Abschied von der Alm
Wenn der Almsommer zu Ende geht


Im September, wenn die Tage kürzer und die Nächte länger und kälter werden, ist auf den Almen Aufbruchstimmung. Die Almleute, die Sennerin und der Senn, rüsten zum Aufbruch von der Alm, auf der sie seit Juni den Sommer verbracht haben. Der Termin, wann das Vieh ins Tal getrieben wird, ist regional recht unterschiedlich. Wenn nicht ein Kälteeinbruch einen früheren Abtrieb erforderlich macht, beginnt er in den ersten Septembertagen. Um Michaeli (30. September) ist die Almzeit meist überall zu Ende.
Das Almleben, das jedes Jahr im Frühsommer, kurz nach Pfingsten, beginnt, war zu keiner Zeit so romantisch und verlockend, wie es in Liedern besungen und folkloristisch verklärt dargestellt wird. Es ist eine sehr schwere Arbeit, die die Sennerin und der Senn bei ihrem Aufenthalt auf einer Alm oder Alpe meist ganz allein zu leisten haben. Hinzu kommt noch die große Verantwortung, die sie für das Vieh während der Sommermonate übernehmen.
Aufkranzt wird!
Wenn der Almsommer glücklich verlaufen ist, wenn keinem Tier etwas zugestoßen ist und in der Familie des Bauern kein Unglück war, ist der Almabtrieb ein Anlass zur Freude und Dankbarkeit. Dann wird das Vieh nach altem Brauch »aufkranzt«, dann werden die Tiere an den Köpfen mit Kränzen aus Tannenzweigen und Almblumen prächtig geschmückt. In den bayerischen und Salzburger Bergen erhalten meist alle Kühe von der Sennerin einen Kopfschmuck. Anders ist es im Allgäu: Dort schmückt der Senn nur die Leitkuh.
Besonders aufwändig ist der Schmuck der Rinder im Berchtesgadener Land. Das Hauptstück des Kranzzeuges ist hier die sogenannte »Fuikl«. Das ist ein Fichtenwipfel, dessen Zweige zu einer zweioder dreistöckigen Krone hochgebunden und mit Bergblumen, Papierrosetten und -bändern, mit eingefärbten Holzspänen, sogenannten »Gschabertbandeln«, und mit mancherlei Flitterzeug verziert werden. Dabei entstehen kleine und große Kunstwerke, die später über der Stalltür befestigt werden.
Nicht fehlen dürfen beim Schmuck auch die Glocken, die an einem breiten, federkielbestickten Lederriemen am Hals der Tiere hängen. Gewöhnlich werden Glocken nur den schönsten und größten Kühen umgehängt. Das können die großen schweren Glocken oder die sogenannten »Singerinnen« sein, die die Form von kleinen Kirchenglocken haben und auch vom Metall her besonders wertvoll sind.
Die Glocken tragen nicht nur der Idylle auf den Almweiden bei, sondern sind für die Rinder im bergigen Gelände von großer Bedeutung, wenn sie sich verlaufen oder verletzt haben. So können sie von den Almleuten leichter aufgespürt werden. Beim Abtrieb von der Alm sollten die Glocken nach altem Volksglauben böse Dämonen abgewehrt werden, die die Tiere auf ihrem Weg ins Tal bedrohen. Eine ähnliche Funktion erfüllten auch linnene Kopflarven, die dem Vieh vor dem Abtrieb übergestülpt wurden.
Ein Almabtrieb muss lange geplant und vorbereitet sein. Deshalb beteiligt sich daran meist die ganze Familie des Bauern. Alle, die mithelfen können, kommen auf die Alm und unterstützen die Sennerin beim Schmücken des Viehs mit dem schon lange vorbereitetem Kranzzeug, was nicht immer ganz einfach ist, denn viele Tiere wehren sich gegen den ungewohnten Schmuck.
Wenn endlich alles für den Abtrieb vorbereitet und die Almhütte, die man im Berchtesgadener Land »Kaser« nennt, winterfest gemacht ist, wird das Vieh zum letzten Mal aus dem Stall getrieben. Nun geht's hinunter ins Tal. Voraus geht die Leitkuh mit einem ganz besonders schönen Kopfputz, gefolgt von den anderen Tieren. Ganz am Schluss kommt die Almerin, die aus Anlass des Festtages ihr schönstes Dirndl angelegt hat. Im Dorf unten angekommen, wird sie vom Bauern und vielen Zuschauern erwartet und führt das Vieh, das sie wieder heil zurückbringen konnte, nicht ohne Stolz in den heimatlichen Stall.
Einer der malerischsten Almabtriebe in Oberbayern ist der des Graflbauern von der Fischunkelalm am Obersee im Berchtesgadener Land. Hier wird das Vieh auf zwei miteinander verbundene Flachboote geladen und dann langsam über den ganzen Königssee gerudert.
Im Allgäu sagt man zum Almabtrieb »Viehscheid«, denn hier sind einem Senn – eine Sennerin ist hier eine Seltenheit – auf einer Genossenschaftsalpe gewöhnlich die Tiere von mehreren Bauern anvertraut. Kommt er mit ihnen im Tal unten an, werden die Tiere getrennt und den Besitzern wieder übergeben.
Auf den Oberstdorfer Alpen werden zum heimischen Vieh auch viele Tiere aus dem Unterland, also aus der Gegend um Kempten, Memmingen und Wangen, geweidet. Kommt der Senn unten an, wechselt so manches Stück Vieh noch am Scheidplatz seinen Besitzer, denn Tiere, die in der »Sommerfrische« auf der Alp waren, sind besonders gesund und daher wertvoll.
Almabtriebe – zur Fremdenattraktion degradiert
Almabtriebe sind überall, wo sie noch in der herkömmlichen Form abgehalten werden, ein Anlass zur Freude. Leider wird daraus an vielen Orten ein Spektakel für die vielen Schaulustigen mit vielen unerfreulichen Begleiterscheinungen. In vielen Orten werden sie zu willkommenen Events für die Touristen. Und nur allzu oft kommt es auch zu bedauerlichen Auswüchsen. So wird der Abtrieb sogar mehrmals »durchgeführt« und die Tiere nach ihrer Ankunft im Tal wieder mit dem Traktor auf die Alm zurückgebracht, um einen weiteren Abtrieb zu »inszenieren«. So ist es nicht verwunderlich, dass man vielerorts auf den ganzen Aufwand verzichtet und die Tiere recht nüchtern mit Hilfe des Traktors und großer Wagen ins Tal zurückbringt.
Die Realität des Almlebens
Der Grund zu dieser »Rationalisierungsmaßnahme« ist auch, weil es immer schwieriger wird, junge Menschen für die Alm zu gewinnen. Das Leben auf der Alm verliert eben immer mehr an Anziehungskraft. Auf so manche Alm wird nur noch so lange aufgetrieben, wie die alte Sennerin, die es schon seit Jahrzehnten macht, dazu imstande ist. Viele Almen, die in Generationenarbeit angelegt wurden, müssen über kurz oder lang aufgelassen werden, und die Almhütten werden an Touristen vermietet. In den letzten Jahren ist freilich, ganz gegen den allgemeinen Trend, ein neues Interesse festzustellen. Nicht nur für Aussteiger ist ein Sommer als Sennerin oder Senn auf einer Alm attraktiv.
Albert Bichler
37/2021