Es ist ein großes Stück Freiheit, das nun auch formal zurückgewonnen wurde, denn allein die Zahl 17 zeigt, wie oft die extra für die Coronapandemie am 27. März 2020 erlassene Bayerische Infektionsschutzverordnung geändert und angepasst wurde. Speziell im Berchtesgadener Land haben die Eingriffe aus München für stattliche Verwerfungen gesorgt: Deutschlands längster Lockdown war bundesweit Thema und trieb viele Menschen auf die Barrikaden gegen die Maßnahmen, die vom Landratsamt umgesetzt werden mussten.
Wer sich nicht an die Einschränkungen hielt – bewusst oder fahrlässig – musste mit Sanktionen rechnen, im Landratsamt wurden viele Bußgeldbescheide geschrieben; zwischenzeitlich musste dafür sogar der Personalstand aufgestockt werden. Der »Berchtesgadener Anzeiger« hat sich mit Landrat Bernhard Kern getroffen, um Bilanz zu ziehen für eine schwierige Zeit.
Erinnerungenin Superlativen
Und dass die sogar sehr schwierig war, zeigt sich sehr schnell, denn für die Rückschau braucht es viele Superlative: heftigst, extrem belastend, super-krass, unglaublich schwierig. So beschreibt der Landkreis-Chef die Situation für Bewohner, aber auch Verwaltungsmitarbeiter, schließlich auch sich selbst.
Schon der Anfang seiner Amtszeit im Mai 2020 war buchstäblich der Sprung ins kalte Wasser, denn die Pandemie wütete schon im Land. Dazu kam im Amt eine große Belastung, denn der damalige Leiter des Gesundheitsamts verstarb nach schwerer Krankheit; interimsweise übernahm Dr. Wolfgang Krämer, Leiter des Gesundheitsamts im Landratsamt Traunstein, diesen Posten mit.
15 Beschäftigte hatte der Fachbereich im Berchtesgadener Land seinerzeit, und die zentrale Frage lautete für den Landrat: »Wie können wir das alles bewältigen?« Vor allem brauchte es Personal für die auf einmal zu stemmenden Aufgaben und die aufwendige Kontaktverfolgung; bis zu 120 Köpfe zählte das Gesundheitsamt zwischenzeitlich. Unterstützung kam von überall her: Bundeswehr, Nationalpark-Ranger, Wasserwirtschaftsamt, Mitarbeiter der Reichenhaller Spielbank und auch aus den Rathäusern der Gemeinden.
»Wie geht Pandemie?«
Nach einem Besuch der damaligen Regierungspräsidentin Maria Els inklusive vielen Gesprächen in Büros mit Beschäftigten konnte schließlich auch die vakante Geschäftsbereichsleiter-Stelle schnell ausgeschrieben werden. Denn die Herausforderungen im Amt waren enorm, erinnert sich Bernhard Kern: »Wir waren echt belastet im Landkreis. Es gab eine Flut von E-Mails und Telefonaten, das war heftig. Und, keiner hat gewusst: Wie geht Pandemie? Deswegen ist auf Vorsicht gearbeitet worden, aber es ist ständig gearbeitet worden.« Rund 54 500 Corona-Infizierte wurden registriert und jeder einzelne angerufen.
Ständig Änderungen an den geltenden Regeln
Dazu kam die dauernde Unsicherheit über die gerade geltende Rechtslage. Denn das hat nicht nur die Bürger, sondern auch die getroffen, die für die Ausführung sorgen mussten. Matthias Stephan ist der zuständige Geschäftsbereichsleiter, dem das Gesundheitsamt untersteht. Der erklärt, dass es mit den 17 Änderungen der Bayerischen Infektionsschutzverordnung längst nicht getan war, insgesamt kam das Regelwerk sogar auf 90 Änderungen, dazu noch viele weitere Rechtsvorschriften, wie zum Beispiel die Einreise-Quarantäne-Verordnung. Die Mitarbeiter des Landratsamts mussten ja umsetzen, was andernorts beschlossen wurde – sei es in München oder Berlin.
Die Kurzfristigkeit hielt das Arbeitstempo hoch, wie der Landrat erklärt: »Am Freitag haben wir oft noch gar nicht gewusst, was ab Montag gilt. Wir haben zum Teil im Radio gehört oder im Fernsehen bei Pressekonferenzen gesehen, was sich ändert, wenn der Ministerpräsident oder der Gesundheitsminister das bekannt gegeben haben.« Und das musste dann über das Wochenende in eine möglichst rechtssichere Verordnung gefasst werden, ergänzt Matthias Stephan. Zwischenzeitlich kamen dann aber auch schon die ersten Anfragen von Bürgern, was denn die gerade im TV angekündigten Änderungen konkret ab Montag heißen würden – etwa im Bezug auf die Schließung von Schulen oder Kinderbetreuungseinrichtungen.
»Krass, super-krass«
Kommunikation war in dieser Zeit extrem wichtig, aber auch extrem schwierig, ob der ständigen Änderungen, und forderte den Landratsamt-Mitarbeitern vieles ab, sei es per Mail oder am Bürger-Telefon, erzählt Kern: »Das war krass, super-krass. So viele Fragen, zu Schule, Kindergarten, Testpflicht, Grenzübertritt.« Über 6 000 Bürger-Anfragen mussten in zwei Jahren beantwortet werden, die eine verstärkte Bearbeitung über eine bloße Information hinaus erforderten, also qualifizierte Rechtsauskünfte.
Besonders kompliziert wurde es laut Stephan, als die jeweiligen Maßnahmen Inzidenz-abhängig waren und auf die entsprechenden Werte gewartet werden musste. Die Resonanz der Bürger war dann oft »entsprechend«, so der Geschäftsbereichsleiter. Oft bekamen die Beschäftigten die Frage zu hören: »Geht's eigentlich noch?«
Dazu kam das Auf und Ab, mit einer Lockerung der Regelungen bei sinkenden Inzidenzen, um dann im Herbst in den nächsten Lockdown zu laufen. Daneben war unglaublich viel zu organisieren und zu regeln: Der Aufbau des Impfzentrums, des Test-Zentrums mit Ausstattung, Logistik, Personal, Einrichtung, Schutzkleidung, den unterschiedlichen Testarten und vielem mehr. »Das war der Wahnsinn«, entfährt es Kern, der sich erinnert, dass die erste Impfstoffcharge unter Polizeischutz nach Ainring geliefert wurde. »Sehr dankbar« ist er, dass so viele Menschen in dieser schwierigen Zeit so gut zusammengearbeitet haben. »Eine Mammutaufgabe«, bestätigt Matthias Stephan.
»Dickes Fell« nötig
Das wurde in der Bevölkerung in der Form natürlich kaum wahrgenommen. Die Rückmeldungen zu den ständigen und erheblichen Beschränkungen fielen allerdings mitunter recht deutlich aus: »Da haben unsere Leute einiges aushalten müssen und ein dickes Fell gebraucht. Es war schwierig, Akzeptanz zu finden und schwierig zu kommunizieren, dass der Landkreis nur Vollzieher war, aber nicht verantwortlich für die Beschränkungen.«
Diese Zwickmühle erklärt Matthias Stephan an einem Beispiel. So pochten etwa die »Montags-Spaziergänger« auf ihr Demonstrationsrecht: »Von vielen anderen haben wir Rückmeldung bekommen, wie das sein kann, dass sich da 50 oder 70 Leute treffen und man selber nicht aus der Wohnung darf. Wir waren in einer Zwangslage.«
3 700 Bußgeldbescheide wurden verschickt
Manche verweigerten das Verständnis für die Pandemie-Einschränkungen und so gab es auch Verstöße verwaltungsrechtlich abzuarbeiten. Knapp 2 000 Bußgeldbescheide in Bezug auf die Infektionsschutzverordnung wurden vom Landratsamt verschickt, weitere 1 700 wegen Verstößen gegen die Einreise-Regeln. Dazu wurden zahlreiche Fälle überprüft, die zu keiner Ahndung führten. Das allermeiste ist bis heute abgearbeitet, nur einige wenige Verfahren sind noch vor Gericht anhängig.
Durch die Vielzahl an verschiedenen Aufgaben, die zu bewältigen waren, wurden auch im Amt aus allen Abteilungen Mitarbeiter abgezogen, erklärt Kern: »Die Belastungen sind im ganzen Haus angekommen. Aber das ganze Amt hat zusammengeholfen.«
Corona ist ad acta gelegt
Dass die Bayerische Infektionsschutzverordnung am 1. März außer Kraft getreten ist, hat Bernhard Kern bewusst gar nicht mitbekommen. Denn es gilt ja nun schon andere Krisen zu bewältigen, Ukraine-Konflikt, Flüchtlingsproblematik: »Das hat sich darüber gestülpt, weil wir anhaltend in einer schwierigen Phase sind.« Der Kreis-Chef legt den Fokus nun nicht mehr auf Corona: »Ich bin froh, dass diese Einschränkungen jetzt weg sind und wir uns auf andere Dinge konzentrierten können. Wir haben viele, viele Aufgaben. Corona ist ad acta gelegt.«
Thomas Jander