Die Bibel haben Andrea und Peter Gierlinger eigentlich immer zur Hand – in digitaler Form auf dem Bildschirm des Computers oder auf dem Handy. Online ist die »Neue-Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift« der Zeugen Jehovas, die sie als »genaue und lesefreundliche Übersetzung« bezeichnen, als Voll- oder Teilausgabe in mehr als 210 Sprachen verfügbar. Andrea und Peter Gierlinger studieren die Bibel immer wieder, obwohl sie – so scheint es – jede einzelne Passage genau kennen.
Die Zeugen Jehovas sind Christen. Sie halten sich so eng wie möglich an die christlichen Lehren, die Jesus weitergegeben hat und nach denen seine Apostel gelebt haben. Die Bibel betrachten die Zeugen als eine Botschaft an die Menschheit. Ihre Glaubensansichten stützen sich auf die Heilige Schrift. Die eigenen Geburtstage feiern sie ebenso wie Christi Geburt und kirchliche wie weltliche Feiertage nicht.
Nur den Abend vor dem Tod Jesu − den Abend in der ersten Vollmondnacht nach Frühlingsbeginn, den 14. Nissan nach dem jüdischen Kalender − zelebrieren die Zeugen. Die Gemeinschaft trifft sich zum Gedächtnismahl. »Wir versammeln uns. Es gibt ungesäuertes Brot und Wein«, erklärt Peter Gierlinger. »Wir reichen die Symbole, die an das letzte Abendmahl erinnern, durch«, ergänzt seine Frau. »Wir halten inne«, sagt Peter Gierlinger. »Wir denken daran, dass Jesus sein Leben hingegeben hat, um uns Menschen zu retten.«
»Das Gedächtnismahl ist ohne Pomp und Prunk. Es gibt keine Geschenke«, hebt seine Frau hervor. Als Fest könne das gemeinsame Abendmahl nicht bezeichnet werden. »Es ist ein Gedenktag.«, stellt die 58-jährige Schönauerin klar.
Feiern, schenken, genießen die Zeugen Jehovas gar nicht? »Doch, freilich«, sagt Peter Gierlinger. »Zum Hochzeitstag gehen wir meist fein zum Essen.« Zum 40-Jährigen sei das Paar in den Urlaub gefahren, habe sogar italienische Kirchen besichtigt. »Und wenn uns danach ist, laden wir auch Freude oder die Familie ein«, erklärt Peter Gierlinger. Die freien Tage am 25. und 26. Dezember, die heuer zufällig auf einen Samstag und einen Sonntag fallen, nutzt das Paar gerne, um Bekannte zu treffen. »Wir kochen dann auch einmal fein«, sagt der 59-Jährige. »Es gibt halt kein spezielles Weihnachtsmenü«, ergänzt seine Frau. Der Abend des 24. Dezember ist für die Gierlingers ein ganz normaler Feierabend. »Weil er in diesem Jahr auf einen Freitag fällt, freuen wir uns aufs bevorstehende Wochenende«, sagt Peter Gierlinger. »Vielleicht schauen wir fern.« Seine Frau schmunzelt. »Aber keinen Weihnachtsfilm«, betont sie.
Die 58-jährige hübsch zurechtgemachte Frau hält ein schmuckes Mobiltelefon in der Hand. »Das Handy habe ich von Peter bekommen«, sie strahlt. »Das habe ich mir gewünscht.« Peter Gierlinger wollte seiner Frau eine Freude machen und hat auf Ebay das gebrauchte Handy erstanden.
Die Zeugen beschenken sich gegenseitig, schenken gerne. Peter Gierlinger erklärt: »Gott möchte, dass wir etwas geben.« Nicht aber, weil es fast schon ein Muss sei, sondern weil Geben glücklich mache. »Gott liebt den, der fröhlich gibt«, zitiert Andrea Gierlinger Vers 7 aus Kapitel 9 des zweiten Korintherbriefes.
Geben, Schenken − die Zeugen tun das nicht an einem bestimmten Tag, sondern einfach wenn ihnen danach ist oder wenn jemand in der Familie oder der Gemeinschaft etwas braucht. »Kinder bekommen neue Skier, weil Winter ist und die Alten zu kurz sind«, zeigt Peter Gierlinger ein Beispiel auf.
Der 59-Jährige führt ein Handelsunternehmen.Wenn er von Geschäftspartnern zu Weihnachten ein Geschenk bekommt, nimmt er es dankend an und freut sich über die kleine Aufmerksamkeit. Auch er bedankt sich bei seinen Partnern mit einem kleinen Präsent für die gute Zusammenarbeit. »Meist verteile ich im Januar Kundengeschenke«, sagt er.
Zwar pflegen die Zeugen Jehovas vorwiegend den Kontakt mit den Glaubensbrüdern und -schwestern. Sie feiern ohnehin kein Weihnachtsfest. Geschäftspartnern, Nachbarn oder Bekannten, die die Geburt Christus feiern, wollen sie die Freude daran nicht nehmen. Peter Gierlinger betont: »Wir hindern niemanden daran, Weihnachten zu feiern. Wir tun es eben nicht.« Er schmunzelt. »Und sind froh, dass wir keinen Weihnachtsstress haben.«
Lisa Schuhegger