendungen vom Mühldorfer Bahnhof ab und lieferte sie von Trostberg aus an die Kunden.
Die Deutsche Bundesbahn, später die Deutsche Bahn AG, schränkte ihre Dienstleistungen im Warenverkehr immer mehr ein und langsam zeichnete sich auch das Ende der Rollfuhr ab. Jürgen Eberl hatte die Weichen rechtzeitig in eine andere Richtung gestellt und hat auf den Güternah- und -fernverkehr gesetzt. Pläne, die Traunsteiner Güterhalle zu kaufen, konnte er nicht verwirklichen. »Die Forderungen der Bahn waren utopisch. Sie wollte für den Schuppen eine Million Mark«, erzählt er heute. So blieb er zur Miete drin, obwohl er bereits 20 Mitarbeiter hatte. Erst im Jahr 2002 gab er den Standort auf und zog ins Gewerbegebiet nach Aiging in der Gemeinde Nußdorf, wo sich noch heute die schon mehrfach erweiterte Firmenzentrale befindet.
Die meisten Dokumente, auf die sich dieser Beitrag stützt, sind feinsäuberlich in einem alten Leitz-Ordner abgeheftet. Den wollte die Bahn wegwerfen, als sie die Güterhalle aufgab. Jürgen Eberl nahm ihn an sich und hütet ihn noch heute. Gleich am Anfang sind die Baupläne der Halle aus dem Jahr 1949 abgeheftet, später stößt man auf Briefe des Gutachterbüros Flores, welches das Gebäude für Eberl begutachtet und bewertet hat, als es zum Verkauf stand. Die taxierte den Wert um einige Hunderttausend Mark niedriger ein. »Bewohnbar hätte man die Güterhalle kaum machen können«, ist Eberl überzeugt. Im Winter ist der Boden durchgefroren, und wenn es im Frühjahr getaut hat, dann hat der Beton so geschwitzt, dass wir das Wasser mit Sägemehl binden mussten.« Der marode Zustand des Gebäudes blieb kaum jemandem verborgen. Deshalb regte sich Widerstand, als die Stadt es zu einem Jugendzentrum ausbauen wollte. Ein Bürgerentscheid zu diesen Plänen scheiterte in April 2016.
Nach dem Bürgerentscheid gab es noch Vorstöße, eine andere Nutzung der Güterhalle anzustreben. Dann begannen die Überlegungen für eine Neuplanung auf dem Bahnhofsgelände und der Schaffung des Campus Chiemgau. Letztlich sehen es viele Traunsteiner als eine glückliche Fügung an, dass die heruntergekommene und unansehnliche Halle endlich dem Erdboden gleichgemacht wurde, damit hier etwas Neues entstehen kann. Es wäre nämlich ein Fass ohne Boden geworden. Davon ist auch Jürgen Eberl überzeugt, der damals in einer öffentlichen Versammlung der Stadt seine Bedenken vorgebracht hatte. Schließlich kannte keiner die Güterhalle so gut wie er.
Klaus Oberkandler
12/2023