Jahrgang 2021 Nummer 37

A Mascherl im Haar

Vitale und emotionale Andenken an die Schulzeit kleiner Mädchen vor 100 Jahren

Die kleine Cilly, die barfuß auf dem Schreibtischstuhl ihres Vaters steht. Mirzl, die der Fotograf scheinbar zu ihrem Missfallen auf ein rundes Tischchen setzte. Das Dickerchen das lieber jetzt als später von seinem Korbstuhl-Stand erlöst werden möchte. (Bilder: Hans Gärtner)

Weiber halt! Nein, das darf man heute nicht mehr sagen. Aber schreiben darf man's doch wohl noch. Weil's ja wahr ist: Vor 100 Jahren hat man ja auch noch zur Gottesmutter Maria gebetet: »… gebenedeit unter den Weibern«. Und dabei nix Abfälliges gedacht, auch nicht gemeint. Die »Weiberl« – jetzt ist's schon besser, weil diminutiv gebraucht – sind halt eine eigene »Rass'« (herrje, die ist heute auch schon in Misskredit geraten, aber Sie wissen ja, wie's gemeint ist). Eine besondere Sorte. So, jetzt haben wir's. Das fängt schon beim Scheitel an und geht bis zur Sohle. Hier geht's aber allein um die Scheitel-Gegend. Das weibliche Haar. Von Rapunzel bis zur »Jedermann«-Buhlschaft der Schauspielerin Verena Altenberger des Jahres 2021 oft besungen. Von lang, meterlang und strohblond im Märchenschatz der Brüder Grimm bis kurz, bis fast kahl rasiert und schwarz auf der Bühne vor dem Salzburger Domplatz – das Haar der Frau hat's, den Männern jedenfalls, schon immer angetan. Und das wussten die Damen, schon als sie noch ganz kleine Mädchen waren.

Was sie sich nicht alles, oft schon als Kinder, die es der großen Schwester oder der Freundin der Frau Mama nachmachten, besorgten, um ihr Haar zu schmücken: ein Netz, eine Spange, einen Reif, Nadeln, Klemmen, Bänder, Perlenschnüre. Im Altbayerischen kam – ganz wichtig – das Mascherl dazu oder ersetzte Netz, Spange Reif & Co. Das Mascherl: »gebundene Schleife« also. So erklärt's Ludwig Zehetner in seinem Lexikon »Bairisches Deutsch«. Und ist so nett und liefert dazu eine Textstelle aus einem bairischen Literatur-Muss (auch -Must, wenn Sie's lieber Denglisch haben): den viel gelesenen und sogar verfilmten Lebenserinnerungen der niederbayerischen Bäuerin Anna Wimschneider, unter dem Titel »Herbstmilch« 1984 erschienen. Auf Seite 106 heißt es: »… Da haben sich die Frauen wieder gepflegt, ein Mascherl ins Haar gebunden, und das Leben war wieder wie vorher …«.

Ja, wenn ein Mascherl gleich dazu beitragen kann, das Leben zu verschönern – dann kommt ihm ja geradezu magische Bedeutung zu. Ein Mascherl ist schon was Feines. Auch die Herren tragen, vielleicht sogar eben deswegen, ein solches. Es wird »Fliege« genannt, und, natürlich, nicht im Haar, sondern am Hals getragen. Ein Mascherl fürs Haar kostet kaum was. Kann sich jede leisten. Ist schnell gebunden. Kann stofflich ebenso variiert werden wie größenmäßig – von auffällig über anzüglich bis schick.

Ein Fund ganz besonderer Art ist ein Schachterl voller vitaler und emotionaler Haar-Souvenirs einiger Schülerinnen, vermutlich aus dem südöstlichen Bayern. Eine gewisse »Martha« hat jedenfalls auf dem Mini-Kuvert ihres Briefleins an ihre liebe Schulfreundin Emy Angermann nach Passau geschrieben. Zur Erinnerung an die gemeinsame Schulzeit nähte sie ein paar Härchen in ein rosa Mascherl in ein Stück weißes Papier. Was die Haarpracht angeht, sollte Bärberl Hochgraßl von ihrer Schulfreundin N.N. ein dickes Büschel Haare samt dunkelrotem Mascherl geschickt kriegen. Eine dicke Strähne ihres Blondhaars wusste Brunhild kunstvoll zu einem »Unendlich-Zeichen« zu formen und dieses dekorative Gebilde mit rosa StoffMascherl »Zur Erinnerung an unsere Schulzeit« ihrer Freundin zu übersenden. Das Wörtchen »treu«, an Brunhild gerichtet ausgeschrieben, wurde von Schulfreundin Ida mit »tr.« abgekürzt – hoffentlich nicht als Zeichen von Zeitnot oder Faulheit – was beides auf Grund der lustigen HaarMascherl-Kombination, die an Ida ging, schlecht denkbar ist. Das dickste Mascherl um das auf ein Lockenköpfchen seiner Absenderin schließen lassende Haarteilchen wurde von Hermine Matthäus – an wen auch immer – auf einen doppelt gelegten Briefbogen genäht. So »fröhlich« wie die Schulzeit der Hermine und ihrer Mitschülerin war, so schwungvoll fiel das ihr zugedachte Erinnerungszeichen aus.

Aufgepasst und mal gegoogelt: Haarspenden sind heute – auch ohne Schulzeit-Reminiszenzen – en vogue. Haare sind »ein beliebtes Gut in der Beauty Branche«, liest man mit einigem Erstaunen in Werbespots. Perückenmacher und Friseure sind happig auf Haarspenden. Egal ob gelockt, wellig oder glatt. Für helles Haar kriegt man mehr als für dunkles. Ein »dunkles Kapitel« in der Kosmetik? Keineswegs. Mit Haarspenden kann man sogar Leben retten. Aber das ist eine Geschichte für sich.

Lieber noch etwas zu den drei Fotos, die den hier gezeigten Haar-»Spenden« Weiberl zu Weiberl beigegeben sind, sollen den Blick des Betrachters auf das Mascherl lenken. Und zugleich belegen: Das Schleiferl war schon vor der Schulzeit ein wichtiges Accessoire für die Mädels der Zeit um 1920. Auch wenn der kleinen Cilly, die barfuß auf dem Schreibtischstuhl ihres Vaters steht, das Haar kurz geschnitten wurde: ein Mascherl krönt es. Auch wenn Mirzl, die der Fotograf scheinbar zu ihrem Missfallen auf ein rundes Tischchen setzte, sich noch so gesträubt haben mochte: ein Mascherl musste in den Schopf gebunden werden, und zwar deutlich sichtbar. Auch wenn das Dickerchen lieber jetzt als später von seinem Korbstuhl-Stand erlöst werden wollte: ohne das (schon müde gewordene) Mascherl wäre das wohlgenährte Kind vermutlich seiner Mama nicht fotogen genug gewesen. Allein dieses Foto kann aufgrund der PrägeStempel in den unteren Ecken datiert werden: 1925, Foto K. Dietrich, Laufen/Oberbayern

 

Hans Gärtner

 

37/2021