»Beim ersten Durchlesen der Anklage war ich fassungslos und dachte, wie dumm müssen diese Frauen gewesen sein, um auf ein solches Konstrukt mit Fakeprofilen hereinzufallen«, erinnerte sich Vorsitzende Richterin Heike Will in der Urteilsbegründung. Sie habe ihre Haltung während der Beweisaufnahme korrigiert: »Es waren ganz normale junge Frauen, alle intelligent, aber naiv und leichtsinnig.« Es sei nicht Aufgabe der Jugendkammer, das Verhalten von Geschädigten zu bewerten. Der unvorsichtige Umgang mit den verschiedenen Internet-Plattformen stimme jedoch bedenklich. Vielleicht sei es aber auch nur eine Altersfrage, wenn junge Frauen nach kurzer Zeit Nacktaufnahmen von sich schickten.
Beim Sachverhalt, so die Vorsitzende Richterin, sei die Jugendkammer nahezu vollständig der Staatsanwaltschaft gefolgt. Der 23-Jährige habe ein Konstrukt mit verschiedenen Namen geschaffen, Frauen unter Druck gesetzt, Geld abgeschöpft. Geschlechtsverkehr gegen deren Willen habe er jedoch abgestritten. Die Kammer habe die Geschädigten umfangreich vernommen. Alle drei hätten nachvollziehbar und widerspruchsfrei ausgesagt, dabei auch ihre eigene Unbedarftheit eingeräumt. Das Gericht sehe keinerlei Gründe, »warum die Frauen lügen sollten«. Für die Richtigkeit ihrer Aussagen spreche außerdem, dass der 23-Jährige bei seiner jetzigen Freundin die gleiche Masche mit Accounts auf verschiedene Namen angewandt habe.
Im Laufe des Prozesses seien auch die zunächst unverständlichen Motive deutlicher geworden, fuhr Frau Will fort. Wörtlich richtete sie an den Angeklagten: »Wenn Sie einen Kontakt mit einer Frau interessant fanden, haben Sie eine Art Goodboy-Badboy-Szenario geschaffen. Als Goodboy haben Sie Hilfe angeboten, um als Held dazustehen, um Aufmerksamkeit und Dankbarkeit zu erhalten. Bei Ihrer früheren Lebensgefährtin sind Sie als Badboy nicht davor zurückgeschreckt, die eigene Entführung vorzugaukeln.«
Bei den ersten beiden Tatkomplexen sei es bei Nacktbildern geblieben, konstatierte die Vorsitzende Richterin. Im dritten Fall sei der Angeklagte massiv straffällig geworden. Die Geldzahlungen habe er erpresst durch Drohungen, die Schwester zu vergewaltigen und der Katze der Frau etwas anzutun. Unter dem Vorwand, die Geschädigte bekomme ihr Geld – das er gar nicht gehabt habe – zurück, habe der 23-Jährige sie nachts in ein entlegenes Waldstück gelockt und auf mehrfache Weise vergewaltigt. Schon in früheren Zeiten habe der 23-Jährige »gewisse Vergewaltigungsfantasien« entwickelt.
Längere Zeit beraten hat die Kammer laut der Richterin über die Frage, ob Erwachsenen- oder Jugendstrafrecht anzuwenden sei. Der Grund: Bei einigen Taten war der Angeklagte noch Heranwachsender. Die verwirklichten Delikte seien nicht als Jugendverfehlungen einzustufen, Reifeverzögerungen seien nicht zu bejahen. Zu einer Strafrahmenverschiebung wegen eingeschränkter Steuerungsfähigkeit sei das Gericht nicht gelangt. Die Taten mit vielaktigen Vorgehensweisen seien »sehr gut durchgeplant« gewesen. Der Mann habe den Überblick behalten über die von ihm verkörperten, verschiedenen Personen. Ein günstigerer Strafrahmen wegen eines Täter-Opfer-Ausgleichs komme ebenfalls nicht in Betracht, unterstrich die Vorsitzende Richterin. Der 23-Jährige habe zwar Geld in Aussicht gestellt. Geflossen sei aber nichts.
Bei den strafmindernden Aspekten rechnete Heike Will eine mögliche Enthemmung durch Alkohol und Drogen an. Die Geschädigten hätten es dem Angeklagten leicht gemacht: »Sie haben alle Warnzeichen ausgeblendet. Das Geschehen im Wald war mehr als leichtfertig.« Strafschärfend wirkten zum Beispiel eine einschlägige offene Bewährung, die teils sehr langen Tatzeiträume und die Folgen für die Opfer. Die vergewaltigte Frau habe eine posttraumatische Belastungsstörung erlitten, die bis heute andauere.
Verurteilt wurde der 23-Jährige wegen Besitzverschaffens und Verbreitens von Jugendpornografie, wegen drei Fällen der Nötigung, wegen Bedrohung, Erpressung, Vergewaltigung und vorsätzlicher Körperverletzung. Staatsanwältin Helena Neumeier hatte wie Nebenklagevertreterin Kerstin Zinke aus Traunreut letzte Woche auf sechs Jahre Haft plädiert, während Verteidiger Jürgen Pirkenseer vier Jahre als ausreichend bezeichnete.
Eingehend beleuchtete die Vorsitzende Richterin das Thema »Haftbefehl«. Sie erläuterte, nach Anklageerhebung habe man auf eine Haftorder verzichtet – »weil der Sachverhalt so unklar war und eine Verurteilung nicht sicher schien«. Jetzt sei gegen den 23-Jährigen zwar eine hohe Haftstrafe verhängt worden. Er sei zum Urteil jedoch erschienen – obwohl er mit einer hohen Vollzugsstrafe rechnen musste. Deshalb habe das Gericht zum jetzigen Zeitpunkt keinen Haftbefehl erlassen.
kd