Als der ehrsame Rat der Stadt weinte
Johann Georg Stocker – eine Herausforderung für die Rechtsprecher Traunsteins





Familiendramen können bekanntermaßen sehr berührend sein, auch für jemanden, der davon selbst nicht betroffen ist. Von den Eindrücken völlig zerrütteter Biographien zeigte sich sogar der rechtsprechende Rat der Stadt ergriffen, wie man aus dessen Protokollen entnehmen kann.
Man bewegte sich damals in der Regierungszeit des Kurfürsten Carl Theodor, also dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. Das Bemühen der damaligen Bürgermeister um größtmögliche Toleranz ihren Bürgern gegenüber, wenn es um Rechtsentscheidungen ging, ist geradezu auffallend, wurde in dieser Zeit jedoch nicht selten auf eine harte Probe gestellt.
Ein Bürger war allerdings in der Stadt, der ihre Geduld aufs Äußerste strapazierte, das war der Wagnermeister Johann Georg Stocker. Dieser war ein solch hartgesottenes Individuum, dass seinesgleichen in hiesiger Stadt kein zweites zu finden war, wie schon das Ratsprotokoll von 1778 auszusagen weiß. »Ob schon Georg Stocker, bürgerlicher Wägner alhier seiner außerordentlichen Liederlichkeit halber unterm datis 1. Oktober 1777 et 5. Jenner 1778 gewarnet, und zum Theil mit milde abgestraft worden, selber auch seinen Lebenswandl zu ändern und auf ganz andere wege sich zu kehren die threuesten Versprechungen gemacht. So ist doch selber allzeit gleich widerum auf die alte Straße verfallen, so zwar, dass nachdeme Stocker mit beständigen Saufen und herumziehen in denen Wirtshäusern Schulden mit Schulden überhäuft, und zuletzt gar die besten Werkzeug an verschiedenen Orten versetzt, nicht minder auch ab einen von Herrn Baron von Kern in der arbeit gehabten Wagen das Eisen von den Rödern geschlagen, unter dem Vorwand, dass Er es für einen Bauern verhandlen misse, allhier verkauft. Er nicht nur die Flucht genommen, und sein Weib samt denen Kindern in den äußersten Notstand stecken lassen, sondern auch von der Zeit an, als er zurück gekommen, wiederumen öfters 2, 3 und 4 Täg in der Wochen nacheinand bloß dem Saufen in denen Wirtshäusern mit sämtlicher Beseitigung der Arbeit angehangen, Weib und Kind in größtem Elend schmachten lassen und einen unmenschlichen Lebenswandl geführt hat, wie Er dann auch, da man ihme anheut vor versammelten Rath vorrufen lassen, und deme der Stadtschreiber eine solch sittenreiche und eintringliche Lehr gemacht, dass denen Rathsgliedern hierüber die Zähren (= Tränen) aus denen Augen entfallen, (er aber) unbeweglich gleich einem verstockten Menschen dastunde.«(1)
Es muss eine reichlich kuriose und geradezu filmreife Szene abgegeben haben, – hier der weinende Rat, ergriffen von der herzzerreißenden Moralpredigt des Stadtschreibers, daneben der völlig teilnahmslose und verstockte Stocker, der reuelos wie er nun einmal war, anschließend für 3 Tage bei Wasser und Brot in die Kutten (=Arrestzelle) abgeführt wurde. Gleichzeitig wies man alle Wirte in und um Traunstein bei Strafe an, dem unleidlichen Alkoholiker weder Bier noch Schnaps auszuschenken. Wie wenig diese Verordnung aber letztendlich brachte, wurde im weiteren Verlauf offenbarer den je.
Um Stockers finanzielle Schieflage zu ergründen und bestenfalls zu ordnen, setzte der Rat zwei Kuratoren ein, was de facto für den Wagnermeister einer geschäftlichen Entmündigung gleichkam. Man kam überein, dass der notorische Anschreiber nur noch soviel Geld in die Hände bekommen soll, dass er sich täglich gerade einmal zwei Maß Bier kaufen kann und dies nur, wenn er bar bezahle. Außerdem sei seine Werkstattpräsenz täglich zu kontrollieren.
Während seiner Haft lud man seine Ehefrau vor, um von ihr Näheres zu seinem privaten Umgang, bzw. auch zu seinem Verhältnis zu Religion und Glauben zu erfahren. Auf eindringliches Befragen schilderte die Rosina Stocker, dass ihr Angetrauter seit der langen Zeit ihres Zusammenlebens alles zusammen genommen kaum sechs Mal die hl. Messe gehört hat. Nicht ein einziges Mal hätte sie gesehen, dass er das Kreuzzeichen oder ein anderes Zeichen eines wahren Christen gemacht hätte. Gebeichtet und das heilige Mahl empfangen hat er ebenfalls so gut wie nie. Erst durch eindringliches Zureden bzw. Zwingen, sei er einmal mit ihr nach Altötting gegangen, um bei einem Jesuitenpater die Absolution zu empfangen. Das Schelten und Fluchen und gottschänderische Sakramentieren sei bei ihm zur völligen Gewohnheit geworden.(2)
Bei einer anderen Gelegenheit, ebenfalls wieder in angetrunkenem Zustand, soll er von sich gegeben haben, er glaube nicht, dass es einen Gott gibt, denn wenn einer wäre, würde dieser ihn bestrafen. Er muss ein Sautreiber sein, sonst würde er längst schon auch den Magistrat abgestraft haben.(3)
Solche Bemerkungen kamen weder bei der weltlichen und erst recht nicht bei der kirchlichen Obrigkeit gut an. Ins Verhör genommen, redete er sich ziemlich plump heraus, dass er falsch verstanden wurde. Er hätte nicht Gott, sondern seine God (Taufpatin) gemeint, die ein altes Weib wäre. Ein mehrtägiges Absitzen in der Arrestzelle blieb trotzdem nicht aus.
Die eingangs angesprochene Unmenschlichkeit mit der Stocker seine Familie traktierte, ist dann im weiteren Verlauf aus einem anderem Protokoll zu entnehmen und sei hier sinngemäß zitiert.
Nach der Entlassung aus der Arrestzelle ging er nicht wie man annehmen möchte nach Hause, sondern steuerte sofort die umliegenden Wirtschaften an und soff sich einen anständigen Rausch an.Wahrscheinlich hatte er auch erfahren, dass seine bessere Ehehälfte während seiner Arrestierung gegen ihn aussagte. Daher stürmte er toll und voll anderntags in seine Wohnung, schlug seine Frau mit Faustschlägen nieder, zerrte die Hochschwangere unter dem Geschrei seiner Kinder wie von Sinnen an den Haaren am Stubenboden auf und ab, so dass sie »blutrünstig« (= mit blutenden Wunden verletzt) wurde. Weithin hörbar veranstaltete der rasende Sturztrinker unter Fluchen und Verwünschungen einen »erstaunlichen Tumult«, ehe er wieder hinter das nächstliegende Bierfass verschwand.
Mit verbundenem Kopf tauchte schließlich die Rosina Stocker beim Bürgermeister auf und schilderte ihre Leidprüfung. In ihrer Verzweiflung äußerte sie den Wunsch, dass ihr rabiates Ehegespons sogleich wieder hinter Gittern kommen soll, da sie um ihr Leben fürchten muss.
Der Bürgermeister sah auf den ersten Blick den Besorgnis erregenden Zustand der Schwangeren und ordnete eine sofortige Untersuchung beim Oberbader an.(4)
Dieser stellte auch noch blaue Flecken am Hals fest, die nach seiner Ansicht nur durch heftiges Würgen entstanden sein konnten.
Stocker wurde nun erneut vernommen und ihm eine rentmeisterliche Auslieferung angedroht, falls er sein schwangeres Weib nicht besser behandle. Von einer Gefängnisstrafe nahm man vorerst Abstand. Der Verwarnte sollte sich lieber in seine Werkstatt begeben und arbeiten. Das tat er aber nicht, sondern führte seinen exzessiven Lebenswandel fort, beleidigte im angetrunkenem Zustand einen Leutnant des Hegnenbergischen Securitäts-Regiments(5) und sorgte erneut auf äußerst betrübliche Art für einen Familieneklat. Denn als seine Frau ein Mädchen entband, in des Kindsvaters Augen einen unnützen Erdenwurm also, der von dem Wenigen das vorhanden war auch etwas wegessen wolle, soll er geschrien haben: »In die Anna-Maria sollen so viele Teufeln fahren, wie er auf dem Kopf Haare habe.«
Solche Sätze nahm die Öffentlichkeit besonders ernst, weshalb sie der Stadtschreiber im Protokoll extra unterstrich.(6)
Teufelsanrufungen gehörten auch in einer nach Aufklärung strebenden, kleinbürgerlichen Gesellschaft keineswegs zu den Bagatelldelikten. Das musste Jahre vorher bereits die Veronika Straussin, eine Schneiderin am Vorberg, erfahren, die im aufgestauten Hass auf ihre Tochter und deren Ehegatten den frischgebackenen Ratsherrn Wolf Mükel solch eine strafbare Formalie sogar vor dem gesessenen Rat wiederholte: »Sie wolle lieber des Teufels sein, ließ sie verlauten, als dass sie nachlasse den Cläger in das Verderben zu bringen, item ihre Tochter als dessen Eheweib hätte sie in Teufels Namen geboren. Dann Er Cläger seye von darumben auf dem löblichen Rath kommen,weillen Er ein Schölm und der größte Lügner im Rath sey«.
Diese verbale Entgleisung musste sie dann mit der Schandgeige um den Hals für einige Tage bei niederer Atzung, d. h. bei Wasser und Brot im Gefängnis abbüßen.
Der unbelehrbare Wagnermeister Stocker verstarb schließlich um die Mitte der Neunzigerjahre, inmitten einer allgemein gedämpften Stimmung im Lande, die dieses fühlbar umgewälzte Jahrhundert hervorrief. Jedoch diese Restriktion erreichte nicht alle Gemüter.
Im Wagnerhaus Stocker herrschte nach dem plötzlichen Hinscheiden des Haustyrannen allenthalben Aufbruchstimmung. Die Witwe Rosina ergriff unverzüglich die Initiative und beantragte von der Stadt eine vorübergehende Verlängerung der Meistergerechtigkeit und bat um leidliche städtische Aufträge. Als nächsten Schritt plante sie den Wagnergesellen Jakob Grafetstetter zu ehelichen. Daraus wurde aber nichts, denn mangels Vermögen konnte das Erbteil für die Kinder nicht aufgebracht werden.(7). Doch dann kam eine unvorhergesehene Wende in ihr entbehrungsreiches Leben. Eines Tages pochte der sich auf der Wanderschaft befindende, schwäbische Wagnergeselle Felix Greising an ihre Haustüre und bat um Arbeit. Der junge Handwerksmann wurde aufgenommen und es dauerte nicht lange, da kam man sich näher. Eine Meisterstelle auf der Walz zu finden war ein außergewöhnlicher Glücksfall, nun aber war sie für Greising in greifbare Nähe gerückt. Kurz entschlossen reichte er der Wagnerin seine rechte Hand und die Rosina Stocker griff freudig nach derselben und nicht weniger freudvoll nach der Hinterhand in der sich 300 Gulden bares Heiratsgut befanden, die der Bräutigam von seinem Vater, einem Torwärter des Reichsstift Zwiefalten erhielt. Damit war man vorerst aus dem Gröbsten heraus und nachdem den Oberschwaben auch noch eine bislang gute Aufführung und Fleißigkeit bescheinigt werden konnte, wird es für die geprüfte Stockerin doch noch so etwas wie ein »Happy End« gegeben haben.(8)
Die älteste Tochter Katharina wollte ebenfalls so schnell wie möglich in den Ehestand eintreten. Sie hatte sich in den Quartiermeister des 1. Kürassier-Regiments verliebt, der sein Roß beim Wagner im Stall stehen hatte. Der trunksüchtige Wagner, als er noch lebte, hatte den jungen Emporkömmling zwar schon einmal am Kragen seiner chicen Uniform gepackt und ihm einige Grobheiten aus seinem reichhaltigen Repertoire angedeihen lassen, aber nun hatte der attraktive Chevaulegers nichts mehr zu befürchten, wenn er sich bei den Stockers mit eindeutigen Absichten blicken ließ.
Natürlich wusste weder der junge Soldat noch die unerfahrene Katharina wohin die Reise geht, wenn die Einheit aus Traunstein abgezogen wird. Das Ganze hatte tatsächlich so etwas wie einen Hauch von Abenteuer an sich. Innerlich spürte sie aber dann doch die Gefahren eines Soldatenlebens, weshalb sie beim Magistrat anfragte, ob sie denn wieder nach Traunstein zurückkommen dürfe, falls ihrem Mann etwas zustoßen sollte. Die Stadtväter waren von dieser Anfrage wenig begeistert, hätten sie doch damit einen neuen Sozialfall am Hals gehabt. Sie eröffneten daher der naiven Wagnertochter, dass auch sie, mitgefangen- mitgehangen, künftig alle Konsequenzen einer Soldatenehe zu tragen habe.(9)
Albert Rosenegger
Quellen und Anmerkungen:
Jahrbuch des Historischen Vereins für den Chiemgau zu Traunstein, 2018. (Auszug ausdem Beitrag des Autors: »Als der ehrsame Rat der Stadt weinte«).
Dazu: Nachfolgende Ratsprotokolle aus dem Stadtarchiv Traunstein (StATS, RP)
1 StATS: RP. 1779, fol 93-95
2 ebenda
3 StATS; RP. 1789, fol 119
4 StATS: RP. 1778, fol 3-5 und 1779, fol 85, 1780, fol 26-30 und 1786, fol 56-57
5 StATS: RP. 1783, fol 16
6 StATS: RP. 1782,
7 StATS: RP. 1797, fol 12, fol 93
8 StATS: RP: 1798, fol 141
9 StATS. RP: 1797, fol 13
25/2024